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Ein Veto mit Folgen

Von Michael Gehler

Reflexionen
Charles de Gaulle (l.) mit dem britischen Premier Harold Macmillan (am 25. November 1961).
© getty images / PNA Rota

Vor 60 Jahren sprach sich Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle gegen den EWG-Beitritt Großbritanniens aus.


Am 9. August 1961 geschah das, was ein einsamer europafreundlicher Beamter im Foreign Office nach Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 in weiser Voraussicht das zukünftige "Canossa" des Vereinigten Königreichs gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nannte: Der britische Beitrittsantrag wurde zum Bittgang nach Brüssel. Dem vorausgehenden schmerzlosen Selbstausschluss folgte ein schmerzhafter Fremdausschluss von der EWG.

Nach der Ablehnung einer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war Großbritannien zu EWG-Verhandlungen geladen. Es entsandte den Board-of-Trade-Beamten Russell Frederick Bretherton als Beobachter, der sich hobbymäßig gerne mit Insekten beschäftigte. Als alles auf einen umfassenden Markt und vergemeinschaftete Politik hinauslief, zog sich Bretherton weisungsgemäß zurück. Der Vorgang wurde in seiner historischen Bedeutung weder in London erkannt, noch löste er nur im Ansatz regierungsinterne Kontroversen aus. Noch vor Bildung des kerneuropäischen Marktes schlug Großbritannien am 17. Juli 1956 das Konzept einer großen Freihandelszone (FHZ) für ganz Westeuropa vor.

"Verstümmeltes Europa"

London wollte die wirtschaftlichen Vorteile haben, ohne supranationale Regeln zu übernehmen. Intern prophezeite Premier Harold Macmillan, dass sich eine in der FHZ eingerahmte EWG "wie ein Stück Zucker in einer Tasse Tee auflösen" werde. Unter Androhung des Truppenrückzugs vom Kontinent und Austritts aus der NATO versuchte er, Druck aufzubauen, um Einlenken zu erwirken. Die Achse Bonn-Paris blieb allerdings fest.

Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle lehnte die FHZ im November 1958 ab, was sein erstes Veto gegen Großbritannien und gleichzeitig eine Stärkungsinjektion für die ganz junge EWG war. Als Alternative hatte London vorsorglich mit den Nicht-EGKS-Staaten eine kleine Freihandelszone sondiert, die am 4. Jänner 1960 als EFTA begründet wurde, der auch Österreich angehörte.

Die EWG entwickelte sich indes zu einer Größe im Welthandel, was auf der Insel ein Umdenken bewirkte. Der inzwischen zum Befürworter Großbritanniens als EWG-Mitglied avancierte Inspirator der Montanunion, Jean Monnet, ließ seine Gewährsmänner in London wissen, sie würden sich der Illusion hingeben, "that you could maintain what you had, without change". Und: "If you will not change you will lose." Monnets Hartnäckigkeit und die ihm zuteilwerdende Unterstützung durch die US-Regierung ließen Macmillan Ende 1960 den Selbstausschluss von der global "stärksten wirtschaftlichen Gruppierung" als Schaden für sein Land erkennen.

Außenminister Selwyn Lloyd gab Anfang 1961 vor dem Europarat zu verstehen, dass die Distanzierung von EGKS und EWG "ein Fehler" gewesen sei, zumal ihr wirtschaftlicher Erfolg unübersehbar die britische Ökonomie in einer Strukturkrise und die einseitige Ausrichtung auf den abnehmenden Commonwealth-Handel evident war. Der EWG-Beitritt sollte zur Modernisierung der britischen Wirtschaft, Belebung ihrer Exporte und Absicherung der bröckelnden Weltmacht führen. Proeuropäische Motive spielten keine Rolle. Hinzu kam diplomatisch-politischer Druck aus Washington, das sich für die EFTA nicht erwärmte und eine EWG-Stärkung im Ost-West-Konflikt erhoffte. London glaubte sodann die Führungsrolle in der EWG zu übernehmen, ohne aber mit de Gaulle zu rechnen.

Nach der Machtübernahme de Gaulles 1958 sollte in seinen Augen Frankreich in der Außen- und Sicherheitspolitik selbstbestimmt agieren, einen von Europa unabhängigen Weltrang mit den USA und Großbritannien in einer Art "Dreier-Direktorium" einnehmen und diese durch eine Präsidialdemokratie im Inneren absichern. Die EWG war für ihn ein "verstümmeltes Europa". Er sah sie als Element der US-Hegemonie und Instrument amerikanischer Fremdbestimmung Europas.

Sorgte sich um den Zusammenhalt des Westens: John F. Kennedy.
© Cecil Stoughton, White House, Public domain, via Wikimedia Commons

In einer Denkschrift gegen Jahresende 1961 wurden seine Vorstellungen konkreter: Um einen westdeutsch-französischen Kern sollte eine Kooperation der EWG-Staaten organisiert, die NATO im Sinne ihrer Loslösung von den USA reformiert werden und regelmäßige europäische Regierungstreffen sollten stattfinden. Die von de Gaulle nach einem französischen Diplomaten so benannten "Fouchet-Pläne" waren nicht nur eine unverhüllte Absage an Supranationalität, sie ließen auch offen, ob das Vereinigte Königreich dazu gehörte, was die Benelux-Länder beunruhigte. Sie lehnten de Gaulles Idee eines europäischen "Regierungsrats" ab, den sie gemeinschaftlichen Institutionen untergeordnet sehen wollten. Er wiederum verspottete die Ideen zur Supranationalität Europas von Monnet, dem er "Volapük", eine Welthilfssprache als Version des Esperanto, zu lernen empfahl.

Gedemütigtes London

Am 10. Oktober 1961 begannen die EWG-Beitrittsverhandlungen mit den Briten. Unvereinbar schien die gemeinsame Agrarpolitik mit dem Sonderstatus des Commonwealth. De Gaulle ließ Macmillan im Dezember 1962 schließlich wissen, dass Großbritannien noch nicht "europareif" sei, worauf sich US-Präsident John F. Kennedy um den Zusammenhalt des Westens sorgte.

Am 14. Jänner 1963 folgte der Knall, der Schockwellen unter den Proeuropäern auslöste und London demütigte. In einer spektakulären Pressekonferenz forderte de Gaulle den Abbruch der Verhandlungen. Als Begründung führte er nicht ihren zähen Verlauf, sondern den sicherheitspolitischen Dissens im französisch-atlantischen Verhältnis an. Seine Andeutung einer britischen EWG-Assoziationsmöglichkeit konnte nicht über die Enttäuschung und Irritation hinwegtäuschen. Es ging de Gaulle in Wirklichkeit nicht um Wirtschaftsfragen, sondern um Atomwaffen und die Vormacht in Europa.

Nach seinem Machtantritt hatte er 1958 trilaterale Koordinationsgespräche zwischen Italien, Frankreich und der BRD beendet, die sich um Nuklearkooperation und den Bau einer europäischen Atombombe drehten. Der Stopp war ein Hinweis an Washington, dass Paris keine eigenständige Nuklearpolitik in Europa verfolgen, aber an einer britisch-amerikanischen Atomwaffen-Zusammenarbeit teilhaben wollte.

Die Vorleistung wurde jenseits des Atlantiks nicht anerkannt. De Gaulle warf daher Kennedy vor, in dieser Sache nur mit den Briten zu sprechen. Vom 18. bis 21. Dezember 1962 vereinbarten er und Macmillan in Nassau auf den Bahamas den Kauf von amerikanischen Polaris-Raketen zum Aufbau einer atomar angetriebenen britischen U-Boot-Flotte und multilateralen transatlantischen Atomstreitkraft als nukleares Abschreckungsinstrument im Kalten Krieg. Im Bedrohungsfall konnte London die seegestützten Atomraketen auch im Alleingang einsetzen.

Mit Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte de Gaulle bereits im August 1962 ein bilaterales Militärbündnis unter der Führung Frankreichs besprochen.
© Bundesarchiv, B 145 Bild-F078072-0004 / Katherine Young / CC BY-SA 3.0 DE, CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons

Obwohl diese Übereinkunft mit den britischen Verhandlungen in Brüssel nichts zu tun hatte, stellte de Gaulle einen Zusammenhang zwischen Atomrüstungs- und EWG-Beitrittspolitik her. Nassau bedeutete für ihn die Anerkennung Großbritanniens als Atommacht auf Augenhöhe mit den USA, die gleichzeitig Frankreich vorenthalten war. Er fühlte sich durch die Angloamerikaner betrogen und desavouiert und rächte sich auf seine Weise. Dabei überschätzte er deren special relationship, weil für die USA die BRD als zentraler Bündnispartner im Kalten Krieg am Kontinent wichtiger war. US-Vermittlungen zur Lockerung der französischen Blockadehaltung waren chancenlos. Bereits im August 1962 hatte de Gaulle mit Bundeskanzler Adenauer ein bilaterales Militärbündnis unter der Führung Frankreichs besprochen. Dieses sollte nach französischem Wunsch die USA bewegen, ihre Truppen aus Europa abzuziehen.

Der Kreml frohlockte über die Uneinigkeit der Europäer. Für Monnet war der EWG-Ausschluss der Briten neben dem persönlichen Verdruss ein schwerer Verlust für Europas Einigung und de Gaulle für ihn ein "Spalter des Westens", dessen Zusammenhalt damit gefährdet war. Bereits am 22. Jänner 1963 folgte der Élysée-Vertrag zwischen der BRD und Frankreich, ein europapolitisch ambivalentes, weil nicht gemeinschaftliches Dokument der Bilateralisierung. Einen schwierigen Partner wie Großbritannien fernzuhalten, konnte aber auch ein Vorteil für die sich erst konsolidierende EWG sein, aber de Gaulle ging es gar nicht darum. Mit seiner "Politik des leeren Stuhls" durch Boykott des Ministerrats in Brüssel 1965/66 zur Verhinderung der Einführung von Mehrheitsentscheidungen sollte er der EWG genug Probleme bereiten und sich durchsetzen.

Fremdeln mit Brüssel

Sein Ziel war die Aufrechterhaltung der Hegemonie Frankreichs am Kontinent. Der Abbruch der Verhandlungen mit den Briten erfolgte auch im Lichte innergemeinschaftlicher Verhandlungen über ein unbefristetes Finanzierungsübereinkommen über Eigenmittel mit der von Walter Hallstein geführten Kommission, die laut ihrem Vorschlag Hauptbestandteil der Einkünfte für die zukünftige Budgetierung der EWG sein sollten, aber mit Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten verbunden war. De Gaulles Veto war daher auch Teil einer Ausstiegsstrategie aus diesen Verhandlungen, die scheiterten.

In Betrachtung der gesamten britischen Europapolitik seit den 1950er Jahren war der britische Selbstausschluss stärker als der französische Fremdausschluss. In den seltensten Fällen gab es eine deutsch-französische Verschwörung gegen das Vereinigte Königreich, obwohl einem weiteren "Gang nach Canossa" nach Brüssel auch kein Erfolg beschieden war, als de Gaulle am 27. November 1967 wieder Einspruch erhob - es war das dritte Veto.

Als nach seinem Abgang 1969 der britische EG-Beitritt am 1. Jänner 1973 möglich wurde, erlebte die Welt eine Rezession, die keine Europa-Euphorie auf der Insel aufkommen ließ. Als late comer konnte sich Großbritannien nie als Gründungsmitglied fühlen. Es fremdelte mit Brüssel und stand einer ever closer union ablehnend gegenüber. Der zehnjährige Ausschluss tat weh. Ein noch schmerzvollerer Ausstieg sollte mit dem "Brexit" (2016-2021) folgen. Sowohl Frankreich als auch Großbritannien haben der europäischen Integration Schläge versetzt, von denen sich die EU bis heute nicht erholt hat.

Michael Gehler ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Hildesheim und der Andrássy Universität Budapest.