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Der ambivalente Revolutionär

Von Michael Gehler

Reflexionen

Der Kreml-Chef wollte die Sowjetunion umgestalten. Wie sah man damals in Wien das Projekt von "Glasnost" und "Perestroika"?


Der frühere Berater und Sprecher von Michail Sergejewitsch Gorbatschow, Andrej Gratschow, nannte ihn einen "ungewöhnlichen Politiker", "dilettierenden Staatsmann", "Idealisten" und "Visionär". Für Russland habe er letztlich "höchst umstrittene neue Realitäten" geschaffen. Wie sah Wien seine Amtszeit als KPdSU-Generalsekretär (1985 bis 1991)?

Im Juli 1985 sprach Österreichs Botschaft in Moskau schon von einer "Ära Gorbatschow", wobei unklar war, wohin seine Politik führen würde. Er versuchte, außenpolitischen Ballast abzuwerfen, noch ohne radikal neue Wege zu gehen. Bei seiner ersten Auslandsreise im Oktober ging es in Paris um Kontakte zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). "Möglichst bald" wollte Gorbatschow das sozialistische Bündnissystem verändern. Angesichts der prekären Lage in Afghanistan sollten sowjetische Truppen dort nicht mehr auf Dauer stationiert sein. Anfang 1989 zog er die letzten ab.

Der Entwurf des Parteiprogramms von Februar 1986 war begrifflich sachlicher, wirklichkeitsbezogener und zeitgemäßer, während ideologische Kontinuität bestand: "Alter Wein in neuen Schläuchen", urteilte die Botschaft. Erkennbar war, dass Gorbatschow ein ihm genehmes Zentralkomitee (ZK) formen, die Mehrheit des Politbüros seine Politik tragen und die Dominanz seiner Stellung in der Außenpolitik unumstritten sein würde, in der Innenpolitik ihm jedoch die Hände gebunden waren. Anhaltende Popularität schien primär von besseren, vor allem mehr Konsumgütern abzuhängen.

Spiel mit dem Feuer?

Im Spätsommer 1986 hatte sich laut Botschafter Herbert Grubmayr nicht nur der politische Sprachgebrauch in der UdSSR mit "Umbau" (Perestroika) und "Transparenz" (Glasnost), sondern auch der Regierungsstil verändert. Bei Reisen durch das Land praktizierte Gorbatschow rege Dialoge mit Leuten auf der Straße. Vermehrte Transparenz wirkte sich auf mehr Kritik der sowjetischen Presse bei Privilegien der Nomenklatura aus. Grubmayr sah in den Schlagwörtern eine neue Verpackung alter Inhalte, denn hinsichtlich konkreter politischer Veränderungen sei das Ergebnis weit dürftiger. Die Katastrophe von Tschernobyl zeigte die Grenzen von "Glasnost" auf.

Geortet wurde, dass Gorbatschows Neigung zur Disziplinierung einer "durchaus traditionellen russischen Methode" folgte. "Transparenz" diente zum Kujonieren mittlerer Parteikader, während "Liberalität" nicht als seine stärkste Fähigkeit erschien. Die Kampagne gegen den Alkoholismus etwa erwies sich als zunächst wirkungsvolle, aber höchst unpopuläre Aktion. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit bewegte sich die Debatte um "Demokratie und Sozialismus".

Gorbatschow im Jahr 1986.
© RIA Novosti archive, image #359290 / Yuryi Abramochkin / CC-BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) / via Wikimedia Commons

Mit dem bildhaften Vergleich eines aus der Flasche gelassenen Geistes wurde Gorbatschows Politik der "Offenheit" verglichen und gefragt, ob dieser Vorgang einem "Spiel mit dem Feuer" gleichkomme. An der Basis nutzte man sich bietende Chancen der Politik der Offenheit, während beträchtliche Widerstände vor allem bei Parteikadern vorhanden waren.

Im ZK bestanden im Februar 1988 erhebliche Gegensätze. Während Gorbatschow über "Umgestaltung" sprach, kritisierte das Politbüromitglied Jegor Ligatschow die viel zu weitgehende "Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft". Die Botschaft empfand es als "ungewöhnlich", dass zwei Spitzenvertreter so offen "deutlich divergierende Schwerpunkte" setzten.

Das Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten im russischen Vielvölkerreich war Hauptthema in Gorbatschows Rede, während Ligatschow und KGB-Chef Wiktor Tschebrikow spontane Änderungen ablehnten, zumal sie schon im Herbst 1987 nach Demonstrationen im Baltikum "vor Auswüchsen" der Demokratisierungspolitik Gorbatschows gewarnt hatten. Er war sich bewusst, dass eine Lösung der Nationalitätenfrage unausweichlich war und die Unterdrückung berechtigter Forderungen für die Stabilität der UdSSR im Vergleich zu demokratischen Lösungsversuchen noch "viel bedrohlicher" sei.

In dieser Problematik sah Grubmayr das größte Problem für Gorbatschows Reformkurs, denn es sei nicht "ewig möglich", "den Deckel fest auf dem brodelnden Kochtopf zu halten". Die Botschaft erkannte einen "nicht ungefährlichen kumulativen Prozess", verbunden mit Schwierigkeiten, die die wirtschaftlich-technische und organisatorische Umgestaltung noch stärker belasten würden.

Nach drei Jahren Amtszeit deutete nichts auf einen Durchbruch hin: Die Wirtschaftsreformen würden zwar oft im Geiste der "Perestroika" beschworen, die verordneten Maßnahmen aber einer "hemmenden Administrierung" und einer "zunehmenden Bürokratisierung" unterliegen. Das Verhalten der mittleren Ministerial- und Planungsbürokratie wurde als "retardierendes Element" interpretiert.

In der Außenpolitik wurden hingegen am deutlichsten erkennbare Erfolge registriert. Neue Qualität kamen durch die zum Abschluss tendierenden KSZE-Verhandlungen, die Verifikation des INF-Vertrags bezüglich Abbau nuklearer Mittelstreckensysteme sowie die START-Initiativen zur Verringerung strategischer Waffen zum Ausdruck.

Bröckelnde UdSSR

Im April 1988 berichteten Grubmayr und sein Vertreter Martin Vukovich, dass nach Abwehr eines Putschversuchs der Konservativen unter Ligatschow neue Chancen für die Reformen gegeben seien, doch große Teile der russischen Bevölkerung diese ablehnten, weil für sie keine Vorteile damit verbunden waren. In der Lebensmittelversorgung gab es weiterhin größere Engpässe, vor allem bei Fleisch und Zucker. Der "kleine Mann auf der Straße" verband mit "Perestroika" vor allem Angst vor Preiserhöhungen. Obwohl die Machtstellung des KGB trotz der neuen Politik ungebrochen war, gab es gesellschaftliche Erleichterungen, die sozioökonomischen Verhältnisse besserten sich aber nicht.

Moskaus Zurückhaltung nach der symbolischen Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze durch die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn am 27. Juni 1989 und dem anschließenden "Paneuropa-Picknick" erklärte sich Grubmayr damit, dass es zu diesem Zeitpunkt schon massive innere Probleme in der UdSSR gab. Im Kreml musste man sich nun nicht nur um den Fortbestand des Warschauer Pakts, sondern um den der Sowjetunion selbst sorgen. Der Fluchtbewegung der DDR-Bürger wurde nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie im Westen, gleichwohl diese ein Brandbeschleuniger für das nahende SED-Ende war.

Gorbatschow traf eine wichtige Aussage bei einer Pressekonferenz in Finnland am 26. Oktober 1989, wonach jedes Land selbst über seinen Weg und den Abschluss von Verträgen entscheiden könne. Grubmayr verfolgte die TV-Übertragung, zeichnete die Aussage als Video auf und gab die Info nach Wien weiter. Obwohl das sowjetische Außenamt auf keinen ZK-Beschluss dazu verwies, hielt Grubmayr daran fest. Wie er beobachtete, war schon beim Besuch von Alois Mock und Bundeskanzler Franz Vranitzky 1988 in Moskau erkennbar, dass Gorbatschow keinen großen Widerstand mehr leistete. Grubmayrs Nachfolger Friedrich Bauer verwies auf den Besuch Vranitzkys in Moskau im Oktober 1991, bei dem Gorbatschow keinen Einwand mehr hatte, sofern die sowjetischen Interessen (Neutralität und Staatsvertrag) nicht verletzt würden.

Die Reformen Gorbatschows hatten Österreichs Botschafter Franz Wunderbaldinger in Ost-Berlin beeindruckt und erstaunt. Die Opposition gegen Honecker war damit gestärkt, nahm zu und trat mutiger auf. Der Kremlchef befürwortete jedoch die deutsche Einheit zunächst nicht. Seit Jänner 1990 musste er aber einsehen, dass die DDR nicht mehr zu halten war.

Unter keinen Umständen wollte er kriegerische Verwicklungen mit dem Westen, dessen Unterstützung er für seine Reformen brauchte. Angesichts der deprimierenden Ergebnisse der Innenpolitik fragte sich die Botschaft in Moskau, ob der Sowjetbürger nicht längst schon "perestroikamüde" geworden sei. Die Situation verschärfte sich derart, dass man sich im Dezember 1989 fragte, ob ein Militärputsch bevorstehen würde.

Die Aussichtslosigkeit der Reformen ließ zunehmend Opposition entstehen. Mit der Wahl von Boris Jelzin zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet der Russischen Föderation am 29. Mai 1990 war ein Meinungsumschwung gegen Gorbatschow erkennbar. Bei den ersten demokratischen russischen Präsidentschaftswahlen wurde Jelzin am 12. Juni 1991 mit klarem Votum zum ersten Präsidenten Russlands gewählt. Auf dem XXVIII. Parteitag erklärte er seinen Austritt aus der KPdSU. Gorbatschow griff auf Sondervollmachten zu, die aber seine Position nicht festigten.

Jelzins Aufstieg

Im August 1991 kam der befürchtete Militärputsch, den Gorbatschow nur noch als Statist erlebte, urlaubend auf der Krim, wo er unter Hausarrest stand. Mit seiner Absetzung wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Jelzin konnte sich als neue Führungsfigur gegen die Putschisten behaupten. Gorbatschow stemmte sich gegen die drohende Auflösung der UdSSR und warnte vergeblich vor völliger Desintegration.

Österreichs Diplomatie beobachtete früh die Fraglichkeit seiner Reformpolitik sowie die Dilemmata von Perestroika und Glasnost mit ihren Unvereinbarkeiten. Die einsetzende kritische Auseinandersetzung mit dem Stalin-Kult verfehlte ihre Wirkungen auf die "Bruderländer" nicht. Die Breschnew-Doktrin wurde aufgegeben. Der Warschauer Pakt war spätestens seit Sommer 1989 in Auflösung.

Das von Gorbatschow wiederholt propagierte Bild vom "gemeinsamen europäischen Haus" wurde vom politischen Direktor des Außenministeriums Ernst Sucharipa kritisch analysiert, aber positiv beurteilt. Österreich solle sich bei der Ausgestaltung einbringen. Im November 1989 wurden für Wien Zerfallserscheinungen in der UdSSR erkennbar. Jelzins Profilierung als politische Alternative war abzusehen.

Fazit: Der ambivalente Revolutionär Gorbatschow löste Prozesse aus, die er nicht mehr beherrschen, geschweige denn steuern konnte. Er wollte dem "alten Denken" der Sowjetunion ein Ende bereiten und das Aufkommen "neuer Denker" ermöglichen, ohne dabei aber zu ahnen, was das für die Zukunft Russlands bedeuten würde. Seine Vision blieb Illusion.

Literaturhinweis:

"Von den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa bis zum Zerfall der Sowjetunion 1985- 1991. Eine Dokumentation aus der Perspektive der Ballhausplatzdiplomatie." Hrsg. von Michael Gehler und Andrea Brait. 2 Bde., Verlag Georg W. Olms, Hildesheim / Zürich / New York, 1.751 Seiten (im Erscheinen).

Michael Gehler ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hildesheim und an der Andrássy Universität Budapest.