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Im Himmel wie auf Erden

Von Christian Pinter

Reflexionen
1822 schuf Bertel Thorvaldsen das Denkmal für Nikolaus Kopernikus in Warschau.
© Christian Pinter

Die kopernikanische Wende forderte das Denken in mehrfacher Hinsicht heraus.


Im Winter 2023 gibt es gleich drei runde Geburtstage, die mit der kopernikanischen Wende verwoben sind: Nikolaus Kopernikus wurde vor 550 Jahren in Thorn (heute polnisch Torun) geboren, Giordano Bruno vor 475 Jahren in Nola nahe Neapel - und Simon Marius vor 450 Jahren im mittelfränkischen Gunzenhausen.

Als Nikolaus Kopernikus am 19. Februar 1473 das Licht der Welt erblickt, gilt noch der naive Augenschein. Gestirne gehen im Osten auf und Stunden später im Westen unter. Also dreht sich vermeintlich der ganze Kosmos jeden Tag aufs Neue um die Erde herum - mit allen Sternen, der Sonne und den Planeten.

Die Erde selbst gilt damals noch nicht als Planet; sie ruht scheinbar völlig bewegungslos in der kosmischen Mitte. Claudius Ptolemäus hat dieses erdzentrierte Weltbild im 2. Jahrhundert mit besonderer Raffinesse beschrieben, ja geradezu "festgeschrieben". Allerdings liegt das ptolemäische Modell im 16. Jahrhundert schon irritierend daneben, wenn es den Termin eines Planetentreffens am Himmel vorhersagen soll.

Kopernikus will das Gebäude der Astronomie restaurieren, muss es letztlich aber neu errichten: Er stellt die vertraute Kosmologie 1543 auf den Kopf. Nicht mehr der Kosmos wirbelt tagtäglich um die Erde herum - die Erde rotiert selbst. Sie ist hier nicht mehr der Angelpunkt des Universums, sondern zieht im Jahreslauf um die Sonne. Die Erde wird selbst zu einem "wandernden Körper", zu einem Planeten.

Schwerelose Planeten

Die meisten Menschen des 16. Jahrhunderts halten davon nichts. Eine Bewegung der Erde sollte man doch spüren, werfen sie ein: Wolken blieben am Himmel zurück, und ein senkrecht hochgeschossener Pfeil fiele weit entfernt zu Boden. Zöge die Erde um die Sonne, stünde sie außerdem einmal den Winter- dann den Sommersternbildern näher: Stier oder Zwillinge, Skorpion oder Schütze müssten aus unserer Perspektive somit rhythmisch wachsen und schrumpfen - was niemand beobachtet hat. Außerdem: Wie sollte eine wandernde Erde den Mond im Schlepptau halten?

In Kopernikus' Todesjahr 1543 erschien sein Hauptwerk "De revolutionibus".
© Christian Pinter

Nach der alten Sichtweise versammeln sich die vier unvollkommenen Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft - etwas vereinfacht dargestellt - im Zentrum des Universums: Deshalb können sie hier, und nur hier, den Erdkörper formen. Die Geschwindigkeit herabfallender Körper hängt mutmaßlich nur von deren jeweiligem Gewicht ab. Die Schwere ist eine bloße Eigenschaft der Objekte; die Anziehungskraft existiert noch nicht.

Bestünden auch die Himmelskörper aus diesem Elementenquartett, fielen sie uns auf den Kopf. Daher sind sie, so die althergebrachte Überzeugung, aus einem anderen, exklusiven Stoff. Dieses fünfte Element (von dem sich unser Wort "Quintessenz" ableitet), besitzt keine Schwere. Es ist makellos und unvergänglich. Die daraus geformten Himmelskörper müssen somit völlig glatte Oberflächen besitzen und können sich ausschließlich auf idealen Kreisen bewegen. Augenscheinlich existiert eine Zweiteilung zwischen Erde und Himmel; hier unten gelten andere Gesetze wie dort oben.

Weil Kopernikus die Erde nun aus dem Zentrum kickt, versammelt sich seine irdische Materie fern der kosmischen Mitte. Teile, so der Astronom sinngemäß, hätten eben überall das eingepflanzte Bestreben, sich zu ihrer Ganzheit zusammenzufinden. Dieses Prinzip erkläre die Kugelgestalt der Erde ebenso wie jene des Mondes und der Sonne.

Vielen Gelehrten gilt das kopernikanische Modell anfangs nur als Rechenhilfe oder als gewagte, unbewiesene Hypothese. Daher stoßen sich zunächst nur wenige, wie zum Beispiel Martin Luther, an den Widersprüchen zum Wortlaut der Heiligen Schrift.

Auch der Protestant Tycho Brahe kann sich nicht vorstellen, wie Kopernikus diesen "schweren trägen Koloss" Erde in beständiger Fahrt um die Sonne halten wollte. Der Däne publiziert 1588 ein Kompromissmodell, das auch Widersprüche zur Heiligen Schrift vermeidet: Im tychonischen System wirbelt der Kosmos wie beim alten Ptolemäus weiterhin tagtäglich um die völlig ruhig gestellte Erde herum. Die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn umkreisen jetzt zwar die Sonne, doch die jagt mit ihrem planetaren Tross alle 24 Stunden um die zentrale Erde. Der deutsche Astronom Simon Marius entwickelt eine gleichartige Mischkosmologie.

Galileis Zeichnung der Mondoberfläche: Im engen Gesichtsfeld seines Fernrohrs sah er den vorgeblich glatten Trabanten "voller Höhlungen und Erhebungen".
© Christian Pinter

Galileo Galilei ignoriert solche Mischkulanzen und entscheidet sich für Kopernikus. Galileis Experimente zeigen: Denkt man sich den bremsenden Luftwiderstand weg, fallen alle Körper gleich schnell zu Boden - unabhängig von ihrem Gewicht. Im leeren Weltall fehlen Hemmnisse. Dort bräuchte es also keine Anschieber, um die Erde und die anderen Planeten in ständiger Bewegung zu halten.

1610 veröffentlicht Galilei seine ersten Fernrohrbeobachtungen. Darin beschreibt er den angeblich völlig glatten Erdmond als eine raue, unebene Welt - mit Bergen und Tälern wie auf der Erde. Johannes Fabricius entdeckt dunkle Gebilde auf der Sonne, die man maculae (lateinisch, Makel, Flecken) tauft. Sie verunstalteten das Antlitz der Sonne, wechseln Form und Zahl.

Systeme in Konkurrenz

Für Galilei sind sie das "Grabgeläut" für die alte, falsche Philosophie: Offensichtlich bestehen weder Mond noch Sonne aus dem idealen, unwandelbaren fünften Element. Sie ähneln vielmehr der Erde, die man folglich nicht mehr als die "schmutzige Kloake voll vom Bodensatz der Welt" betrachten müsse. Es sei somit erlaubt, die Erde mit den Himmelskörpern gleichzusetzen - so, wie dies Kopernikus tat.

Ganz kurz vor Marius entdeckt Galilei die hellen Jupitermonde. Sie umkreisen ihren Planeten und folgen ihm dabei auf seiner Bahn. Behält dieser Planet auf seiner Wanderschaft gleich vier Trabanten bei sich, muss man ein vergleichbares Kunststück auch der Erde zutrauen: Sie darf getrost um die Sonne laufen, ohne ihren Mond zu verlieren.

Außerdem erkennen Galilei sowie Marius die Lichtphasen der Venus im Teleskop. Im alten ptolemäischen System ist ein komplettes Phasenspiel ausgeschlossen, im kopernikanischen und tychonischen erklärbar. Ptolemäus ist damit aus dem Rennen, Tycho nicht. Marius setzt auf das falsche Pferd und beharrt auf seinem Mischsystem.

Simon Marius machte teils ähnliche Beobachtungen wie Galilei, interpretierte sie jedoch anders.
© Christian Pinter

Andere nehmen Galileis Feder zur Richtschnur. Obwohl er keinen eindeutigen Beweis für Kopernikus liefern kann, tritt der Italiener laut und kompromisslos auf. Er glaubt, die allseits bekannten Gezeiten des Meeres entstünden im Zusammenspiel von täglicher und jährlicher Erdbewegung: Ein Irrtum, der ihn sicher macht.

Das kopernikanische Modell fordert die Vorstellungskraft heraus, es verlangt nach einem Perspektivenwechsel. Der Erdenbürger darf seinen Augen nicht mehr trauen. Er muss sich im Geiste über die Erde erheben, um deren Bewegungen vom All aus zu betrachten. Deshalb würde Johannes Kepler seine Zeitgenossen am liebsten mit hinauf zum Mond nehmen. Er versucht dies in seinem Roman "Der Traum vom Mond", der allerdings erst posthum erscheint.

Beim alten Ptolemäus musste die Fixsternsphäre mit ihren gut tausend katalogisierten Sternen täglich um die Erde herumwirbeln. Sie konnte deshalb nicht allzu groß sein. Versetzt man hingegen die Erde selbst in tägliche Rotation, darf die Fixsternsphäre ruhen - und wachsen. Das muss sie bei den Kopernikanern auch ganz gewaltig. Nur so lassen sich die eingangs erwähnten, durch den Lauf der Erde bedingten Sternbildverzerrungen unter die Nachweisgrenze drücken.

Giordano Bruno löst die nun ferne, ruhende Fixsternsphäre einfach auf. Er denkt das neue Weltmodell in einer Radikalität weiter, vor der selbst Kopernikus erschrocken wäre. Der süditalienische Philosoph spricht 1584 (übrigens ein Vierteljahrhundert vor Erfindung des Fernrohrs) von einem unendlich weiten Kosmos mit einer unbegrenzten Zahl an Sternen. Bruno setzt seine Sterne in höchst unterschiedliche Distanzen von der Erde und entlarvt sie als Sonnen wie die unsrige.

Er stattet die fernen Sonnen sogar mit eigenen Planeten aus. Diese sollen teils der Erde ähneln und auch bewohnt sein. Da alle Himmelskörper rotieren, unterlägen deren Bewohner der gleichen Sinnestäuschung wie wir - und hielten sich ebenfalls für den Nabel des Universums. Manche der fremden Bewohner wären womöglich sogar besser als die Menschheit.

Was für eine unglaubliche Relativierung! Vor Kopernikus drehte sich buchstäblich alles um den Menschen. Dieser wusste sich an einem einzigartigen Ort, im Zentrum der göttlichen Aufmerksamkeit. Die ganze Schöpfung schien für ihn gemacht. 1917 wird Sigmund Freud das Entrücktwerden aus der kosmischen Mitte zur ersten von drei grundlegenden Kränkungen der Menschheit erklären (gefolgt von der Evolutionstheorie Charles Darwins und Freuds eigener Theorie des Unbewussten).

Hatte Kopernikus wenigstens noch unsere Sonne in der kosmischen Mitte gesehen, verweigert Bruno dem Menschen jedes Privileg. Er schleudert ihn an eine völlig x-beliebige Stelle seines grenzenlosen Universums, setzt ihn der Unendlichkeit aus. Selbst Johannes Kepler graut vor dieser Vorstellung.

Auf Ellipsenbahnen

Zehn Jahre nach Brunos Tod zeigen die Fernrohrbeobachtungen von Galilei und Marius: Es gibt da draußen jedenfalls sehr viel mehr Sterne, als Ptolemäus annahm. Galilei spricht 1610 von einer "unvorstellbaren", ja "ganz und gar unerforschlichen" Sternenzahl.

Altgriechischen Idealen verpflichtet, hat selbst Kopernikus die Planeten nur auf idealen Kreisen und mit konstantem Schritt dahinziehen lassen. Deshalb liefert sein neues Modell keine präziseren Vorhersagen als das alte, ptolemäische. Johannes Kepler ersetzt die kopernikanischen Bahnkreise im Jahr 1609 durch Ellipsen. Seine Planeten wechseln ihr Lauftempo in Abhängigkeit zur Sonnendistanz. Die keplerschen Gesetze gestatten schließlich eine beeindruckende Rechengenauigkeit. Das beschleunigt den Siegeszug der neuen Kosmologie.

1687 veröffentlicht Isaac Newton das Gravitationsgesetz: Es erklärt die Anziehungskraft der Erde ebenso wie die Bewegung der Planeten. Der vom Baum fallende Apfel unterliegt derselben Kraft wie der Erdmond. Die Naturgesetze gelten im Himmel wie auf Erden. Damit ist der große Paradigmenwandel abgeschlossen.

Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 über Astronomie im "extra" der "Wiener Zeitung". Im Internet: www.himmelszelt.at