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Der Frühling der Pariser Kommune

Von Gerald M. Wolf

Wissen
Entschlossen und kämpferisch geben sich diese Angehörigen der Nationalgarde bei einer auf der Chaussée Ménilmontant errichteten Barrikade.
© CC0, https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de, Paris Musées / Musée Carnavalet - Histoire de Paris

Vor 150 Jahren, in der Schlussphase des verlorenen Krieges gegen Deutschland, übernahm in Paris eine sozialrevolutionäre Bewegung die Macht.


Am 18. März 1871, kurz nach dem Ende der Belagerung durch Truppen des noch jungen deutschen Kaiserreiches, übernimmt ein revolutionäres Gremium die Macht in der französischen Hauptstadt. Der "Pariser Kommune", die quasi nach basisdemokratischen und "sozialistischen" Prinzipien regiert, ist aber nur eine kurze Lebensdauer beschieden.

"Man ist von Abscheu ergriffen, wenn man ihre stupiden, gemeinen Gesichter sieht, über die der Triumph und die Trunkenheit etwas wie strahlende Verworfenheit legen", schreibt Edmond de Goncourt, der Namensgeber des renommierten französischen Literaturpreises Prix Goncourt, am 20. März 1871 in sein Tagebuch. "Für den Augenblick sind Frankreich und Paris im Griff der Arbeiter, die uns eine Regierung gegeben haben, die ausschließlich aus ihren Leuten besteht. (.. .) Das Unglaubliche herrscht."

Zwei Tage vorher ist in Paris ein politischer Umsturz erfolgt. Der Machtwechsel ist aber keinem Masterplan gefolgt; und ohne die vorangegangene Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg wäre er wohl auch nicht passiert.

Paris steht spätestens seit dem Sieg der konservativ-monarchistischen Kräfte bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung am 8. Februar 1871 und dem am 26. Februar abgeschlossenen Präliminarfrieden mit dem Deutschen Reich in Opposition zum Rest des Landes. In der patriotisch-republikanisch gesinnten Hauptstadt, die eine fünfmonatige Belagerung durch preußisch-deutsche Truppen durchgemacht hat, will man die Kriegsniederlage keinesfalls akzeptieren. Die Stimmung unter der Stadtbevölkerung ist ohnehin schon explosiv, als die neue Regierung von Adolphe Thiers die Besoldung der während der Belagerung gebildeten Nationalgarde einstellen lässt und den Versuch unternimmt, auch ihre Geschütze einzuziehen.

Streit um Kanonen

Viele Gardisten sind aufgrund der deutschen Belagerung ohne Arbeit. Außer dem an sie ausbezahlten Taggeld von 1,5 Franc verfügen sie über kein Einkommen. Als eifrige Patrioten haben zudem viele von ihnen für die Anschaffung der Geschütze Spenden aus ihrem Privatvermögen aufgebracht. Die mehrheitlich auf dem Montmartre stationierten Kanonen betrachten sie als Volkseigentum, das keinesfalls der Regierung übergeben werden soll.

Was als schnelle Aktion zur Entwaffnung der Nationalgarde geplant ist, gerät für die Regierung zum Fiasko. Die ausgeschickten Soldaten verbrüdern sich mit den Gardisten und lassen zu, dass man ihre beiden kommandierenden Generäle ermordet. Die Regierung zieht daraufhin mit ihren Truppen nach Versailles ab, dem neuen Regierungssitz. Ihnen folgen bis zu 150.000 wohlhabende und regierungstreue Pariser und Pariserinnen auf dem Fuß. Die Macht in Paris geht zunächst auf das "Zentralkomitee" der Nationalgarde über, dessen Mitglieder aus Delegierten der einzelnen Bataillone gewählt worden sind. Dieses lässt am 26. März Wahlen abhalten. Genau genommen konstituiert sich die Commune de Paris, die "Pariser Kommune", erst nach diesen Wahlen.

In politischer Hinsicht ist die Commune von Anfang an ein hybrides Gebilde. Als revolutionärer Stadtrat ist sie einerseits ein Kommunalorgan, andererseits die Gegenregierung des de facto nun unabhängigen Stadtstaates Paris. Unter ihren Abgeordneten dominieren Republikaner sozialistischer und radikaler Prägung. Eine Fraktion bilden die Anhänger Louis-Auguste Blanquis, der bereits 1830 an der Julirevolution teilgenommen hat. Der Rest sind "Jakobiner", die sich den Idealen der Französischen Revolution verpflichtet fühlen, Angehörige der "Ersten Internationale", Anarchisten und andere.

Die führenden (männlichen) Köpfe der Kommune (aus "L'Illustration, journal universel" vom 15. Juli 1871).
© Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Sie alle erfüllt eine revolutionäre Aufbruchsstimmung und der Wunsch, eine gerechtere Welt zu schaffen - und sie sind fest entschlossen, "ihre" Revolution auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Nach ihren Vorstellungen soll sich Frankreich künftig als föderalistische Republik autonomer Kommunen formieren.

Im Gegensatz zu anderen revolutionären Bewegungen kennt die Kommune keine "starken Männer". Ihre Abgeordneten agieren als Kollektiv und stechen primär durch ihr gewaltiges Arbeitspensum hervor. Ab Ende März 1871 strömt eine wahre Flut von Dekreten aus der Kommune. In ihrer Verschiedenartigkeit versinnbildlichen sie die außerordentliche Verwirrung hinsichtlich der dort vorherrschenden Prioritäten. Arbeiterschutzbestimmungen werden ebenso erlassen wie Maßnahmen, die finanzielle Erleichterungen für die verarmte Stadtbevölkerung bringen. Zu Letzteren zählen die rückwirkende Erlassung fälliger Mieten ebenso wie das Dekret zur Aussetzung des Verkaufs von Gegenständen, die ihre Besitzer und Besitzerinnen während der Belagerung verpfändet haben, um ihr Überleben zu sichern.

Am 2. April 1871 verkündet die Kommune die Trennung von Staat und Kirche. Die Kirche wird völlig aus dem Schul- und Erziehungswesen verbannt. Fortan hat der Unterricht laizistisch zu sein; und er ist kostenlos und für alle Kinder verpflichtend. Am selben Tag wird noch bestimmt, dass kein Jahresgehalt 6.000 Franc, das Jahreseinkommen eines Facharbeiters, übersteigen darf. Die Kommune findet sogar die Zeit, zu verordnen, dass sich die Pariser nur in den öffentlichen Urinalen entleeren sollen. Aktionen wie die öffentliche Verbrennung der Guillotine sollen wiederum allen den Bruch mit dem "alten System" vor Augen führen.

Aktive Frauen

Ein wesentliches Element des politischen Lebens in der Stadt sind die zahlreichen Clubs, die zum Zweck politischer Debatten in Theatern und Kirchen eingerichtet werden. Sie bieten breiten Bevölkerungskreisen Foren für die Meinungsäußerung. Besonders Frauen sind hier stark vertreten. Überhaupt ist ihre Rolle in der Kommune nicht zu unterschätzen: Neben Louise Michel, dem wohl bekanntesten weiblichen Gesicht der Kommune, ist hier noch die Russin Elisabeth Dmitrieff zu nennen. Ihrer Frauenvereinigung zur Verteidigung von Paris treten hunderte Frauen bei. Sie wollen sich am Abwehrkampf der Kommune beteiligen und machen sich überdies für die Lohngleichheit von Mann und Frau stark.

Karl Marx, der die Vorgänge aufmerksam verfolgt, interpretiert das Geschehen in Paris als "Klassenkampf" einer selbstbewussten "Arbeiterklasse" und als erste "Diktatur des Proletariats". Wie bereits Edmond de Goncourt festgestellt hat, entstammen die Aufständischen zum überwiegenden Teil arbeitenden Schichten.

Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass sie sich nicht als eine organisierte Arbeiterklasse verstanden. Vielmehr entsprachen sie jener Arbeiterschaft alten Typs, welche die spezifischen kleingewerblichen Bedingungen Frankreichs im 19. Jahrhundert widerspiegelte. Dementsprechend weist die Revolution der Kommune trotz ihrer modernen Züge mehr Ähnlichkeiten mit den Revolutionen des 19. als mit denen des 20. Jahrhunderts auf.

Barrikade im April 1871, beim Hotel de Ville, Ecke Rue de Rivoli (Bild von Pierre-Ambroise Richebourg).
© A. Richebourg, CC0, https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de, via Wikimedia Commons

Dass die Kommune ungestört agieren kann, verdankt sie auch ihrer anfangs über 300.000 Mann starken Nationalgarde. Die Gardisten sind aber lediglich Teilzeit-Milizionäre, die ihre Offiziere selbst wählen und auch wieder abwählen können. Sie sind bekannt dafür, dass sie nur nach Belieben zum Dienst erscheinen; und nur wenige Gardisten sind bereit, sich außerhalb ihres Wohnbezirks einsetzen zu lassen. Zu einer schlagkräftigen Truppe kann die Nationalgarde keiner ihrer rasch wechselnden Kommandeure formen. Im Vertrauen auf die beeindruckenden Pariser Stadtbefestigungen und die vielen von der Bevölkerung errichteten Barrikaden verharrt sie daher in der Defensive.

Im Vergleich zur Nationalgarde handelt es sich bei der Regierungsarmee um eine professionelle Truppe. Sie zählt aber nur 40.000 Mann. Die meisten und besten Soldaten der französischen Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft. Regierungschef Thiers bleibt nichts übrig, als den Feind um Hilfe gegen die Kommune zu bitten.

Reichskanzler Otto von Bismarck zögert anfangs. Er braucht aber einen Friedensschluss mit Frankreich, und er fürchtet die Vorbildwirkung der Kommune auf die deutschen Sozialisten. Das lässt ihn Thiers unterstützen und für eine beschleunigte Entlassung französischer Kriegsgefangener sorgen. Bis Mitte Mai 1871 kehren sich die militärischen Kräfteverhältnisse vor Paris nun völlig um. Während die französische Armee beständig anwächst, bis auf etwa 170.000 Mann, sinkt der Personalstand der Nationalgarde auf zuletzt kaum mehr als 30.000 universell einsetzbare Männer ab.

Am 21. Mai gelingt es den Regierungstruppen unter Marschall Patrice de Mac-Mahon, durch ein unbewachtes Stadttor in Paris einzudringen. Damit beginnt die semaine sanglante, die "Blutwoche", in der die Regierungstruppen die "Ordnung" wiederherstellen und die Stadt Straßenzug für Straßenzug "säubern".

Blutige Kämpfe

Die Kämpfe vollziehen sich in Sichtweite der deutschen Truppen, die ihre Schadenfreude über das Gemetzel nicht verhehlen können. Der preußische Militär Alexander von Pape schreibt: "Das Strafgericht (...) über Paris (...) ist ein furchtbares (...) Ungeheure Explosionen (...), dazu der rasende Donner der Geschütze, (...) das fast unausgesetzt rollende Gewehrfeuer (...) - es ist eine Herzenslust, die (...) Pariser so gezüchtigt zu sehen. Die Versailler Truppen geben keinen Pardon, und da auch Weiber [sic!] sich am Kampfe beteiligen, (...) werden auch diese (...) ohne Barmherzigkeit niedergeschossen."

Paris unter Beschuss (23./24 Mai 1871): Lithographie von Auguste Victor Deroy.
© Auguste Victor Deroy, Public domain, via Wikimedia Commons

Am 28. Mai sind die Kämpfe zu Ende. Rund 1.000 Toten der Regierungstruppen stehen mindestens 10.000 getötete Aufständische gegenüber, unter ihnen sogar Kinder. Viele Aufständische sind erst nach ihrer Gefangennahme erschossen, manche auch gelyncht worden. Zu den Opfern sind auch rund 70 von den Aufständischen erschossene Geiseln zu zählen, darunter Georges Darboy, der Pariser Erzbischof. Etwa 10.000 Aufständische werden zu Gefängnisstrafen verurteilt und über 4.000 von ihnen in die Strafkolonie Neukaledonien deportiert.

Nicht totgeschossen werden können aber die Ideen, für welche die Kommunarden und Kommunardinnen eingetreten sind. Der deutsche Publizist Sebastian Haffner wird über hundert Jahre später urteilen, dass es 1871 "zum ersten Mal um Dinge [ging], um die heute in aller Welt gerungen wird: Demokratie (...) Parlamentarismus, Sozialismus (. . .), Säkularisierung, Volksbewaffnung, sogar Frauenemanzipation - alles das stand in diesen Tagen plötzlich auf der Tagesordnung."

Gerald M. Wolf lebt und arbeitet als Historiker und Lehrer in Wien.