Zum Hauptinhalt springen

Vordenker eines vereinten Europas

Von Anita Ziegerhofer

Wissen

Zum 50. Todestag von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, der vor 100 Jahren seine Idee von Paneuropa veröffentlichte.


Vor 50 Jahren, am 27. Juli 1972, starb Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi in Schruns, Vorarlberg. Mit seinem Namen untrennbar verbunden ist die Idee von "Paneuropa", die er vor 100 Jahren ins Leben rief. Anlässlich seines 50. Todestages soll eine kurze Rückschau auf das bewegte, schillernde Leben des Paneuropäers erfolgen sowie eine Bewertung seiner Idee.

Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi wurde am 17. November 1894 als Sohn des Diplomaten Heinrich Coudenhove-Kalergi und dessen Frau Mitsuko Aoyama in Tokio geboren. 1896 kehrte er mit seiner Familie auf den väterlichen Besitz im böhmischen Ronsperg (Poběžovice, heute Tschechische Republik) zurück, wo er als Kind in einer kosmopolitischen Atmosphäre aufwuchs. Diese Zeit und jene als Zögling des Theresianums dienten ihm als Inspiration für seinen späteren Paneuropäismus. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie musste sich Coudenhove-Kalergi, der 1917 an der Universität Wien zum Dr. phil. promovierte, für eine Staatsbürgerschaft entscheiden. Er wurde zunächst tschechoslowakischer und ab 1939 französischer Staatsbürger, fühlte sich aber stets als Weltenbürger.

Vor genau 100 Jahren - 1922 - trat Coudenhove-Kalergi erstmals mit seiner Idee Paneuropa an die Öffentlichkeit: Am 17. November 1922 erschien sein Beitrag "Paneuropa. Ein Vorschlag" in der Wiener "Neuen Freien Presse". Dieser Zeitungsartikel gilt als Initialzündung für die Paneuropa-Bewegung. 1923 folgte die Veröffentlichung seines Buches "Paneuropa", in dem er unter anderem Programm und Organisation der zu gründenden paneuropäischen Bewegung beschrieb.

Vereinigte Staaten

Demnach sollte das in Nationalstaaten zerklüftete Europa in mehreren Schritten zu Paneuropa vereint werden: Zunächst müsse eine Paneuropa-Konferenz (mit einem Paneuropa-Büro entweder in Genf, Wien oder Paris) installiert werden, für dessen Präsidentschaft Coudenhove-Kalergi zunächst Benito Mussolini beziehungsweise Tomáš G. Masaryk vorgesehen hatte. Beide Männer lehnten jedoch ab. In einem weiteren Schritt müssten alle Mitgliedstaaten untereinander Schieds- und Garantieverträge abschließen; daraufhin hätte die Schaffung einer paneuropäischen Zollunion zu erfolgen. Als Krönung von Paneuropa war die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika beziehungsweise der Schweiz, geplant.

Paneuropa sollte aus 26 Staaten, sieben kleinen Territorien und aus den europäischen Kolonien bestehen. Coudenhove-Kalergi ging davon aus, dass das britische Empire ein außereuropäisches Reich bliebe, weshalb er statt einer Mitgliedschaft die Schaffung einer britisch-europäischen Entente als Basis für die künftige Beziehung vorschlug. Russland betrachtete er als militärische Bedrohung und den Bolschewismus lehnte er zeitlebens ab, weshalb eine Mitgliedschaft nur unter geänderten politischen Verhältnissen in Russland zustande kommen könnte.

Das paneuropäische Gebiet nach Coudenhove-Kalergis Vorstellung (1924).
© hrischerf / CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0) / via Wikimedia Commons

Die Gründung von Paneuropa sah er wegen einer erneuten innereuropäischen Kriegsgefahr, des drohenden wirtschaftlichen Kollapses aufgrund der aufsteigenden Wirtschaftsmacht USA und der Bedrohung durch den Bolschewismus als dringende Notwendigkeit.

Am 1. Oktober 1923 erfolgte die Gründung der Paneuropa-Union, im April 1924 wurde die erste Ausgabe der Zeitschrift "Paneuropa" veröffentlicht. Diese erschien bis 1938 monatlich (mit Ausnahmen der Sommermonate), wobei Coudenhove-Kalergi die meisten Artikel selbst verfasste. Zwischen Oktober 1923 und April 1924 dürfte der Paneuropäer die Räumlichkeiten in der Wiener Hofburg, Marschallstiege und später Adlerstiege, bezogen haben, die ihm die österreichische Bundesregierung zur Verfügung gestellt hatte.

Coudenhove-Kalergi konnte zunächst Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel als Ehrenpräsident der österreichischen Paneuropa-Union gewinnen, nach dessen Tod übernahmen die Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg diese Funktion. Wien wurde zum Hauptsitz der Bewegung, im Laufe der Zeit entstanden in fast allen europäischen Hauptstädten Paneuropa-Unionen und 1926 sogar auch in New York.

Um Paneuropa populär zu machen, veranstaltete Coudenhove-Kalergi Anfang Oktober 1926 in Wien den ersten Paneuropa-Kongress. Ein Jahr später übernahm der französische Politiker Aristide Briand die Ehrenpräsidentschaft der Paneuropa-Bewegung. Coudenhove-Kalergi reiste unermüdlich durch Gesamteuropa, hielt Vorträge und war stets auf der Suche nach hochkarätigen Multiplikatoren für seine Idee nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch in der Wirtschaft - immerhin musste das Paneuropa-Projekt finanziert werden.

Die Fahne der Paneuropa-Bewegung zur Zeit ihrer Gründung. Später kam der Kreis aus zwölf goldenen Sternen hinzu.
© Public domain / slawojar / via Wikimedia Commons

In weiten Teilen der deutschen Industrie und vor allem im deutschen Industriellen Robert Bosch fand er großzügige Geldgeber. Mit heutigen Maßstäben gemessen wäre Coudenhove-Kalergi ein perfekter Networker und Lobbyist, der auch aufgrund seiner adeligen Herkunft über ein sehr gutes Netz an einflussreichen Kontakten verfügte. Um aus Paneuropa eine Massenbewegung zu machen, setzte der Paneuropäer auf die Verwendung von Zeichen im Sinne einer Corporate Identity. Dazu zählt das rote Kreuz auf goldenem Hintergrund, aber auch Beethovens "Ode an die Freude" als Europahymne oder der Europatag am 17. Mai.

Drei Phasen

Rückblickend kann festgehalten werden, dass der Versuch, Paneuropa zu realisieren, in drei Etappen erfolgte: Die erste Etappe setzte mit der Veröffentlichung des Buches "Paneuropa" 1923 ein und endete 1930 mit der Verkündigung des Briand’schen Memorandums. In diesem sprach sich der französische Staatsmann Aristide Briand für eine Vereinigung Europas aus, allerdings lehnten Deutschland, England und Italien das Memorandum ab. Für Coudenhove-Kalergi und Paneuropa bedeutete das Scheitern der Initiative einen herben Rückschlag.

Als am 30. Jänner 1933 Adolf Hitler Reichskanzler wurde, erfolgten bald darauf die Schließung aller Paneuropa-Büros in Deutschland und das Verbot der Bewegung - was auch den Verlust der wichtigsten Geldgeber mit sich brachte. Nun galt nicht mehr die politische Vereinigung als Ziel, sondern die wirtschaftliche, womit die zweite Phase von Paneuropa begann. In der Zeit von 1933 bis 1935 wurden vier paneuropäische Wirtschaftskonferenzen in Wien abgehalten, 1933 erfolgte die Gründung der paneuropäischen Wirtschaftszentrale, 1936 organisierte Coudenhove-Kalergi auch einen paneuropäischen Agrarkongress.

Sein Credo, sich niemals in die Alltagspolitik einmischen zu wollen, führte er selbst ad absurdum, indem er sich öffentlich zu Dollfuß, der seit 1932 Ehrenpräsident von Paneuropa war, bekannte und somit auch zum autoritären Ständestaat. Dies sollte sich als ein gravierender Fehler herausstellen, der ihm (teilweise bis heute) die Antipathie der österreichischen Sozialdemokratie einbrachte.

Nach der Ermordung von Dollfuß im Juli 1934 und der zunehmenden Radikalisierung der europäischen Politik musste Coudenhove-Kalergi Paneuropa abermals anpassen und propagierte bis zum "Anschluss" Österreichs 1938 ein auf kultureller Basis vereintes Paneuropa zur Rettung des Abendlandes. Ab nun, in der dritten Phase ab 1937, standen Themenbereiche wie nationale Fragen, Bildung oder Sicherung der nationalen und religiösen Minderheiten mittels "Toleranzedikt" im Mittelpunkt von Paneuropa.

Als die deutsche Wehrmacht am 12. März 1938 in Österreich einmarschierte, floh Coudenhove-Kalergi nach Frankreich und erhielt 1939 dessen Staatsbürgerschaft. Anfang August 1940 emi-grierte er mit seiner Familie nach New York. Hier konnte er an jene Kontakte anknüpfen, die er bereits 1926 hergestellt hatte. So verhalf ihm Nicholas Murray Butler von der Carnegie-Stiftung zu einer Lehrtätigkeit an der Universität von New York und 1942 gründete er mit dem damals anerkannten Völkerrechtsprofessor Arnold Zurcher das Research Center for European Federation.

Beide Männer entwickelten Entwürfe für eine europäische Verfassung. Unermüdlich versuchte Coudenhove-Kalergi, die Roosevelt-Administration von der Paneuropa-Idee zu überzeugen, und veranstaltete sogar den 5. Paneuropa-Kongress im Jahr 1943 an der New Yorker Universität.

Die Familie Coudenhove-Kalergi kehrte 1946 wieder nach Europa zurück. Nun schien die Zeit für die Realisierung der Europa-Visionen reif. Den Auftakt machte Winston Churchill mit seiner Rede in Zürich am 19. September 1946. Darin hob er Coudenhove-Kalergis Leistungen für die Vereinigung Europas besonders hervor. Nicht nur diese Rede, sondern auch die Gründung privater Europaorganisationen (etwa die Union Européenne des Féderalistes, UEF) veranlassten Coudenhove-Kalergi, die Europäische Parlamentarier-Union (EPU) zu gründen. Schließlich reaktivierte der damalige Präsident der EPU am 5. Mai 1952 die Paneuropa-Union. Der 6. Paneuropa-Kongress 1954 gilt als zweite Geburtsstunde der heutigen Paneuropa-Union.

Visionär seiner Zeit

Richard Coudenhove-Kalergi war ein Visionär und viele seiner Idee sind heute in der EU Realität, wie etwa die bestehende Wirtschafts- und Währungsunion oder das Unionsrecht. Seine Idee von einem europäischen Heer steckt in den Anfängen, jene einer gemeinsamen Verfassung wurde 2005 abgelehnt. Alle seine Vorschläge müssen aus der Zeit heraus verstanden werden, was nicht heißt, sie nicht kritisch zu betrachten: So etwa war es ihm nicht gelungen, den Kolonialismus zu überwinden.

Richard Coudenhove-Kalergi war in seinem Wirken in der Zwischenkriegszeit originär und versuchte als erster Europa-Visionär, seine Idee auch umzusetzen. Dabei stieß er nicht nur auf Zuspruch, sondern auch auf Ablehnung. Dennoch erhielt er zu Lebzeiten entsprechende Ehrungen. So ist er der erste "Europäer", dem der renommierte Aachener Karlspreis verliehen wurde; der Friedensnobelpreis blieb ihm trotz einiger Versuche in der Zwischenkriegszeit verwehrt.

Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi konnte die Gründung der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), aber auch der EFTA (European Free Trade Association) miterleben, bevor er am 27. Juli 1972 starb. Seine letzte Ruhestätte fand der "Botschafter Europas" in Gstaad.

Anita Ziegerhofer ist Professorin für Rechtsgeschichte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Graz. Forschungsbereiche: Europa, Verfassungsrechtsgeschichte, Gender-Dimensionen des Rechts.