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Abschied von einem großen Tonkünstler

Von Gerhard Strejcek

Wissen

Vor 125 Jahren starb Johannes Brahms - sein Leichenbegängnis wurde zur Reverenz an den Klassiker aus Hamburg.


Am 6. April 1897 bewegte sich ein imposanter Kondukt von der Wiedener Karlsgasse, dem langjährigen Wohnsitz des drei Tage zuvor verstorbenen Komponisten Johannes Brahms, über die Technikerstraße und die Schwarzenbergbrücke zum Musikvereinsgebäude. Polizisten mit polierten, schwarz und metallisch glänzenden Pickelhauben säumten das Pflaster, überall standen trauernde wie schaulustige Passanten und ließen den Zug mit der hohen schwarzen Kutsche, den sechs Blumenwagen und dem von Kandelaber-Reitern umgebenen Katafalk vorbeidefilieren.

Voran ritt ein Mitarbeiter der "Bestattungs-Gesellschaft Concordia", der eine Standarte mit Lorbeerkranz trug, aus dessen Grün sich am Abend die Gäste der Trauerfeier Blätter zur Erinnerung zupften. Die Bestatter hatten eine halbe Stunde gebraucht, um die Kränze und Blumengebinde aus dem Trauerhaus in der Karlsgasse zu verladen, darunter den "colossalen" Kranz des Herzogs von Sachsen-Meiningen.

Deputationen aus Hamburg, der Geburtsstadt von Brahms, wo sein Vater einst als Straßenmusiker begonnen hatte, aus Köln und Sankt Petersburg waren erschienen, ebenso Vertreter des Leipziger Gewandhauses, Trauernde aus Amsterdam, Antwerpen, Bern und Basel, nicht zu vergessen die Abordnung des Herzogs von Sachsen-Meiningen, zu dessen Ehren Brahms eine große Geburtstagsfeier gestaltet hatte.

Ein strenger Heros

Der Komponist als Silhouette in "Dr. Otto Böhler's Schattenbilder" (1914).
© Otto Böhler / Public domain / via Wikimedia Commons

Der riesige Kranz der deutschen Botschaft mit den Abschiedsgrüßen der königlichen Hofmusik kam zu spät, um auf die Begleitwagen geladen zu werden, doch man wusste sich zu helfen und sandte ihn voraus auf den Friedhof, wo der Kondukt mit dem Verstorbenen erst gegen 17.30 Uhr, also bereits knapp vor der Dämmerung, eintreffen sollte. So zierten nur die Kränze der "Commune" (der Gemeinde Wien) und des Hamburger Senats den Wagen mit dem Metallsarg, als Symbole der beiden Heimatstädte des Tonkünstlers, den der Musikhistoriker Henry-Louis de La Grange einen "strengen Heros einer frivolen Stadt" nennt.

Die "Neue Freie Presse", durch den Kritiker und dezidierten Wagner-Verächter Eduard Hanslick seit jeher ein Organ der "Brahminen", wie man die Anhänger des formstrengen späten Klassikers nannte, erging sich tags darauf in Detailschilderungen der gigantomanischen Inszenierung. Die Wiener pompes funèbres hatten alles aufgeboten, sogar bläulich züngelnde Flammen, die in Kandelabern, die ein "B" auf den Glasfenstern trugen, im neuen Musikvereinsgebäude den Verstorbenen grüßten.

Brahms galt als Genie auf Beethovens Spuren, nicht aber als Humorkanone. Selbst ihm gewogenen Kritikern waren die Darbietungen von Bach, Händel oder seinem "Deutschen Requiem", seinen mitunter düster klingenden Symphonien und Motetten zu "ernst". Dennoch machte das "Deutsche Requiem" neben den beliebten "Variationen" Furore, es wurde am Karfreitag 1868 in Bremen aufgeführt, kam auch in Wiesbaden, Karlsruhe und Köln gut an und festigte Brahms’ Ruf als Schöpfer wehmutsvoll-ernster Musik mit sehnsuchtsvollen Anklängen, für die er gerne sanft klingende Holzbläser einsetzte.

Vater Johann Jacob hatte neben dem Kontrabass auch andere Instrumente gespielt, den Sohn aber zum Pianisten erzogen. Selbst der "Gegner" Richard Wagner, dem Brahms bei einem einzigen persönlichen Treffen auf Vermittlung des Pianisten Carl Tausig seine "Variationen über ein Thema von Händel" vorspielte, brummte zustimmend, dass sich hier ein Könner der konventionellen Musik zeigte, der alle Register in jenem Genre zog, das er für überholt hielt.

Tradition alter Meister

Brahms hingegen wollte, beeinflusst von Joseph Joachim, den von Liszt und Wagner propagierten Neuerungen der Tonkunst nicht folgen, ihm blieb Beethoven das Ideal. Selten, nur in Details wich er von althergebrachten Regeln der Komposition ab, Ernst und Akribie waren seine Leitsterne. Opern waren nicht sein Genre, im Jahr 1876 brachte der 43-Jährige die erste Symphonie auf Rügen zustande, der Heimat seines Freundes Theodor Billroth, der in Wien als berühmter Chirurg wirkte und der 1894 ein ebenso pompöses Begräbnis erhielt wie jenes, mit dem die Musikfreunde und die Stadt Wien den am 3. April an Leberkrebs verstorbenen Brahms nun ehrten.

Das Verhältnis zu Wagner gestaltete sich zwiespältig, vor allem die Anhänger heizten Konflikte mit ihm und auch Anton Bruckner an. Brahms hingegen sammelte Autografen seines Konkurrenten und kannte dessen "Ring"-Tetralogie bestens. Kritiker Hanslick hintertrieb die zarten Ansätze einer Verständigung, indem er Wagners Rechnungen für Galanteriewaren "leakte" - worauf dieser Brahms verdächtigte und verunglimpfte. Nachdem er dem Kollegen Hans von Bülow dessen Frau Cosima abspenstig gemacht hatte, hatte der "Ring"-Schöpfer viele Feinde. Brahms aber tauschte nur schweren Herzens einen "Lohengrin"-Autograf gegen Wagners "Rheingold"-Partitur.

Brahms und Johann Strauß Sohn im September 1894.
© Rudolf Krziwanek / Public domain / via Wikimedia Commons

In Wien, wo Virtuosen wie der Pianist Julius Epstein und der Geiger Georg Hellmesberger wirkten, galt ein schöpferischer und selbstkritisch-genauer Geist wie Johannes Brahms, der selbst gekonnt in die Tasten greifen konnte, viel. Die solide Ausbildung verdankte er dem Vater, der ihn, statt den Sohn als Wunderkind zu verheizen, zu seinem eigenen Pianolehrer Eduard Marxsen in die Lehre sandte. Diese Schule bildete für Brahms ein Fundament, das ihn über schwierige Phasen rettete. Notfalls trat er selbst als Klaviervirtuose auf. Das Wiener Publikum sah darüber hinweg, dass Brahms und seine Nachfolger wie Richard von Perger als Dirigenten dem Zeitgenossen Hans Richter nicht ebenbürtig waren.

Brahms zog sich 1875 von der Aufgabe zurück, selbst den Singverein zu leiten. Fortan genoss er die freischaffende Tätigkeit eines Komponisten, der Wert auf einen täglichen Spaziergang legte. Die besten Einfälle ereilten ihn anlässlich der jeweils drei Sommer währenden Aufenthalte in Pörtschach und in Hofstetten bei Thun im Kanton Bern; auch in Mürzzuschlag und Wiesbaden urlaubte Brahms gern, ehe er sich, im Gefolge des Kaisers Franz Joseph, regelmäßig nach Ischl begab.

Dort hörte man auf der Esplanade bewunderndes Gemurmel, wenn der bescheidene, doch geniale Komponist mit einem pfarrerähnlichen Gehrock, etwas zu kurzen Hosen und seinem imposanten Bart auftrat; optisch Arthur Schnitzler nicht unähnlich, fand Brahms auch in dem Arzt und Autor einen Bewunderer, der selbst das Klavier spielte (oft vierhändig mit Mutter oder Sohn Heini). Nicht weniger als 15 Brahms- Stücke sind in Schnitzlers Tagebüchern verzeichnet, vermutlich spielte er noch mehr, wenn er auch selbst nie ein Meister des Pianos war. Aber immerhin, es sagt schon viel über die Popularität von Brahms und über das Können der damaligen Wiener Künstler aus.

Wie drei Jahre zuvor bei Billroths gigantischem Leichenzug traf Brahms’ Kondukt nachmittags in der evangelischen Stadtkirche Augsburger Confession in der Dorotheergasse 18 ein. Der Chor des evangelischen Männergesangvereins intonierte Felix Mendelssohn-Bartholdys "Es ist bestimmt in Gottes Rat". In der Kirche waren wegen des beängstigenden Gedränges Platzkarten vergeben werden. Die Einsegnung nahm der 44-jährige Pfarrer Dozent Paul von Zimmermann vor, der seit 1875 in der Stadtkirche wirkte. Er galt als ausgezeichneter Kanzelredner, die Presse würdigte seinen Nachruf als "formvollendet". Mit bewegenden Worten entfaltete er eine Apotheose des Tonkünstlers: Schönheit und Qualität hätten sich durchgesetzt, "Tändeleien" und Anbiederung an das Publikum seien Brahms fremd gewesen, der nicht nur ein großer Künstler, sondern auch ein großer Mensch war, so der Pfarrer.

Auch Max Kalbeck, Verfasser einer vierbändigen Biografie, beschreibt die karitative Seite von Brahms, die aus den Thuner Briefen hervorgeht, die der Komponist an Stiefmutter Karoline nach Hamburg-Pinneberg schrieb. Brahms sorgte sich um den jüngeren Bruder, den kränkelnden "langen Franz", auch genannt der "falsche Brahms"; Konflikte waren vergessen, der Komponist sandte Geld und gute Worte.

Der seit 1863 in Wien lebende Künstler, der die Wiener Singakademie übernommen hatte, als man ihm seinen Freund Julius Stockhausen in Hamburg als philharmonischen Dirigenten vorgezogen hatte, liebte Praterspaziergänge und die walzerselige Unterhaltungsmusik der Strauß-Familie. Seine Schwermut wurde durch den Genuss der Wiener Leichtfüßigkeit gemildert. Freuden, die das einfache Volk an der Tanzmusik fand, inspirierten ihn.

Das letzte Geleit

Adele Strauß, der Gattin Johanns, schrieb er auf den Fächer nach den ersten Worten des Donauwalzers: "Johannes B., leider nicht von mir"; sie begleitete Brahms auch auf seinem letzten Weg und harrte in der Kirche des Kondukts. Auch Schwager Eduard Strauß, der "schöne Edi", war beim Trauergottesdienst zugegen, der Herrenhaus-Abgeordnete Nikolaus von Dumba und drei Sängerinnen saßen unweit der Kanzel. Hans Richter dirigierte in Budapest und war verhindert. Robert Schumanns älteste Tochter Maria fand sich unter den Trauergästen, nicht zu vergessen Antonín Dvořák, der dem Meister bis ans Grab folgte, wo Brahms neben seinem Idol Beethoven in der Wiener Künstlergrabstätte Nr. 26 bestattet wurde.

Noch einmal ergriff um 18 Uhr Singvereins-Dirigent Richard von Perger das Wort und versprach dem toten Meister Treue zu seinem Vermächtnis, dann sandte er dem Verblichenen ein zweimaliges "Leb wohl!" nach. Die Trauerfeier ging nach einem langen Tag, an dem - wie in einer Brahms-Symphonie - kühler Winterwind geweht hatte, aber auch zeitweise die Sonne hervorkam, zu Ende.

Gerhard Strejcek, geb. 1963, ist Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Autor.