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Die Verächter der Demokratie

Von Alfred Pfoser

Reflexionen

Von Schnitzler über Freud bis Musil: Österreichs Intellektuelle hatten Vorbehalte gegenüber Parteien und Parlamentarismus.


Pandemie, Klimawandel, Korruptionsvorwürfe, Ukraine-Krieg und zweistellige Inflation: Wie wirken sich all diese Krisen derzeit auf das Vertrauen in Österreichs Demokratie aus? Meinungsforscher Günther Ogris erhob im Vorjahr die Zufriedenheit mit dem politischen System und präsentierte relativ dramatische Ergebnisse: Das Vertrauen in Regierung und Parlament sank auf Werte weit unter 50 Prozent. Ein Viertel der Befragten wünschte sich gar dezidiert einen starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss.

Keine Bildungsfrage

Ein Blick zurück lehrt, wie schnell und gefährlich die politische Gemengelage sich entwickeln kann, wenn sich die parlamentarische Demokratie nicht als Erfolgsmodell erweist. Die gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung in der Ersten Republik nach 1918 kam und kam nicht, jeglicher Optimismus wurde durch Inflation, Permanenz der Wirtschaftskrisen und notorische soziale Not aufgezehrt.

Heute wird, mit dem Verweis auf die Zeit nach 1945, parlamentarische Demokratie als Garant für den Wohlstand der gesamten Bevölkerung gepriesen, in der Zwischenkriegszeit konnte das nicht gelten. Der zunehmende wirtschaftliche Abstieg der Mittelklasse unterminierte die Legitimität der Republik. Der Abstieg, und noch mehr die Abstiegsängste waren der Nährboden für radikale Lösungen.

Eine Rückschau räumt auch auf mit dem Vorurteil, dass die Liebe zur parlamentarischen Demokratie eine Bildungsfrage ist. Selbst bei denjenigen, von denen man annehmen sollte, dass sie damals besonders energische Verfechter des demokratischen Prozesses waren, traf man oft auf das Gegenteil: Die großen Geister waren alles andere als von der Überlegenheit des demokratischen Systems überzeugt. Auch wenn man sich hüten sollte zu generalisieren, so drängt sich angesichts der Fülle der Beispiele der Befund auf, dass es hierzulande eine lange Tradition gibt, in der liberale Schriftsteller und Intellektuelle das Parlament mit einer Portion Ekel und Verachtung bedachten.

Vor allem die Parteien waren ihnen suspekt. Ihr Innenleben, die Rekrutierung, die Wahlkämpfe, die Fehden, die taktischen Manöver, die populistischen Parolen, die Kompromisse, die Korruption, die Skandale, die Militärverbände, das Auseinanderklaffen von Rhetorik und realem Handeln, die "relative Moral" - all das wurde als Zumutung empfunden. Das Parlament als höchstes demokratisches Organ war schon in der Monarchie suspekt, nicht nur, weil Debatten dort dann und wann in Raufereien ausarteten. Dass dieses Parlament nun in der Republik das oberste Organ, "der neue Kaiser", sein sollte, ließ die Begeisterung für die Republik und das Allgemeine Wahlrecht von vornherein leiden.

Arthur Schnitzler, der (wie wir aus den Tagebüchern wissen) in der Ersten Republik meist sozialdemokratisch wählte und 1921 rund um die Aufführung des "Reigen" im Mittelpunkt eines großen politischen Skandals stand, hatte bereits in der Monarchie in zwei Schlüsselwerken das Feld der Politik untersucht und seinen Skeptizismus oder deutlicher gesagt: seine Verachtung für das demokratische Prozedere formuliert.

Spielmaterial Sprache

Arthur Schnitzler hielt nicht viel von demokratischen Verfahren.
© Ferdinand Schmutzer / Public domain / via Wikimedia Commons

Österreich sei, so heißt es in Schnitzlers Roman "Der Weg ins Freie" (1908), das "Land der sozialen Unaufrichtigkeiten". Parteien, erzählt uns der Schriftsteller Heinrich Bermann darin, seien Gebilde, "wo ein verwirrendes Ineinanderspiel von Tücke, Beschränktheit, Brutalität" herrsche. Kleine Anlässe, wie im "Professor Bernhardi" (1912), reichen aus, um eine Spirale der ideologischen Zuweisungen auszulösen und antisemitische Gruppenbildungen einzuleiten, die alle Grundsätze des Respekts, der fairen Behandlung und der Objektivität über den Haufen werfen. Sprache würde, so Schnitzler, als Spielmaterial missbraucht, Freundschaft und Anerkennung gerieten zur beliebig manövrierbaren Masse. Jede Entscheidung konnte bei Bedarf zur hochnotpeinlichen Staatsaffäre, im nächsten Moment wieder zur Bedeutungslosigkeit reduziert werden.

Für viele Beobachter des politischen Lebens in Österreich war es überraschend, dass sich im Jahr 1927, vor den dramatischen April-Wahlen, 39 Kapazitäten des kulturellen Lebens zu Wort meldeten. Unter ihnen: Sigmund Freud, Alfred Adler, Robert Musil, Hans Kelsen, Alfred Polgar, Felix Salten und Franz Werfel. Alle diese Persönlichkeiten bekundeten ihre Sympathie "für die große soziale und kulturelle Leistung der Gemeinde Wien". Sicherlich war dieses Wahlmanifest, wie Bruno Kreisky feststellte, "ein Beweis dafür, wie beträchtlich doch das Naheverhältnis der sozialdemokratischen Bewegung zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des österreichischen Geisteslebens war".

Sein konkreter politischer Stellenwert offenbart sich besonders deutlich, wenn man sich die Reaktion der verschiedenen politischen Gruppierungen in ihren Zeitungen vor Augen hält. Die "Neue Freie Presse" gab sich entsetzt und sprach von einem "Manifest des Irrtums". Die christlichsoziale "Reichspost" verstieg sich zu der Feststellung, dass sich "ein Fähnlein zum Teil sehr unbekannter und umso bereitwilligerer Namen", das sich als "geistiges Wien" ausgebe, zu einem Wahlaufruf vergattern ließ, und gab diesem den gleichen Stellenwert wie irgendeiner Sympathieerklärung sozialdemokratischer "Beislbesitzer". Der christlich-soziale Unterrichtsminister Schmitz vermisste "die Namen jener großen Gelehrten und Künstler, die vor allem das internationale Ansehen des österreichischen Geisteslebens begründet haben".

Keine Positionierung

"Der geistig wirkende Mensch steht über und zwischen den Klassen", hieß es in diesem Manifest. Österreichs renommierteste Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle wollten darauf hinweisen, dass sie sich nicht an eine bestimmte politische Partei gebunden fühlten. Ihr liberales Selbstverständnis - rationalistisch, kosmopolitisch, kritisch, innovativ, individualistisch - vertrug sich nicht mit klarer politischer Positionierung, sie verstanden sich als unabhängige Intellektuelle, die sich ausschließlich sich selbst und ihrem Denken verpflichtet fühlten und über dem Parteienstreit wähnten. Was allerdings nicht ausschloss, dass sich Berührungspunkte mit der sozialdemokratischen Bewegung ergaben und viele bei den Wahlen die SDAPÖ wählten.

Analog den politischen Machtverschiebungen und allgemeinen Trends in der intellektuellen Diskussion verabschiedete sich Ende der 1920er Jahre die liberale österreichische Schriftsteller-, Künstler- und Intellektuellenszene tendenziell nicht nur von der Sozialdemokratie, sondern auch von der parlamentarischen Demokratie. Was waren die Auslöser? Vielleicht der Justizpalastbrand des Jahres 1927? Die Nachrichten aus der Sowjetunion? Oder waren die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, der erfolgreiche Aufstieg des italienischen Faschismus und das deutsche Regieren mittels Notverordnungen die Treiber dieser Änderungen?

Das autoritäre Modell gewann jedenfalls in intellektuellen Kreisen an Ansehen, die Prozeduren des demokratischen Parlamentarismus galten zunehmend als ineffizient und unfähig, die enormen Probleme der Gegenwart zu bewältigen. Die politische Krise machte selbst liberale Schriftsteller anfällig dafür, autoritäre Lösungen hinzunehmen oder sich gar nach autoritären Lösungen umzusehen.

Die parlamentarische Demokratie musste sich Vorwürfe gefallen lassen, notwendige Anforderungen für krisengeschüttelte Zeiten nicht zu erbringen. Für Robert Musil erschöpfte sich Anfang der 1930er Jahre der Parlamentarismus in wechselnden Koalitionen und richtungslosem Durcheinander; der Verfasser des "Mann ohne Eigenschaften" war desillusioniert: "alles schal, leere Wiederholung aus Gelegenheit".

Sigmund Freud ging von der prinzipiellen Verfasstheit der Menschennatur aus: "Es ist ein Stück der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen, dass sie in Führer und in Abhängige zerfallen." Sein Vorschlag ging in Richtung "Diktatur der Vernunft": Einer "Oberschicht selbständig denkender, der Einschüchterung unzugänglicher, nach Wahrheit ringender Menschen" sollte "die Lenkung der unselbständigen Massen zufallen".

Felix Salten hielt es meist mit dem Opportunismus und wollte die Menschen nach den Februarkämpfen sagen gehört haben: "Partei, das ist die Unfähigkeit, eine rein menschliche Angelegenheit rein und menschlich zu betrachten." Auch bei Franz Werfel, dem Revolutionär von 1918/19, lag ein Fall von einer für Wien typischen gesellschaftlichen "Verhaberung" vor: Schuschnigg verstand es, die Kulturszene zu umgarnen und zu verpflichten. Schuschnigg war Werfel mehrmals persönlich in Notsituationen behilflich, was Abhängigkeiten und Nähe erzeugte.

Selbst Stefan Zweig, der 1934 nach einer Hausdurchsuchung in seiner Villa den Wohnsitz nach London verlegte, schloss sich diesem Trend an. Nach den Reichstagswahlen 1930, als die Nationalsozialisten und Kommunisten an Stimmen, besonders bei den jungen Wählern, stark hinzugewannen, meinte Zweig, dass das Votum "eine sehr berechtigte und sehr notwendige, eine vielleicht gefährliche, aber doch unaufhaltsame Explosion einer kollektiven Enttäuschung von Millionen über das Tempo der Politik" sei. Die Jugend habe "die Langsamkeit und Feigheit der Entscheidungen", die Zeit des "öden Deliberierens, Verzögerns und Verheuchelns" satt. "Mit den alten Methoden der Kommissionen und Ausschüsse und Delegationen und Bankette" die großen Probleme der Zeit anzugehen, habe wenige Fortschritte ergeben.

Klaus Mann erwiderte scharf auf Stefan Zweigs neu erwachte Liebe zur Radikalität: "Mir scheint, die Jüngeren finden, dass das Tempo der Älteren noch zu langsam zu einer Katastrophe führte. Sie wollen sie schneller haben, ihre geliebte Katastrophe und die ‚Materialschlacht‘, von der ihre Philosophen hysterisch schwärmen."

Gefälliges Mittelmaß

Die prekäre wirtschaftliche Situation war sicherlich ein Treiber. Die sozialen Verschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg bedrohten die Existenzsicherung der Schriftsteller, Schauspieler, Maler, Bildhauer, Musiker, Komponisten und Intellektuellen, deren traditionelle Einkünfte wegbrachen und die in großer Zahl zu Bettlern und Hungerleidern degradiert wurden. Mäzene, Förderer, bewährte Käufer- und Publikumsschichten fielen aus. Theater schlitterten in den Konkurs und sperrten zu.

Wenn einer wie Stefan Zweig es schaffte, ein großes Publikum anzusprechen und ein gewisses Vermögen zu erwerben, dann blühte aus guten Gründen der Neid der Kollegen und Kolleginnen, denen dies nicht gelang, dann entstanden schnell abschätzige Wertungen, dass billiger Massengeschmack bedient würde und bestenfalls Erfolgsromane vorlägen.

Es gab (und gibt) viele Unzulänglichkeiten des demokratischen Regierens. Robert Musil sah in ihm bloß das gefällige Mittelmaß gefördert, über das er nur spotten konnte. Als 1931 das Gerücht aufkam, dass das "vereinigte Philistertum Österreichs" Anton Wildgans zum Nobelpreisträger vorgeschlagen habe, löste dies bei ihm eine schwere Kränkung aus. Noch nachträglich begründete er seine Übersiedlung nach Berlin boshaft mit dem Argument, dass sich im Wien des Jahres 1931 Rot und Schwarz am Grab von Anton Wildgans einig gewesen seien, in ihm einen "großen österreichischen Dichter verloren zu haben". Musil resümierte sarkastisch: "Man muß sich namentlich vor der Verwechslung von Kultur mit Demokratie, Liberalismus, Parlamentarismus hüten."

Österreich steckte in einer einigermaßen komplizierten Situation, die singulär in Europa war: Zwei antidemokratische Blöcke griffen nach der totalen Macht. Die regierende christlichsoziale Partei, im Bunde mit den putschistischen Heimwehren, hielt wegen des drohenden Machtverlusts nach autoritären Lösungen Ausschau und manövrierte Österreich in ein halbfaschistisches Polizeiregime, das sich als "christlicher Ständestaat" ausgab.

Nach Hitlers Erfolgen sahen sich die heimischen Nationalsozialisten im politischen Aufwind, forderten Neuwahlen, zumindest Machtbeteiligung. Während die liberalen, oft jüdischen Intellektuellen das nationalsozialistische Treiben hüben und drüben und das energische Durchgreifen der Dollfuß-Regierung dagegen geradezu gebannt beobachteten, verfolgte die Regierung die Strategie, die NS-Gefahr zu nutzen, um die Demokratie zu zerstören, die Zensur einzuführen, Österreich in einen autoritären Staat zu verwandeln und die Existenz der größten Oppositionspartei sukzessive zu eliminieren. Der Regierung gelang es, die Notverordnungen als alternativlos zu klassifizieren und in ihrer politischen Dimension zu verharmlosen.

Die Kommunikationspolitik der Dollfuß-Regierung suggerierte den liberalen Meinungsführern erfolgreich, dass das allgemeine Wahlrecht und der Parlamentarismus ihren Beitrag geleistet hätten, den totalitären NS-Staat zu etablieren. Nur die Entschiedenheit einer autoritären Regierung könne die Nazis erfolgreich aufhalten. Nicht nur bei Karl Kraus, einst immerhin der "Schriftsteller der Republik", fiel diese Version auf fruchtbaren Boden. Kraus machte seine Liebe zu Dollfuß öffentlich und legitimierte die Zerstörung der Demokratie.

Er stimmte mit Dollfuß überein, "gegen die Auferstehung Wotans sei der Parlamentarismus unwirksam, gegen das Mysterium von Blut und Boden versage die Demokratie, und die Gnadenwahl von Gangstern sei durch das allgemeine Stimmrecht nicht zu verhindern". Kraus machte die Linke für das Misslingen des republikanischen Experiments verantwortlich.

Heile Welt von gestern

Die Dollfuß-Regierung nutzte gekonnt das breite Bedürfnis der Mittelschichten nach Nostalgie, in der die Monarchie als heile Welt von gestern erschien. Schriftsteller beschworen sie gerne, Joseph Roth am schönsten. Anton Kuh, in seiner politischen Einstellung ein linker Republikaner, konzedierte: "Das Zeitalter Franz Josefs war die Zeit der Nobelbureaukratie, das wahre Gegenteil einer Pöbeldiktatur, wie wir sie jetzt erleben".

Wo waren die intellektuellen Verteidiger der Demokratie? Sie traten höchst selten auf und hatten den Status von einsamen Warnern. Hans Kelsen, der "Architekt" der österreichischen Verfassung, der ebenfalls die "Kundgebung des geistigen Wien" unterzeichnet hatte, gehörte zu dieser Spezies. 1930 verließ der international angesehene Rechtsgelehrte die Universität Wien, um eine Professur an der Universität Köln anzutreten. Seine Übersiedlung geschah auch aus Frust über die politischen Verhältnisse in Österreich.

Kelsen wusste um "die dunkle Seite der Demokratie": Denn neben dem Potential zur aufklärerischen Herrschaft der Freien und Gleichen barg die Demokratie als Kehrseite die Möglichkeit von Demagogie, Populismus, Korruption und Tyrannei der Mehrheit. Der Aufstieg des Nationalsozialismus bot ihm Anschauungsunterricht, wie das Allgemeine Wahlrecht für autoritäre, faschistische Parteien die Option bot, die Demokratie abzuschaffen, die Grundrechte außer Kraft zu setzen und eine Diktatur zu etablieren.

Voller Verzweiflung (und Weitsicht) warnte er die großen Geister, die nur mehr die Mängel der Demokratie sehen würden: "Die Intellektuellen, die heute gegen die Demokratie kämpfen und damit den Ast absägen, auf dem sie sitzen, sie werden die Diktatur, die sie rufen, wenn sie erst unter ihr leben müssen, verfluchen, und nichts mehr ersehnen als die Rückkehr zu der von ihnen so verlästerten Demokratie."

Alfred Pfoser ist Historiker und Autor, zahlreiche Veröffentlichungen zur österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte.