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Musealisierte Zerstörungsgewalt

Von Rebecca Hillauer

Reflexionen
9 Millionen Tonnen TNT Sprengkraft barg die Titan II, hier ein Blick von oben darauf.
© Hillauer

Ein Museum in Arizona beherbergt die letzte Titan-II-Atomrakete, die zum Glück nie zum Einsatz kam.


Frieden durch Abschreckung. Das war die Maxime während des Kalten Krieges von 1963 bis 1987. In den USA waren insgesamt 54 sogenannte Titan-II-Interkontinentalraketen in Alarmbereitschaft, die die Sowjetunion von einem Angriff abhalten sollten. Die landgestützte Titan II besaß den größten Nuklearsprengkopf, den die Vereinigten Staaten jemals hergestellt haben. Zum Glück kam die Rakete nie zum Einsatz. Im Titan Missile Museum in Green Valley, Arizona, kann man die letzte dieser Raketenstationen besichtigen.

Über eine Metalltreppe steigen die Besucher elf Meter tief hinunter in die Erde und stehen dann vor einer drei Tonnen schweren grünen Stahltür, die früher hermetisch geschlossen war. Jetzt steht sie offen. Lässt die Kanten sehen, die, so erklärt Tourguide Steve, so nahtlos ineinander griffen, dass bei einem atomaren Angriff kein Hauch einer Chance bestanden hätte, dass radioaktiv verseuchte Luft in die Raketenstation eindringen könnte.

Durch die Stahltür betreten die Besucher das Kontrollzentrum. Ein runder Raum mit domartig gewölbter Decke. Steve verrät, was es mit dem Raum auf sich hat: Der Boden ist nicht fest mit der Wand verankert, sondern an acht Stahlfedern aufgehängt. Bei einem Atomwaffenangriff durch die Sowjetunion hätte er so die enorme Druckwelle durch Schwingen abfedern können. Und zwar gut 45 Zentimeter nach oben und unten sowie rund 30 Zentimeter zu den Seiten. Und das, "ohne dass die Menschen hier im Raum irgendetwas davon mitbekommen hätten", meint Steve. Die US-Militärführung nannte das "Schock-Isolation".

Nukleares Wettrüsten

Die Amerikaner waren nicht die Einzigen, die sich dieses physikalische Prinzip im Kalten Krieg zu Nutze machten. Im Sommer 1949 hatte die UdSSR in der kasachischen Steppe ihre erste Atombombe gezündet, nur vier Jahre, nachdem die USA die Städte Hiroshima und Nagasaki bombardiert hatten. Von nun an gab es zwei Atommächte - und das nukleare Wettrüsten des Kalten Krieges begann. Sowjetische und amerikanische Kernphysiker entwickelten Atomwaffen mit immer größerer Sprengkraft, im Bemühen, der anderen Seite einen Schritt voraus zu sein.

54 derartige Titan-II-Interkontinental-Raketen waren in den USA in Alarmbereitschaft.
© Hillauer

In den folgenden Jahrzehnten produzierten Nato und Warschauer Pakt tausende von Atombomben und Raketensprengköpfen. Sie sollten den Gegner auch dann noch vernichten können, wenn ihm ein Erstschlag gelungen war. US-Verteidigungsminister Robert McNamara prägte für dieses "Gleichgewicht des Schreckens" den Begriff der "guaranteed mutual destruction", der garantierten gegenseitigen Vernichtung: "Wer als Erster schießt, ist als Zweiter tot", hieß es.

Hauptschauplatz eines Krieges zwischen den Supermächten wären die damals noch beiden deutschen Staaten gewesen. Unter strengster Geheimhaltung bauten die Bundesrepublik und die DDR daher nahe ihren Hauptstädten Regierungsbunker. In diesen "Ausweichführungsstellen" hätten ausgewählte Politiker und Militärs im Fall eines Atomkriegs den Gegenschlag führen - und danach versuchen sollen, ihre verheerten Staaten wieder aufzubauen. So weit die Theorie.

Die Bundesrepublik baute ihren Regierungsbunker mitten in den idyllischen Weinbergen des Ahrtals, in Stollen eines stillgelegten Eisenbahntunnels hinein. Die Anlage mit dem Codenamen "Dienststelle Marienthal" war und ist der größte Bunker Europas. All das Rheinische Schiefergebirge hätte jedoch höchstens einer Nuklearexplosion in der Stärke der Hiroshima-Bombe widerstanden. Und bereits 1961 hatten die Sowjets auf Nowaja Semlja, einer Insel im Nordpolarmeer, eine Wasserstoffbombe gezündet, deren Sprengkraft die der Hiroshima-Bombe um das etwa 5.000-Fache übertraf.

Honecker-Bunker

Doch auch die Zerstörungskraft der US-Atomrakete Titan II war gigantisch. Bei der Museumsführung in Arizona nimmt Tourguide Steve ebenfalls die amerikanische Atombombe auf Hiroshima zum Vergleich. Ihre Sprengkraft, erläutert er, hätte rund 16.000 Tonnen TNT betragen. Bei der Titan II waren es dagegen 9 Millionen Tonnen TNT. Die Besucher im Kontrollzentrum schauen entsetzt, als Steve weiter veranschaulicht: "Unsere Atombombe 1945 hat Hiroshima auf einer Fläche von 13 Quadratkilometern zerstört. Die Titan II hätte mehr als 2.000 Quadratkilometer in Schutt und Asche verwandelt - eine Fläche so groß wie Los Angeles samt seiner Vorstädte."

Eine gasdichte Zugangstür zum DDR-Bunker.
© BEG, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Dieser Zerstörungsgewalt sollte in der DDR der sogenannte Honecker-Bunker trotzen. Die Betonwände des ostdeutschen Regierungsbunkers waren meterdick. Zudem waren sie mit Stahlplatten gegen den elektromagnetischen Impuls einer Atomexplosion geschützt, denn der hätte sonst alle elektrischen und elektronischen Geräte im Bunker schlagartig außer Betrieb gesetzt. Doch Beton und Stahl allein reichten nicht aus.

Zusätzlich ließ man sich - ähnlich wie die Amerikaner für das Titan-II-Kontrollzentrum - eine zu damaliger Zeit ingenieurtechnische Meisterleistung einfallen: Man konstruierte den Bunker als Würfel, der in einem Würfel hängt. Aufenthaltsräume und alle technisch wichtigen Bereiche brachte man in abgefederten Tragwerkskonstruktionen unter. Riesige Stahlcontainer, die man an armdicken Stahlseilen an der Decke montiert hatte, hingen freischwingend im Raum und konnten sich in alle Richtungen bis zu 40 Zentimeter bewegen.

Freilich wurde mit dem Bau des Honecker-Bunkers erst 1978 begonnen, als die Titan-II-Raketensilos in den Vereinigten Staaten bereits fünfzehn Jahre in Betrieb waren. In all dieser Zeit galt der Dienst dort unter der Erde als Kampfeinsatz und stand deshalb nur Männern offen. Dies änderte sich erst im Jahr 1978. Während die DDR ihren Regierungsbunker baute, hielten weibliche Soldaten Einzug in die Raketensilos der US-Luftwaffe.

Im Raketenmuseum in Arizona erklärt Steve bei seiner Führung daher auch kurzerhand zwei Besucherinnen zur Kommandantin und Vize-Kommandantin der Kontrollstation. Sie sollen nun den Abschuss einer Titan II simulieren. Der Befehl dazu kam mit der Rohrpost und musste erst aufwendig entschlüsselt werden, um sicherzugehen, dass er wirklich vom US-Präsidenten kam. Für dieses Prozedere - Befehl verifizieren, alle Sicherheitsmaßnahmen durchführen und die Atomrakete zünden - hatte die Vier-Mann-Crew nur drei Minuten Zeit.

Zwei Schlüssel

Eine Sirene schrillt im Kontrollzentrum. Dazu ertönt eine schnarrende Männerstimme - das Signal, dass die Titan II startbereit ist. Um die Rakete zu zünden, müssen die zwei "Kommandantinnen" die beiden Schlüssel, vor denen sie jetzt sitzen, gleichzeitig umdrehen. Zwei Meter beträgt der Abstand zwischen den beiden Schlüsseln. Kein Mensch auf diesem Planeten hätte so lange Arme, um alleine die Schlüssel gleichzeitig zu erreichen, sagt Steve. Man brauche also zwei Personen und zwei Schlüssel, um in den Vereinigten Staaten eine Atombombe zu zünden. "Wo ist der einzige Ort auf diesem Planeten, an dem man eine Atomwaffe mit einem einzigen großen roten Knopf abfeuern kann?", fragt er in die Runde. Achselzucken. "Hollywood." Die Besucher lachen.

"Captain", spricht Steve die von ihm zur Kommandantin ernannte Besucherin an. "Ich brauche jetzt von Ihnen einen beherzten Countdown, um die Bombe zu starten." Die Frau im Kommandosessel, vor sich eine Schrankwand voller Armaturen, atmet einmal tief durch, dann zählt sie: "3, 2, 1, zünden!"

Nach dem Countdown gibt es kein Zurück. Nicht einmal der US-Präsident könnte den Startvorgang noch stoppen. Die Bombe ist jetzt auf Autopilot. "Nach 28 Sekunden hören Sie einen komischen Ton", kündigt Steve an. Eine Klingel schrillt. Heißt: Der Silo ist geöffnet. "Nach genau 58 Sekunden hebt die 165 Tonnen schwere Rakete ab und fliegt 9.000 Kilometer weit. Dafür braucht sie nur 30 Minuten, weil sie mit 18.000 Meilen pro Stunde unterwegs ist." Das sind rund 26.000 Stundenkilometer.

Die Besucher steigen nun, wieder über eine Metalltreppe, hinauf zur Ebene 2 des Raketensilos. "Leute, was ihr hier seht, ist eine originale Titan-II-Rakete. Kein Modell, keine Attrappe, das ist ‚the real thing‘", sagt Steve in amerikanisch-lässiger Art zu seiner Besuchergruppe. Durch eine offene Tür kann man die echte Titan II aus nächster Nähe betrachten: mehr als 30 Meter lang und 2,5 Meter im Durchmesser. "U.S. Air Force", ist der Länge nach auf ihrem Metallmantel zu lesen. Und dann ist die Führung auch schon fast zu Ende.

War vor 45 Jahren dafür zuständig, dass die Titan II immer einsatzbereit war - und kümmert sich heute um den Museumsshop: Dave Harutunian.
© Hillauer

Denn oben, im Museumsshop, wartet noch Dave Harutunian. Vor 45 Jahren war er der Computerfachmann im Kontrollbunker und zuständig dafür, dass die Titan II immer einsatzbereit war. Für einen 19-Jährigen eine schwere Bürde. Dazu kam die strikte Geheimhaltungspflicht: kein Wort über seine Arbeit zu Familie, Freunden oder Ehefrau. Denn sie alle, so die Stabsführung, könnten sowjetische Spione sein. Und im Dienst unter der Erde: Jedes Mal, wenn eine Rohrpost kam, konnte das der Abschussbefehl sein. Man begreift, warum die jungen Männer bis zu vier Schachteln Zigaretten pro Tag rauchten.

Waren sie nicht im Bunker, hatten sie auf dem Stützpunkt jeden Tag Training im Simulator. Zudem musste die ganze Mannschaft einmal im Monat zur psychologischen Untersuchung. "Sie wollten die Pazifisten ebenso aussortieren wie die Schießwütigen", erzählt Dave Harutunian. So wollte die Militärführung sicherstellen, dass die Soldaten stabil genug waren, um dort unten zu sein - und bereit, die Bombe zu zünden. "Deshalb waren wir auch bewaffnet", ergänzt der damalige Computerfachmann. "Wenn einer von uns die anderen vom Start hätte abhalten wollen, hätten wir ihn erschossen."

David Harutunian hat nie bereut, in der Kommandozentrale Dienst getan zu haben. Im Gegenteil: "Mir hat es gefallen", sagt er, auch noch nach 45 Jahren. Furchterregend sei es gewesen und manchmal langweilig, aber auch aufregend. "Ich würde es wieder tun. Auf der Stelle."

Die Waffentechnologie hat in den letzten 50 Jahren allerdings Riesenschritte gemacht. Die Atomsprengköpfe und Raketen heutzutage, weiß Dave Harutunian, sind präziser als die alten Modelle - und wesentlich kleiner. Eine Rakete mit den Ausmaßen der Titan II wird es wohl nie wieder geben. 54 Stück waren es insgesamt. Nach dem Kalten Krieg wurden alle - bis auf eine - verschrottet. Das Gleiche geschah mit den Atomraketen der Sowjets. Die meisten von ihnen seien übrigens in der Ukraine stationiert gewesen, erzählt Dave Harutunian zum Schluss. Eine davon ließ man auch dort übrig. Sie konnte man vor dem Krieg in einem Museum in der Ukraine besichtigen.

Rebecca Hillauer studierte Sozialpädagogik und lebt als Hörfunk- und Printjournalistin in Berlin.