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Mythen im Figurenprogramm des Heroons von Trysa

Von Jürgen Borchhardt

Wissen
Das Gericht über die untreuen Mägde durch Penelope und der Freiermord durch Odysseus und Telemachos.
© KHM Museumsverband

Im antiken Lykien hat ein Fürst sein Grabmal mit Mythenbildern schmücken lassen, die seine eigenen Ambitionen und politischen Botschaften zwischen der griechischen und der persischen Kultur erkennen lassen.


Im Palast der Residenzstadt Myra versammelte der Fürst Mithrapata um 400 v. u. Z. seinen künstlerischen Beraterstab, um den Bau einer dynastischen Grabanlage in der Sommerresidenz Trysa auf 800 Metern Seehöhe zu diskutieren. Zu berücksichtigen war die politische Situation am Ende des Peloponnesischen Krieges. Eine Koalition lykischer Fürsten stand auf der Seite der Sieger mit Sparta und den Persern über das Attische Reich. Neben Entwürfen zur architektonischen Gestaltung ordnete der Fürst an, welche inhaltlichen Schwerpunkte von der Bauskulptur behandelt werden sollten.

Die Reliefs des doppelgeschossigen Grabmals im Geviert der Anlage sollten die private Sphäre dokumentieren mit Bankett im Diesseits und Totenmahl im Jenseits. Der Reliefschmuck der Umfassungsmauer aber sollte die eigene Leistung mit den Taten der Vorfahren vergleichen und gleichzeitig die Loyalität zum persischen Großkönig betonen. Dabei geht es nicht um ein persönliches Porträt des Grabherrn, sondern um Allegorien seiner Tugenden im Verhältnis zu diesem militärischen Vorgesetzten. Nach Homer waren die Lykier nämlich die besten Bundesgenossen der Trojaner gegen die Griechen. Als Vorbilder für die Nachkommen sollten Erzählungen gewählt werden, die dem damaligen aristokratischen Tugendkatalog entsprachen wie Ehre, Ruhm, Tapferkeit, Bündnistreue, Freundschaft, Gatten- und Bruderliebe. Außerdem sollten die Ambitionen der lykischen Fürsten auf Errichtung eines eigenen autonomen Staates innerhalb des persischen Reiches ablesbar sein.
Aus den von Homer überlieferten Geschichten zum lykischen Königtum konnten die Berater schöpfen, um dem fürstlichen Anforderungsprofil gerecht zu werden. Das dynastische Prinzip der männlichen Erbfolge wird außen über dem Tor durch das ältere und jüngere Fürstenpaar intoniert, das unter den der persischen Architektur entlehnten geflügelten Stierprotomen auftritt. Innen wird als vorbildhafte Interaktion die gemeinsame Vernichtung der Freier durch Odysseus und Telemachos gewählt. Penelope wird als leuchtendes Beispiel der Tugend gefeiert. Im verkürzten Stammbaum des Mithrapata übernimmt Bellerophon, der korinthische Heros als Töter der Chimaira und Kulturbringer aus dem Westen, als Ahnherr den Part der väterlichen Abstammung. Mit dem Raub der Ahnfrau ist die mütterliche Linie angesprochen, den Generationenwechsel stellt der Sohn als bartloser Kommandeur eines Streitwagenkontingentes der persischen Armee dar.

Königliche Loyalität

Auf der künstlerisch wertvollsten Westwand durch besonders ausgeklügelte Perspektive ließ sich die Loyalität zum persischen Großkönig als Analogie zum Verhalten der Vorfahren eindrucksvoll illustrieren. Sarpedon und Glaukos, die lykischen Könige vor Troja, beweisen Bündnistreue zu Priamos, Herrscher des Ostens am Ende des 2. Jahrtausends. Die vor dem Thronenden Kämpfenden zeigen besonders deutlich die monarchische Struktur jener Bildprogramme. In der im Hintergrund thronenden Frau unter dem Sonnenschirm wird man aber nicht Helena identifizieren können, wie in der älteren romantischen Forschung behauptet wird, sondern die rechtmäßige Fürstin Hekuba, Gattin des Königs Priamos. Helena ist jedoch im unteren Fries bildwürdig geworden, wo sie am Ende des schrecklichen Krieges durch Menelaos heimgeführt wird. Das Hauptaugenmerk liegt demnach nicht auf den griechischen Belagerern, sondern auf den Verteidigern.

Vorbildhafte Frömmigkeit und Vertragstreue strahlt Hektor beim Opfer auf der Westwand aus. Untergang und Tod vor Augen, prophezeit er: "Einst wird kommen der Tag, wo das heilige Ilion dahinsinkt." (Homer, Illias VI, 448). Die Mythen des Raubs der Töchter des Leukippos auf der Nordwand und der Sieben vor Theben (Südwand außen) sind sicherlich nicht in genealogischer Absicht ausgewählt worden, sondern gelten als Warnung vor Gefahren dynastischer Hochzeiten und Bruderzwiste. Als Meisterleistung der Berater dürfen wir für die Ostwand die Wahl der Mythen der Reichgründer Perseus und Theseus verstehen. Bildzyklen über jene waren seit der archaisch-griechischen Kunst bekannt. Der mykenische Heros Perseus, Überwinder der Medusa, durch die gerettete Andromeda Ahnherr der persischen Könige, der auf Grund seiner Taten posthum zum Sternzeichen erhoben wurde, konnte als Vorbild ebenso dienen wie Theseus, der Einiger und Befreier Attikas von der minoischen Seeherrschaft. Hier ist auch der Tod des Minotaurus erhalten. Mit diesen Heroen konnte man die ehrgeizigen Pläne der lykischen Dynasten argumentieren. Auch die Kaledonische Keilerjagd, an der alle Heroen Griechenlands teilnahmen, kann als Ansporn für eine Vereinigung der lykischen Fürstentümer verstanden werden.

Stolz auf ihre Architektursprache

Die Übernahme der Mythen aus Griechenland durch die Lykier bedeutet nicht, dass sie sich einseitig der westlichen, demokratisch verfassten attischen Kultur unterwarfen. Sie waren stolz auf ihre eigene Architektursprache und Schrift. Die Notwendigkeit der politischen Balance zur östlichen Vormacht der persischen Monarchie musste gewahrt werden. Das verstand niemand besser als der Fürst von Myra mit seinem iranischen Namen Mithrapata (der von Mithras Geschützte). Er ließ vermutlich nicht nur Bankette zu Ehren der im doppelgeschossigen Grabmal bestatteten Mitglieder seiner Familie abhalten, sondern der Totenkult wurde an einem Altar vor den als Fragmente erhaltenen Porträtstatuen im Nordosten der Grabanlage vollzogen. Das frauenlose Symposion im Fries einer überdachten Banketthalle verrät die Abhaltung von Kulten zu Ehren des Mithras. Wenn der Betrachter der Bauskulptur in Zukunft im Hofburgtrakt des KHM die Originale studieren kann, wird er als Semiotiker auf die Frage "Wer sagt wem was zu welcher Zeit und mit welcher Absicht?" Antworten finden mit Hilfe einer argumentativen Mythenrezeption, auch wenn dies nur eine Deutung ist unter vielen.