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"Liebster Papsch und süße Mommili"

Von Gerhard Strejcek

Wissen

"Vier Schwestern": Ernst Strouhal ist ein berührendes Buch über die Töchter von "Presse"-Chef Ernst Benedikt gelungen.


Wer in einem Buch Grinzinger Lokalkolorit, die Geschichte von Flucht und Vertreibung und die Saga des "Neue Freie Presse"-Eigentümers Ernst Martin Benedikt aus der Perspektive seiner vier Töchter und seiner Gattin Irma vereint finden möchte, wird mit Gewinn zu Ernst Strouhals neuem Werk greifen. In erster Linie gilt es ja den Schwestern der dritten Generation Benedikt, die im 20. Jahrhundert lebten und in unterschiedliche Exile auswandern mussten, aber am Rande erfährt der Leser auch viel über die bizarren Lebensumstände des 1882 geborenen und 1973 verstorbenen Zeitungschefs und Autors.

Nicht immer geht es in einem Journalistenhaushalt leise zu. Amplituden, wie sie beim Zeitungs-Erben und Chefredakteur Benedikt zu Hause üblich waren, dürften aber dennoch die Ausnahme sein. Kein Wunder, dass er alltäglich die Flucht in die Redaktion antrat und die Nacht zum Tag machte.

Zwischen Weinbergen

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang erschien die liberal-konservative Tageszeitung unter Leitung eines Benedikt. Zunächst amtierte ab 1880 Vater Moritz Benedikt, der aus Mähren stammte und 1908 das führende Blatt der k.u.k. Reichshauptstadt als Alleineigentümer und Herausgeber übernahm. Ihm folgte 1920 der akademisch geschulte Sohn Ernst, ein kunstaffiner Geistesmensch, der bis 1935 durchhielt. In Summe also 55 Jahre Mediengeschichte, in einer Ära, in der die Donaumonarchie implodierte.

"55" war auch die Hausnummer in der Grinzinger Himmelstraße, wo die sechsköpfige Familie von Ernst Benedikt residierte. Drei Töchter wurden in den Kriegsjahren geboren, eine Nachzüglerin, Susanne, folgte 1923.

Wenn Benedikt aufstand, erwartete ihn seine Gattin Irma, geborene von Rosen, mit Vorwürfen. Dann wurde es laut im "riesigen Elternschlafzimmer" mitten in den Weinbergen. In den Augen der Gattin war der Zeitungschef ein Verschwender und lasterhafter Gourmand, der in kurzlebige Güter wie Hummer und Champagner investierte.

Zudem sammelte Benedikt Autographen, Original-Partituren und Selbstzeugnisse, unter anderem von US-Präsident Herbert Hoover. Nächtliche Improvisationen am Konzertflügel dienten der Entspannung. Oft gesellte sich die älteste Tochter Ilse zu ihm; im ersten Stock stand ein zweiter Flügel aus dem Haushalt der Großmutter, die im Diplomatenviertel auf der Wieden gewohnt hatte.

Die Benedikts verfügten früh über ein Telefon und ein Radio. Das messingfarbene Grammophon erzeugte hingegen "Katzenjammer", so Nesthäkchen Susanne. Einen ägyptischen Mumienkopf hatte Schwager Sir Alan Gardiner beigesteuert, der Kopf landete während des Stockholmer Exils im Nationalmuseum, schließlich zierte ein Bärenfell die imposante Bibliothek Benedikts. Diese hatte gepolsterte Doppeltüren, die "der Papa nicht zuknallen konnte".

Turbulentes Idyll

Ilse, Friedl, Gerdl und Susanne waren ein lustiges Quartett. Sie fühlten sich als Grinzingerinnen, erschienen aber doch anders als die Weinbauern und Heurigenbesucher von unten im Ort, wo man "Ottakringerisch" sprach.

Im Haus und im Rosengarten huschte Personal um die Schwestern, eine Schar an Haustieren ergänzte den Reigen. Der Chauffeur, das Kinderfräulein Bambi, Gärtner Knott, die schottische Lehrerin, die Musikerin im Pelzmantel im ungeheizten oberen Klavier-Zimmer, die böhmische Köchin, die arme Mitschülerin, die zum Mittagessen beim Personal saß, sie alle bevölkerten ein gar nicht protzig wirkendes Haus, das heute noch still an seinem Fleck steht, auch wenn drei Neubau-Objekte näher heranrückten.

© Zsolnay

Die "Benediktinerinnen" waren stets in Bewegung, auf der Jagd nach Kleingeld, Belustigungen, kleinen Quälereien der Jüngsten, wie das "Friseurspiel". Die Briefsprache, in der Susanne schreibt, wirkt wienerisch-authentisch, mitunter infantil. Sie konnte aus Wut mit ihren Puppen "schmeißen", bekam "feste Watschen" verpasst, mehr als einmal auch "hutsch’ Dich!" von den "sekkanten" Älteren zu hören.

Grinzing repräsentierte aber auch Glück - ein Idyll, das jäh zusammenbrach, als die Benedikts flüchten mussten. Im Fall der Tochter Frieda, genannt Friedl, waren es Stationen in England und Stockholm, sie starb dann mit 36 in Paris, begleitet von der jüngsten Schwester. Unter dem Pseudonym "Anna Sebastian" veröffentlichte Frieda drei Romane, darunter "Monster", der als einziger auf Deutsch verfügbar ist. Denn Frau Anna Sebastian schrieb auf Englisch. In Schweden heiratete sie und hieß fortan Frieda Widholm, in Wien blieb sie die "Friedl"; sie ist am Grinzinger Friedhof 1953 beerdigt worden.

Apropos Grinzing: Strouhal erinnert daran, dass es neben dem ländlichen und dem nobel-urbanen auch ein proletarisches Grinzing in der Barackensiedlung An den langen Lüssen gab. Dorthin blickten die Benedikts aus ihrer Veranda samt Balkon herab. Mit Friedl Benedikt erlebte Elias Canetti das "Augenspiel", sie kehrte nach ihrer Scheidung wieder in die Villa zurück. Koinzidenz am Rande: Gegenüber von den "vier Schwestern" wohnten später drei noch berühmtere Schwestern, nämlich Christiane, Elisabeth (Orth) und Maresa Hörbiger.

In die Volksschule Mannagettagasse ging es steil bergab zu Fuß. Damit nicht genug, musste die arme Susanne am Nachmittag zwei-, dreimal, von den Älteren genötigt, ins "Dorf" hinabsteigen, um "Zünder, Zigaretten, Extrawurst" zu besorgen. Bergab ging das in guten fünfzehn Minuten, aber die Steigung Richtung "Bellevue" und "Am Himmel" (nomen est omen) kostete Schweiß und Anstrengung. So blieben die Töchter schlanker als der Vater, der oft prominente Gäste bei sich hatte, darunter Arthur Schnitzler und Josef Redlich.

Ein Kulturmensch

Aus Strouhals liebevoll zusammengestellten und kommentierten Texten kann man einiges für die Biografie des "Presse"-Chefs ableiten: Benedikt war kein Medienmogul, sondern ein wissenschaftlich interessierter Mann, der lieber historischen Studien nachging, in Kunstwerken und Piano-Aufzeichnungen schwelgte und der gerne nach produktiver Arbeit Ruhe genossen hätte.

Doch in einem Haushalt mit fünf Frauen hatte der Vater naturgemäß wenig zu sagen - und so beschränkte er sich darauf, seine kleinen Laster gegenüber Frau Irma, die sich einmal (am 23. März 1930) im Haus Schnitzler ausweinte, lautstark zu verteidigen und sich beim Kartenspiel oder Schach zu behaupten, wenn die Töchter ausnahmsweise einmal bei Streiten, Herumtollen oder Rangeln innehielten.

Ernst Strouhal

Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt

Zsolnay, Wien 2022, 416 Seiten, 28,80 Euro.