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Ein Milchzahn könnte die Geschichte umschreiben

Wissen
Grabungen in der Grotte Mandrin in Frankreich förderten Zahn und Werkzeuge des Homo sapiens zutage.
© Ludovic Slimak

Der Homo sapiens könnte bereits vor 54.000 Jahren Europa erreicht haben, berichtet ein Team mit Wiener Beteiligung.


Der Milchzahn eines Kindes könnte die Geschichte umschreiben. Sein Fund legt nahe, dass der moderne Mensch bereits vor 54.000 Jahren von Afrika nach Europa kam, dann aber wieder verschwand.

Bis auf wenige Hinweise aus Griechenland, die nicht in das Bild passen, legt eine lange Reihe archäologischer Funde nahe, dass der Homo sapiens Europa weitaus später, nämlich erst vor 45.000 bis 43.000 Jahren, erreichte und besiedelte. Wissenschafter gehen davon aus, dass eine Mischung aus dessen Dominanz und veränderten Umweltbedingungen zum Verschwinden der hier lebenden Neandertaler geführt habe. Die letzten Hinweise auf unsere Cousins verlieren sich in der Zeit vor etwa 40.000 Jahren. Das formte die Ansicht, dass die Ankunft des modernen Menschen, der offensichtlich in seinem neuen Lebensraum Europa erfolgreicher war, mehr oder weniger direkt ins Verschwinden des Neandertalers gemündet habe.

"Türklinke" in die Hand

Jetzt aber bringt ein Team mit Wiener Beteiligung Annahmen zur Besiedlungsgeschichte Westeuropas durcheinander. Im Fachjournal "Science Advances" berichten die Forschenden, dass Neandertaler und moderne Menschen einander quasi die Türklinke einer Höhle im französischen Rhonetal in die Hand gaben, und zwar rund 10.000 Jahre früher, als man bisher für möglich hielt. Demnach hielten sich moderne Menschen schon vor 54.000 Jahren dort auf, allerdings nur für etwa 40 Jahre.

Ludovic Slimak von der Universität Toulouse und seine Kollegen analysierten die Besiedlungsspuren der Grotte Mandrin, eine Halbhöhle im südlichen Frankreich. Dieser einstige Siedlungsplatz wurde für eine Dauer von 30 Jahren beforscht. Die Datierung der von Menschen stammenden Zahnresten und Steinwerkzeugen in den Erdschichten wurden an Tom Higham vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien geleitet. Der in Großbritannien geborene Archäologe, Experte für Archäometrie und die Radiokarbondatierung von fossilen Knochen, konnte nachweisen, dass es Ausreißer in den geschichteten Überbleibseln gibt. Die Funde in einer etwa 54.000 Jahre alten Schicht im Eingangsbereich der Grotte Mandrin hielten eine Überraschung zur Ablöse des Neandertalers als dominante Hominidenspezies in Westeuropa bereit.

Der Grabungsbereich, genannt "Schicht E", enthielt Beweise für eine Anwesenheit von Homo sapiens in Ebenen unter der Erde, die an sich auf Neandertaler zurückzuführen wären. Zum einen fanden sich Artefakte moderner Menschen, die Higham mit modernsten Methoden auf die Zeit zwischen 56.800 und 51.700 Jahre zurückdatierte. Das wahrscheinlichste Alter von 54.000 Jahren macht sie zu den ältesten Nachweisen von Homo sapiens in Europa überhaupt. Die ältesten davor gefundenen Überbleibsel in Westeuropa seien 10.000 bis 12.000 Jahre jünger, heißt es in einer Aussendung der Hauptautoren der Studie.

In dieser besonderen Grabungsschicht gebe es auch Steinwerkzeuge, die feiner gearbeitet sind als solche, die in den Ablagerungen der Zeiten davor und danach gefunden wurden. Es seien Hinweise auf Spitzen für Pfeil und Bogen gefunden worden - eine Waffentechnologie, die man bei Neandertalern nicht vermutet hatte. Letztlich stützt aber der Zahn eines modernen Menschen die Idee, dass die Werkzeuge nicht von Neandertalern stammen.

Die Archäologen um Slimak fanden den Milchzahn eines Kindes, das den modernen Menschen zugeordnet werden konnte. Die darüber und darunter liegenden Schichten beherbergten hingegen Zähne, die den Kiefern von Neandertalern gewachsen waren. Um fix nachzuweisen, ob der Homo sapiens 9.000 Jahre früher als bisher gedacht nach Europa gekommen war, müsste die Paläo-Genetik das Erbgut dieser menschlichen Überreste analysieren. Dabei geht ein Teil des Fundes verloren. Um die Fragmente zu schonen, analysierte das Team daher zunächst Erbgut aus sechs Pferdezähnen aus den gleichen Schichten. Diesen hatten zehntausende Jahre unter der Erde jedoch so stark zugesetzt, dass sie keine verlässlichen Ergebnisse lieferten.

Die Gruppe verzichtete nach eigenen Angaben somit auf die genetische Untersuchung der DNA in insgesamt neun gefundenen Zähnen Menschenzähnen, da sie davon ausgingen, dass diese ähnlich stark lädiert seien. Sie konzentrierte sich auf andere Eigenschaften, mit denen sich Zähne unterscheiden lassen, wie Proportionen oder die Grenze zwischen Zahnschmelz und Zahnbein. So konnte das Team in Frankreich einen der neun gefundenen Zähne dem modernen Menschen zuordnen.

In den Schichten darüber und darunter lagen nur Zähne von Neandertalern. Zu ihnen passen Klingen, Spitzen und Werkzeuge in typischer Neandertaler-Technik. Die Werkzeuge in der 54.000 Jahre alten Schicht mit dem Milchzahn eines modernen Menschenkindes sind hingegen in einer Technik aus dem Nahen Osten gefertigt.

Steinzeit-Technologietransfer

Slimak erklärt die unterschiedlichen Funde mit der wechselhaften Steinzeit-Geschichte der Mandrin-Höhle. Zunächst kamen die Jäger und Sammler der Neandertaler. Dann lebte vor 54.000 Jahren Homo sapiens dort, der die Höhle für etwa 40 Jahre als Stützpunkt nutzte. Davor und danach war der Ort von Neandertalern bewohnt. Die nächsten Hinweise auf Homo sapiens in Mandrin finden sich, wie erwartet, 10.000 Jahre später.

Die Epoche vor rund 54.000 Jahren mit den so anders gearbeiteten Steinartefakten zeige auch, dass es schon damals einen Technologietransfer gegeben haben muss, und zwar mit dem Nahen Osten. Die Werkzeuge ähneln Stücken, die im heutigen Libanon gefunden wurden.

Es werde klar, "dass der Homo sapiens nicht einfach den Kontinent betreten und dann den Neandertaler so rasch verdrängt hat wie ursprünglich geglaubt. Die Idee unserer sofortigen Überlegenheit dürfte nicht zutreffen", wird Higham in der Aussendung zitiert. Er geht von mehreren Besiedelungswellen aus. Somit hätte sich die Ablöse des Neandertalers über mehr als 10.000 Jahre erstreckt, in denen die Gruppen in relativer Nähe zueinanderstanden. (est)