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Die komplizierte Reichsgründung

Von Michael Gehler

Reflexionen
"Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches (18. Januar 1871)" von Anton von Werner (dritte Fassung).
© Bismarck-Museum Friedrichsruh

Die Kaiserproklamation vom 18. Jänner 1871 wird gerne als deutscher Reichsgründungsakt stilisiert, war aber verfassungsrechtlich belanglos. Zur Vorgeschichte.


Am 18. Jänner 1871 wurde in Versailles der preußische König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser proklamiert. Das Ereignis fand Eingang in Historienbilder des anwesenden Malers Anton von Werner, der zu einem der meistbeschäftigten deutschen Künstler avancierte. Von vier Gemälden (1877, 1882, 1885 und 1913) hat sich nur die dritte Fassung erhalten, die Otto von Bismarck zu seinem 70. Geburtstag geschenkt wurde und in Friedrichsruh erhalten geblieben ist. Im Mittelpunkt des Geschehens stehend, trägt er eine weiße Paradeuniform und den Orden Pour le Mérite, der ihm erst 1884 verliehen wurde. In europäischen Schulbüchern ist es das meistgezeigte Bild zur deutschen Geschichte.

Es war kein Zufall, denn genau an diesem Tag im Jahr 1701 hatte die Krönung Friedrichs III. von Brandenburg zum ersten König in Preußen (als Friedrich I.) stattgefunden. Es sollte an den Aufstieg des Hohenzoller Kurfürsten vor 170 Jahren erinnern. Paris war im Jänner 1871 von deutschen Truppen belagert und Versailles Sitz ihres Hauptquartiers. Für die Zeremonie diente der prunkvolle Spiegelsaal des Schlosses, auf dessen Decke ein Gemälde von Ludwig XIV. als "roi soleil" prangte. Als Eroberer und Zerstörer von Ländern und Städten östlich des Rheins war er im historischen Bewusstsein der Deutschen präsent. Auf einem Feldaltar im Saal hielten Militärgeistliche eine Messe, die mit "Nun danket alle Gott" schloss.

Am Ende der Galerie stand Wilhelm I. auf einer Estrade. Bismarck verlas die Proklamation, worauf der Großherzog von Baden einen Hochruf auf "Seine Majestät, Kaiser Wilhelm" ausstieß, der von den anwesenden Diplomaten, Fürsten, Ministern, Prinzen und Generälen dreifach erwidert wurde. Parlamentarier waren nur am Rande vertreten.

Es war eine Mischung aus Bescheidenheit, Kleinmut, Militarismus und Großmannssucht. Die Bezeichnung "Kaiser Wilhelm" vermied den verfassungsspezifischen Titel "deutscher Kaiser", mit dem sich der preußische König nicht identifizierte. Der neu ausgerufene Monarch wollte sich vielmehr als Kriegsherr und Triumphator über Frankreich sehen und nicht über den deutschen Fürsten stehen.

Während nationale Kräfte in Deutschland auf Elsass-Lothringen reflektierten, wollten französische Nationalisten einen deutschen Nationalstaat unter preußischer Führung verhindern. Zentraler Konflikt war Frankreichs Bestreben, den Status quo mit der Vormacht Österreichs im Deutschen Bund zu wahren. Preußens Ministerpräsident und Außenminister Bismarck wollte hingegen die Umgestaltung dieser Machtverhältnisse. Nach der siegreichen Schlacht bei Königgrätz 1866 konnte er gegen den Willen Wiens und ohne Österreich die Gründung des Norddeutschen Bundes als Militärbündnis durchsetzen, der 1867 auch eine eigene Verfassung besaß.

Militärs zwangen Spaniens Königin Isabella II. 1868 zum Rückzug. Die von Bismarck unterstützte Thronkandidatur des Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen traf das französische Prestige. Dieser verzichtete auf seine Kandidatur, nachdem Frankreich mit Krieg gedroht hatte. Napoleon III. entsandte Botschafter Benedetti in den Kurort Bad Ems zum König von Preußen und forderte noch eine offizielle Entschuldigung. Kaum genug damit: So war nicht nur von der Kandidatur abzulassen, sondern auf ewig darauf zu verzichten. Wilhelm lehnte ab und Bismarck publizierte die Gespräche. Die Öffentlichkeit beiderseits des Rheins war erregt.

Otto von Bismarck (1815-1898).
© Bundesarchiv, Bild 183-R29818 / CC-BY-SA 3.0

Bismarck wusste, dass eine Reichsgründung ohne Krieg mit Frankreich nicht zu realisieren war. Er hatte zwar einen solchen nicht von langer Hand geplant, nutzte aber die Emser Depesche, um Forderung und Ablehnung kontrastreich herauszustellen. Die Assemblée nationale bewilligte daraufhin Kriegskredite und Napoleon III. erklärte am 19. Juli 1870 den Krieg. Aufgrund von Schutz- und Trutzbündnissen standen die süddeutschen Staaten hinter Preußen.

Am 2. September wurde in der Schlacht von Sedan die französische Armee geschlagen und Napoleon III. gefangen genommen. Guerillakrieg und Massenmobilisierung sollten die drohende Niederlage abwenden. Paris wurde jedoch belagert und beschossen. Entsetzungsversuche scheiterten im Winter 1870/71. Während das Großherzogtum Baden die deutsche Einigung befürwortete, waren das Königreich Württemberg und das Großherzogtum Hessen großdeutsch-österreichisch gesonnen. Bayern war gegen eine Reichsgründung, sodass Wilhelm König Ludwig II. staatliche Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit schriftlich zusichern musste. Ort und Zeitpunkt der Kaiserproklamation waren befremdlich und ungewöhnlich. Was war der Grund für die rasche Ausrufung des Kaiserreichs noch während der Kampfhandlungen?

Bismarck nutzte die Gunst der Stunde, um keinen größeren Widerstand mehr aufkommen zu lassen. Süddeutscher Partikularismus und ein internationales Gegenbündnis waren nicht gänzlich auszuschließen. Der gemeinsame Kampf gegen Frankreich schweißte jedoch die deutschen Einzelstaaten mit Preußen zusammen. Der militärische Sieg bildete den Stoff für die deutsche Einigung.

Keine Europäisierung

Der 18. Jänner wurde zu einem Tag stilisiert, der laut dem Historiker Theodor Schieder irrig "im Bewußtsein der Deutschen der eigentliche Reichsgründungsakt geblieben" sei. Es gab nämlich neben der symbolischen eine konstitutionelle und parlamentarische Dimension. Die verfassungsrechtlich belanglose Kaiserproklamation war nicht mehr als ein "Akt der förmlichen Amtseinweisung und Amtsergreifung" (Ernst Rudolf Huber). Das neue Reich sollte von allem etwas haben: Bundes-, Kaiser-, Militärstaat und nicht zuletzt Nationalstaat mit preußischer Vormacht.

Die neue, am 16. April überarbeitete Verfassung trat am 4. Mai mit Billigung des Reichstags rückwirkend zum 1. Jänner in Kraft. Von "einer Epoche von eigenem historischen Gewicht" geht Andreas Kaernbach aus. Ein Deutscher Nationalverein bestand bereits 1859 in Frankfurt/Main. Zuvor war schon die Revolution 1848/49 mit neuen politischen Parteien eine "Initialzündung für die Nationalstaatsgründung" (Christian Jansen) gewesen und die Paulskirche mit ihrem Verfassungsvorschlag 1849 als Einigungsvorstoß auf den Plan getreten.

Frankreich hatte noch England, Italien, Österreich-Ungarn und Russland um Unterstützung gebeten, die sich im Spätsommer 1870 jedoch als "Liga der Neutralen" deklarierten und zudem uneins waren. Wien setzte auf Verständigung mit Preußen, um die Attraktivität des neuen Reiches bei den deutschsprachigen Österreichern abzuschwächen. Russland agierte nach dem verlorenen Krimkrieg zurückhaltend, zumal Preußen neutral geblieben war. Der Zar kündigte die "Pontus-Klausel" des Pariser Friedens von 1856, welche das Schwarze Meer neutralisiert hatte. London war irritiert. Frankreich musste für den Krieg seine Schutztruppen für den Papst abziehen. Italien profitierte von der französischen Niederlage für seine nationale Einigung unter Einbeziehung Roms. Ein gemeinsames Agieren gegen Preußen schied daher aus und jeglicher Europäisierung der deutschen Frage war damit die Basis entzogen.

Kaiser WIlhelm I., nach 1870.
© Wschmock (Nr. 1102), CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)

Die Stimmung in Deutschland war leidenschaftlich, während Wilhelm zurückhaltend war. Die Kaiserkrone empfand er als "Schmutzkrone". War Versailles nicht schon demütigend genug, so folgte mit dem Frankfurter Vertrag vom 10. Mai 1871 ein äußerst harter Friede. Frankreich musste Elsass-Lothringen abtreten und als Kriegsentschädigung fünf Milliarden Francs aufbringen, die im Reich den Gründerboom befeuerten. Bis zur letzten Rate galten die französischen Ostprovinzen als Pfand. Der Frieden war nicht von Ausgleich und Weitsicht geprägt, sondern von Angst vor Revanche. Er bedeutete die Umkehr der Machtverhältnisse und ein Diktat wie 1919 Versailles für das Deutsche Reich.

Die Reichsgründung wurde in Europas Metropolen mit Angst, Besorgnis, Misstrauen und Skepsis verfolgt. Der britische Premier Benjamin Disraeli sprach von der "Deutschen Revolution" als einem größeren politischen Ereignis als 1789. Er betrachtete das europäische Mächtegleichgewicht als "völlig zerstört". England leide am meisten darunter. Es gebe "keine einzige diplomatische Tradition, die nicht hinweggefegt" worden sei. Um die negativ-skeptische Stimmung zu überwinden und den französischen Revanchismus zu verhindern, entwickelte Bismarck eine Bündnispolitik, die Frankreich davon ausnahm.

Bittere Wahrheit

Seit Anfang der 1880er Jahre vollzog er eine Kursänderung mit einer zwischenstaatlichen "Kolonialehe" und überseeischen Konzessionen an Frankreich als Entschädigung für den Verlust Elsass-Lothringens und zur Einbindung in das Bündnissystem. Kultur, Ökonomie und Zivilgesellschaften kamen aber als Mediatoren nicht zum Tragen. Die Nationalismen reduzierten die Spielräume für eine Normalisierung. Die von Bismarck mit zu verantwortende Annexion Elsass-Lothringens machte eine Versöhnung unmöglich. Der "Eiserne Kanzler" prophezeite in seinen Memoiren, dass Deutschland mit Frankreich nie Frieden haben werde. Dieses Urteil wird seiner eigenen Politik aber nicht gerecht. Während sein Vater Ferdinand dem Land in tiefer Abneigung gegenüberstand, schätzte der Sohn dessen Kultur.

Sein Verhältnis zu Frankreich sieht der Historiker Ulrich Lappenküper in acht Phasen: Junker mit Ressentiment und Neugier (1815- 1847), Abgeordneter und Diplomat mit Werben um die Entente (1848-1862), preußischer Ministerpräsident zwischen Bündnis und Krieg (1862-1866), Bundeskanzler auf Konfrontationskurs (1867-1871), Reichskanzler mit Sicherheitspolitik gegen französische "Raublust" (1871-1877), ehrlicher Makler mit Streben nach einer französisch-deutschen Allianz (1877-1885), Dirigent des europäischen Mächtekonzerts und Schiedsrichter des Weltfriedens im Bann der "Erbfeindschaft" (1886-1890) sowie der "Alte im Sachsenwald" und "Frondeur im Ruhestand" (1890- 1898).

Mehrere Optionen waren demnach möglich, doch die späte Vorhersage wurde 1914 bittere Wahrheit. Am 18. Jänner 1919 begannen die Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich in Versailles.

Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Historiker und seit 2006 Professor und Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim.