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Danzig, der Zankapfel der Zwischenkriegszeit

Von Christian Hütterer

Wissen
Die Flagge der Freien Stadt Danzig: Der Stadtstaat existierte von 1920 bis 1939.
© Mnmazur

Vor 100 Jahren wurde die Freie Stadt Danzig durch den Völkerbund ausgerufen. Der Zweite Weltkrieg beendete das Experiment eines Stadtstaates an der Ostsee.


"Die Welt braucht Frieden. Mögen Danzig und Polen dem östlichen Europa darin ein Vorbild sein." Mit diesen optimistischen Worten begann im November 1920 die Geschichte eines kurzlebigen Staates, der den Namen Freie Stadt Danzig trug und ein Versuch war, als Stadtstaat zwischen Polen und Deutschland zu überleben. Die bei der Gründung gehegte Hoffnung erfüllte sich nicht, denn die spannungsgeladene Atmosphäre der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen machte die Stadt zu einem Zankapfel und nicht zu einer Verbindung zwischen ihren Nachbarn.

Danzig konnte auf eine wechselhafte Geschichte zurückblicken, die ein stetes Hin und Her zwischen Deutschland und Polen war: Eine schon lange existierende slawische Siedlung erhielt von einem polnischen König im 13. Jahrhundert das deutsche Stadtrecht, bald darauf fiel sie unter die Herrschaft des Deutschen Ordens. Die Mitgliedschaft in der Hanse machte die Stadt reich, selbstbewusst strebte sie nach mehr Unabhängigkeit vom Ritterorden und stellte sich unter den Schutz des polnischen Königs, was ihr eine Reihe von Rechten und Privilegien eintrug. Doch der langsame Niedergang Polens bedeutete auch den der Stadt Danzig, in der Folge der zweiten polnischen Teilung fiel sie 1793 an das Königreich Preußen.

Napoleon bracht die nächste Zäsur: Er richtete 1807 eine unabhängige Republik Danzig ein, die aus der Stadt selbst und ihrem Hinterland bestand. Preußen und Sachsen wurden unter der Ägide Frankreichs Schutzmächte des jungen und kleinen Staates, den es aber nur sieben Jahre lang geben sollte. Nach dem gescheiterten französischen Feldzug gegen Russland fiel Danzig wieder unter preußische Herrschaft.

Ein Kompromiss

Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte einen neuerlichen Umbruch für die Stadt. Noch während des Krieges hatte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson in seinen berühmten "Vierzehn Punkten" die Grundzüge der späteren Friedensordnung vorgelegt. Darunter war auch die Forderung nach der Wiederrichtung des unabhängigen Staates Polen, dem ein Zugang zum Meer gewährt werden sollte. Nach der deutschen Niederlage und dem Ende des Krieges begannen die Verhandlungen zur Umsetzung dieser Vorschläge.

Aus der Sicht des jungen polnischen Staates sollte Danzig als der bedeutendste Hafen der Region die versprochene Verbindung zur See sein, Unterstützung kam von den USA und Frankreich, die an einem möglichst starken Polen interessiert waren. Großbritannien stellte sich jedoch gegen dieses Vorhaben, es wollte ein Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent schaffen und deswegen Danzig bei Deutschland belassen. Die britische Regierung argumentierte mit der Zusammensetzung der Bevölkerung, denn die Deutschen stellten die überwiegende Mehrheit der etwa 400.000 Einwohner, nur eine kleine Minderheit waren Polen. Die Danziger selbst sahen ihre Zukunft in Deutschland. Während im Frühling 1919 in Paris über das Schicksal der Stadt verhandelt wurde, demonstrierten in Danzig 100.000 Menschen gegen die mögliche Angliederung an Polen.

Ein Danziger Gulden aus dem Jahr 1923.
© arz

Was folgte, war ein Kompromiss, der an die kurze Unabhängigkeit der Stadt in der napoleonischen Zeit anknüpfte, mit dem aber keiner wirklich glücklich war: Danzig sollte weder deutsch noch polnisch sein, sondern unabhängig werden. Diese Entscheidung wurde in den Friedensvertrag von Versailles aufgenommen, in dem sich die alliierten Mächte verpflichteten, einen Stadtstaat mit dem Namen Freie Stadt Danzig zu gründen, der unter der Oberhoheit des Völkerbundes stehen sollte. Um Polen entgegenzukommen, wurde die Stadt Teil des polnischen Zollgebietes und Polen die freie Nutzung der Hafenanlagen zugesagt. Der Völkerbund entsandte einen Hohen Kommissar in die Stadt, der bei Konflikten vermitteln sollte. Bald darauf begannen in Paris Verhandlungen über die Regelungen, wie und unter welchen Bedingungen Polen den Danziger Hafen benutzen dürfe. Zur gleichen Zeit fanden in Danzig Wahlen zu einer Versammlung statt, die eine Verfassung für den neuen Staat ausarbeiten sollte.

Am 20. November 1920 war es soweit: "Hiermit erkläre ich feierlichst die Stadt Danzig und das sie umgebende Gebiet zur Freien Stadt." Mit diesen Worten proklamierte der Vertreter des Völkerbundes in Danzig, der britische Offizier Edward Lisle Strutt, den neuen Staat an der Ostsee. Er umfasste ein Gebiet von etwa 1.900 Quad- ratkilometern und bestand im Wesentlichen aus der Stadt, den Hafenanlagen und drei benachbarten Ortschaften. Die offizielle Sprache des neuen Staates war Deutsch, die polnische Minderheit erhielt aber Garantien für den Gebrauch ihrer Sprache im Schulwesen und in der Verwaltung. Am Tag der Proklamation trat auch die Verfassung der Freien Stadt in Kraft, ein Parlament mit 120 Abgeordneten wurde eingerichtet und die Regierung nahm ihre Arbeit auf.

Über den gewählten Institutionen der Stadt stand der Hohe Kommissar des Völkerbundes. Er wachte über die Unabhängigkeit und die territoriale Unversehrtheit der Stadt sowie die Einhaltung der Verfassung.

Viele Spannungen

Um seine Identität zwischen den beiden benachbarten großen Mächten zu festigen, gab sich der kleine und junge Staat die notwendigen Symbole: eine eigene Staatsbürgerschaft, eine Währung (der Danziger Gulden), eine Flagge (rotes Tuch mit einer über zwei Kreuzen sitzenden Krone), Briefmarken und schließlich die Hymne "Für Danzig!", in der die Schönheiten der Stadt ("Kennst du die Stadt am Bernsteinstrand / umgrünt von ew’ger Wälder Band / Wo schlanke Giebel streben / empor zum Sonnenschein?") besungen wurden, die aber auch die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur betonte: "Wo deutsch die Glocken werben und deutsch ein jeder Stein."

Trotz aller Anstrengungen war die Entwicklung des Stadtstaates schwierig und stets davon abhängig, wie gut oder schlecht Deutschland und Polen miteinander auskamen. Viele Spannungen zwischen den beiden dominanten Nachbarn hatten direkte Auswirkungen auf Danzig und beschäftigten auch den Völkerbund, der als Schutzmacht der Stadt oft ausgleichend eingreifen musste. Das Verhältnis zur Regierung in Warschau blieb gespannt. Die polnische Armee stationierte auf der unmittelbar vor dem Hafen von Danzig liegenden Westerplatte eine kleine Garnison, was in der Stadt Angst vor einer militärischen Intervention schürte. Zudem entschloss sich Polen, den Hafen von Gdingen (polnisch Gdynia) auszubauen, um sich einen direkten Zugang zur Ostsee zu sichern. Danzig bekam dadurch Konkurrenz in unmittelbarer Nachbarschaft, was für die Wirtschaft des Stadtstaates ein erhebliches Problem darstellte.

Die unsichere Lage in der Stadt rief die NSDAP, die sich die Rückkehr Danzigs nach Deutschland auf die Fahnen geschrieben hatte, auf den Plan. 1930 besuchte Hermann Göring die Stadt, um den dortigen Nationalsozialisten den Rücken zu stärken, und bald darauf entsandte Adolf Hitler den jungen Reichstagsabgeordneten Albert Forster nach Danzig. Unter seiner Führung nahmen die Nationalsozialisten einen rasanten Aufstieg, bei den Wahlen im Mai 1933 in Danzig erhielten sie mit 50,03 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen und konnten die Regierung in der Freien Stadt bilden.

Hermann Rauschning (1887-1982).
© Archiv

Doch während der Großteil der "Parteigenossen" auf eine rasche Wiedervereinigung mit Deutschland hoffte, setzte der neue Regierungschef Hermann Rauschning überraschenderweise auf einen konzilianten Kurs und auf die Verständigung mit Polen. Rauschning konnte aber dem innerparteilichen Druck der radikalen Fraktion nicht lange standhalten und musste zurücktreten. Hardliner übernahmen das Kommando, und die völlige Gleichschaltung konnte nun beginnen. Opposition, Gewerkschaften, Kirchen und Medien gerieten unter Druck und Repressalien gegen Juden begannen. Die Nationalsozialisten wollten ihre Macht weiter festigen und hofften, bei den Wahlen im Jahr 1935 die Zweidrittelmehrheit zu gewinnen, was ihnen die Möglichkeit zu Verfassungsänderungen gegeben hätte. Mit 59 Prozent der Stimmen blieben sie zwar unter diesem Ziel, setzten aber unbeirrt den Umbau der Institutionen fort. Der Brite Sean Lester war zu jener Zeit Vertreter des Völkerbundes in Danzig. Er konnte dort im Kleinen miterleben, wie die Nazis die staatlichen Institutionen zu ihrem Vorteil umbauten, und unterstützte die Opposition, indem er die Einhaltung der Verfassung forderte.

Symbolische Bedeutung

Anders als die britische Regierung unter Premierminister Neville Chamberlain, die auf Appeasement und Verständigung mit Deutschland setzte, warnte Lester stets vor den Nationalsozialisten, seine Rufe blieben aber ungehört. 1937 trat er zurück und der Völkerbund schickte den Schweizer Carl Jacob Burckhardt als seinen letzten Kommissar nach Danzig. Der Diplomat und Historiker gilt heute als eine umstrittene Persönlichkeit: Neben all seinen Verdiensten wird ihm vorgeworfen, dass er sowohl während seiner Mission in Danzig wie auch als späterer Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gegenüber den Nationalsozialisten sehr nachsichtig war.

Die Lage in Danzig verschärfte sich indes zusehends. Der Druck auf die jüdische Bevölkerung stieg, Geschäfte von Juden wurden boykottiert und viele mussten die Stadt verlassen. Katholiken und Sozialisten litten ebenfalls unter Repressalien und wandten sich mit der Bitte um Hilfe an den Völkerbund. Der entschied zwar zu ihren Gunsten, die nationalsozialistische Regierung der Stadt ließ sich davon aber nicht beeindrucken und zog ihr Programm weiter durch. Danzig war nun fest in der Hand der Nationalsozialisten und angesichts der internationalen Entwicklung war das Ende der Freien Stadt absehbar. Sie sollte aber noch einmal große symbolische Bedeutung haben: Am 1. September 1939, kurz vor Sonnenaufgang, feuerte das im Hafen von Danzig liegende deutsche Linienschiff "Schleswig-Holstein" eine Salve auf die polnische Garnison auf der Westerplatte.

Das Linienschiff "Schleswig-Holstein".
© Bundesarchiv, DVM 10 Bild-23-63-47 / CC-BY-SA 3.0

Die Schüsse waren nicht nur der Auftakt für den deutschen Angriff auf Polen und damit der Beginn des Zweiten Weltkrieges, sie bedeuteten auch das Ende des kurzlebigen Stadtstaates. Die Episode der Freien Stadt gehörte der Geschichte an, Danzig wurde in das Deutsche Reich eingegliedert und sollte am Ende des Krieges nur noch ein Trümmerfeld sein.

Christian Hütterer, geboren 1974, Studium Politikwissenschaft und
Geschichte in Wien und Birmingham, schreibt Kulturporträts und
Reportagen.