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Die Lösung der deutschen Frage

Von Michael Gehler

Wissen
Erstes Treffen der Außenminister der beteiligten Staaten 1990 in Bonn: V.l. James Baker (USA), Eduard Schewardnadse (UdSSR), Hans-Dietrich Genscher (BRD), Roland Dumas (F), Markus Meckel (DDR) und Douglas Hurd (GB) im Garten des Bundeskanzleramts.
© ullstein bild / ADN-Bildarchiv

Der sogenannte 2+4-Vertrag, der vor 30 Jahren ratifiziert wurde, war ein Meisterstück westlicher Diplomatie - letztlich zum Nachteil Russlands.


Am 12. September 1990 trafen sich in Moskau vier Außenminister und ein Ministerpräsident. Da die SPD aus der ersten frei gewählten DDR-Regierung ausgeschieden war, hatte ihr Ministerpräsident Lothar de Maizière das Außenamt übernommen. Hinzu traten der Amerikaner James Baker, der Brite Sir Douglas Hurd, der Georgier Eduard Schewardnadse, der Franzose Roland Dumas und der Bundesdeutsche Hans-Dietrich Genscher.

Der Ort war bewusst gewählt, denn der Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage lag nicht im Westen, der offiziell stets die deutsche "Wiedervereinigung" zu unterstützen vorgegeben hatte, sondern in Moskau. Ohne seine Zustimmung konnte es keine Vereinbarung geben, die im vollständigen Wortlaut "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" hieß, der genau an diesem Ort unterzeichnet wurde.

Tags darauf paraphierten Genscher und Schewardnadse im Spiridonos-Palast, dem Gästehaus des sowjetischen Außenministeriums, einen "Umfassenden Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit", der am 9. November von Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident Michail Gorbatschow in Bonn unterzeichnet wurde.

Honeckers Flucht

Der 2+4-Vertrag wurde zuletzt am 4. März 1991 durch den Obersten Sowjet der UdSSR ratifiziert, wobei diesem Vorgang ein pikantes Detail folgte: Neun Tage darauf flog das sowjetische Militär Erich Honecker trotz deutschen Haftbefehls vom 30. November des Vorjahrs gemeinsam mit seiner Frau Margot aus dem Militärspital Beelitz bei Potsdam nach Moskau aus und schützte damit den vormaligen Partei- und Staatschef vor einem Prozess in Deutschland.

Die Unterschriften der vier Alliierten vom 12. September 1990.
© Roland Dumas, Eduard Shevardnadze, Douglas Hurd, James Baker, Public domain, via Wikimedia Commons

Das war ein Völkerrechtsverstoß gegen die formell angeblich gerade erst erworbene deutsche Souveränität, den Moskau mit einer "humanitären" Maßnahme für den "politischen Flüchtling" begründete. Bonn stieß sich nicht sehr daran und reagierte erst 30 Stunden später mit der Einbestellung des sowjetischen Botschafters, der dann auch die Ratifikationsurkunde am 15. März 1991 - nach Honeckers erfolgreicher Flucht - übergab, womit der 2+4-Vertrag in Kraft war.

Für die sowjetische Führung war die deutsche Frage ein Gesamtkomplex, der sich aus den Konferenzen von Potsdam (1945) bis Genf (1959) sowie der Vier-Mächte-Verantwortung für Berlin und Deutschland als Ganzem ergab. Die Bundesrepublik war für den Kreml stets von stärkerem ökonomischen und politischen Gewicht als die DDR, die Moskau vorerst als "ungeliebtes Kind" galt, gleichwohl sie als Demontage-Land, Reparationen- und Ressourcenlieferant sowie auch geostrategisch für Moskau wichtig war, vor allem um Polen von einer direkten Verbindung zum Westen abzuschotten.

Die neue deutsche Ost-Politik unter Willy Brandt und Walter Scheel sah die UdSSR als Chance, der schon von ihr seit Mitte der 1950er Jahre angepeilten Entspannungspolitik zur Aufweichung der westlichen Embargos im Rahmen eines zu schaffenden gesamteuropäischen Sicherheitssystems zum Durchbruch zu verhelfen. Das gipfelte in der Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975. Die Anfänge der 1980er Jahre waren auch als Folge sowjetischer Aufrüstung mit neuer Spannung verbunden. Zwischen der UdSSR und der DDR entwickelte sich ein Konkurrenzverhältnis im Ausmaß des Vorzugs der Beziehungen zur BRD, das so weit ging, dass ein vorzeitiger Bonn-Besuch von Honecker durch Leonid Breschnew und Juri Andropow verhindert wurde.

Sowjets versus DDR

Unter Gorbatschow wurde die sowjetische DDR-Politik freizügiger. Honecker konnte 1987 problemloser der BRD seine Aufwartung machen, womit er sich einen politischen Lebenstraum erfüllte - scheinbar der Höhepunkt, tatsächlich aber der Anfang vom Ende seiner Macht. In den Jahren 1986 bis 1989, besonders im Kontext der Wiener KSZE-Folgetreffen, verschärfte sich das Verhältnis zwischen Sowjet- und DDR-Führung. Bezüglich Reise- und Visafreiheit nahm der Druck Gorbatschows auf die ostdeutsche Delegation in Wien so zu, dass der SED-Staat sie widerwillig gewähren musste, worauf der 9. November 1989 folgte...

22. Juni 1990: Der "Checkpoint Charlie" an der Berliner Zonengrenze wird seiner Funktion enthoben.
© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0622-028 / Grimm, Peer / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Am Rande der "Open-Skies"-Konferenz der KSZE in Ottawa am 13. Februar 1990 einigte man sich auf 2+4-Verhandlungen. Wer die Formel erfand, ist unklar. Sie stammte von westlicher Seite. Schewardnadse wurde davon überrascht. Nach mehreren Telefonaten mit Gorbatschow stimmte er zu. Ersten Gesprächen am 14. März folgten vier Verhandlungsrunden am 5. Mai in Bonn, am 22. Juni in Ost-Berlin, am 17. Juli in Paris (unter temporärer Hinzuziehung Polens) sowie am 12. September in Moskau.

Zum Auftakt wurde symbolisch das Wachgebäude am Grenzübergang Checkpoint Charlie in Berlin demontiert. Der Verhandlungsabschluss in der russischen Metropole war aber bis zuletzt offen. Nachdem Gorbatschow und Kohl am 10. September telefonisch den sowjetischen Truppenabzug im Jahr 1994 vereinbart hatten, kamen Sorgen in Paris und London auf, wo eine Zustimmung des Kreml zur deutschen Einheit erst später erwartet wurde.

Was im Westen nicht klar war: Die Sowjetunion stand schon 1989 infolge innerer Auflösungserscheinungen vor dem Ende. Sie war in hohem Maße von deutschen Krediten und Wirtschaftshilfen abhängig. Gorbatschow setzte daher seit 1990 auf neue Formen der Kooperation und eine gesamteuropäische Friedensordnung mit einem zu vereinigenden Deutschland. Das Verhältnis sollte neue Qualität erhalten.

Von britischer Seite wurde hingegen gefordert, nach der Einheit auch auf ostdeutschem Territorium Militärmanöver durchzuführen, was Moskau jedoch strikt ablehnte. Baker setzte auf Betreiben Genschers in Moskau einen Verzicht auf NATO-Manöver auf Ex-DDR-Gebiet durch, mit einem Zusatz, wonach solche nur in Rücksichtnahme auf sowjetische Sicherheitsinteressen abgehalten werden dürfen, was die Briten einlenken ließ.

Der 2+4-Vertrag bestimmte in zehn Artikeln außen- und sicherheitspolitische Aspekte der deutschen Einigung. Die nicht mehr zeitgemäße Bezeichnung "Friedensvertrag" wurde bewusst vermieden. Ein solches Szenario hätte zudem alle Staaten, auch jene, die dem Deutschen Reich noch kurz vor dem 8. Mai 1945 den Krieg erklärt hatten, als Vertragspartner beteiligen müssen. Das war auch nicht im Sinne der Vier Mächte, zumal sie exklusive Zuständigkeit über Deutschland als Ganzes besaßen. Mit ihrer Hilfe gelang es Genscher, die Drittstaaten abzuweisen, womit eine zu befürchtende Verhandlungs- und Verfahrensverzögerung abgewendet werden konnte. Umso erleichterter war er, dass "uns auch die Sorge vor unübersehbaren Reparationsforderungen von den Schultern genommen" wurde.

Volle Souveränität

Die bis dahin noch gültigen Potsdamer Beschlüsse vom 2. August, resultierend aus der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 zu oberster alliierter Regierungsgewalt, sollten durch "volle Souveränität" Deutschlands über seine inneren und äußeren Angelegenheiten abgelöst werden, womit die Vier-Mächte-Verantwortung für Berlin und Deutschland als Ganzes endete.

Die BRD, die DDR und ganz Berlin sollten das neue Staatsgebiet umfassen, die bestehenden Grenzen endgültig sein und keine Gebietsansprüche erhoben werden, d.h. Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, was schon durch die Ostverträge in Warschau und Moskau 1970 vorweggenommen war, allerdings ohne die Möglichkeit, eine einvernehmliche Neuregelung in einem späteren Friedensvertrag auszuschließen. Vorgesehen war ein Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen. Die Streitkräfte mussten auf 370.000 Mann beschränkt werden. Kernwaffen und ausländische Truppen durften auf Ex-DDR-Gebiet nicht stationiert oder dorthin verlegt werden.

Deutschland musste sich verpflichten, keine seiner Waffen jemals einzusetzen, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der UN-Charta. Eine zusätzliche Note von deutscher Seite hielt die Bodenreformen in Ostdeutschland nach Kriegsende für immer fest. Nicht zuletzt waren sowjetische Ehrenmale und Friedhöfe ein Anliegen von Moskau. In einem eigenen Abkommen vom 16. Dezember 1992 verpflichtete sich Deutschland der Russischen Föderation gegenüber zur dauerhaften Gewährleistung der Kriegsgräberfürsorge, ihrer Reparatur und Unterhaltung.

Befunde und Thesen

Was hat aus sowjetischer Sicht zum relativ schnellen 2+4-Vertragsabschluss geführt? Die deutsche Frage hatte 1989/90 nur mehr geringen Anteil auf der Agenda des Kreml. Blockinterna und Innenpolitik dominierten. Gorbatschow wurde von den Ereignissen am 9. November 1989 völlig überrascht, wie auch die sowjetische Botschaft in Berlin-Ost von der Öffnung der Grenzübergangsstellen an den sowjetischen Sektoren nicht informiert, geschweige denn konsultiert worden war.

Gorbatschow hatte keine deutschlandpolitische Strategie, geschweige denn eine Konzeption. Seine Politik hinkte der politischen Entwicklung nach. Er war mit der neuen Aufgabe der deutschen Frage schlichtweg überfordert. Die UdSSR befand sich schon im Herbst 1989 und Winter 1989/90 in einem Zustand einmaliger finanzieller und ökonomischer Schwäche, was sie zu außergewöhnlichen deutschlandpolitischen Zugeständnissen zwang.

Niemals zuvor hätte die Sowjetunion von Stalin bis Gorbatschow vor 1989 einem in der NATO vereinten Gesamtdeutschland zugestimmt. Sie musste aufgrund ihres desaströsen Zustandes von ihrem Ideal- und Maximalziel eines koalitionsfreien, neutralen Deutschlands abrücken - mangels echter Alternativen zu westlicher Hilfe und bundesdeutschen Krediten -, was im Juli 1990 bei einem Treffen im Kaukasus geschah. Solange die deutsche Frage offen war, fand eine lebhafte und phantasiereiche Debatte über eine gesamteuropäische Friedensordnung statt, die eine echte Chance auf Verwirklichung hatte.

Mit der Entscheidung der Westintegration des vereinten Deutschlands und der sich damit auch abzeichnenden NATO-"Osterweiterung" war jedoch die Frage einer zukünftigen (atomwaffenfreien) europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung entgegen den Erwartungen Gorbatschows präjudiziert. 2+4 war ein Meisterstück westlicher Diplomatie - letztlich zum Nachteil Russlands.

Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hildesheim.