Ende März wurde im Haus von Michael Dóczy, dem Botschafter der Europäischen Union in La Paz, ein Held gefeiert, der in der Geschichte Boliviens lange Zeit als Bösewicht galt: Mauricio Hochschild (1881-1965) hatte in der NS-Zeit, als fast alle anderen Staaten ihre Grenzen schlossen, bis zu 22.000 Jüdinnen und Juden, vor allem aus Deutschland und auch aus Österreich, in dem südamerikanischen Andenland Zuflucht verschafft.

Im Publikum saßen an diesem Abend Nachkommen der Überlebenden, als zwei bolivianische Autoren das Ergebnis ihrer jahrelangen Recherchen über den "Schindler Boliviens" präsentierten. Mit diesem Etikett hatte man Hochschild 2017 versehen, als dessen Rettungsmission in Ansätzen bekannt wurde. Ähnlich wie der mit den Nazis kooperierende Unternehmer Oskar Schindler, der in seinen Fabriken etwa 1.200 jüdische Zwangsarbeiter rettete, hatte auch der jüdische Magnat Hochschild einen zweifelhaften Ruf. Als einer von drei "Zinnbaronen" Boliviens, auf Kosten mies bezahlter indigener Minenarbeiter steinreich geworden, galt er selbst Verwandten und Mitarbeitern als hart und distanziert. Wie er sich zum Retter wandelte, der den Präsidenten Boliviens auf seine Seite zog, beschreibt ein auf Spanisch verfasstes Buch über die "Flucht in die Anden", das Botschafter Dóczy in seinem Haus vorstellte.

Kino auf Fluchtschiff

Der österreichische Diplomat im Dienst der EU war schon 2021, bald nach seiner Ankunft in Bolivien, auf diese Geschichte gestoßen. Eine Zeitung berichtete über den nahen 90. Geburtstag des Kinobesitzers Guillermo Wiener, in dessen Filmpalast "Universo" ganz La Paz in den Sixties die großen Hollywoodschinken gesehen hatte. Erwähnt wurde auch, dass Wiener als Bub aus Österreich geflüchtet war. Dóczy lernte Wiener noch kennen, der Besuchern gern erzählte, dass er sich schon als Kind namens Willi auf dem Fluchtschiff ins Bordkino der ersten Klasse schlich. Als Kinobesitzer wohlhabend geworden, reiste er später nach London und Paris, aber nie mehr nach Wien.

Zeitungsartikel über Kinobesitzer Guillermo Wiener. 
- © privat

Zeitungsartikel über Kinobesitzer Guillermo Wiener.

- © privat

Dóczys Nachbarin entpuppte sich ebenfalls als Nachfahrin eines Geretteten: Heinz Gehler, Besitzer einer Apotheke in der Wiener Innenstadt, hatte eines der Visa nach Bolivien erhalten. Bei Reisen durch das Land traf der Diplomat Dóczy immer wieder auf Geschichten der Ex-Österreicher.

Hochschild kam ursprünglich aus Deutschland. Die seit Generationen im hessischen Biblis ansässige Familie war im Bergbau aktiv. Mauricio, damals noch Moritz genannt, studierte an der renommierten Bergakademie Freiberg bei Dresden. Nach Einsätzen in Spanien und Australien ging er 1911 nach Südamerika, zunächst nach Chile und Peru. Der Durchbruch als Unternehmer gelang ihm aber in Bolivien, wo der Silberboom gerade zu Ende gegangen war.

Bis dahin kaum beachtete Minerale wie Blei, Zink und vor allem Zinn traten in den Vordergrund. Zinn, davor für Spielzeugsoldaten, Orgelpfeifen und dann für Konservendosen verwendet, war zum wertvollen Rohstoff für die Auto-, Luftfahrt- und Rüstungsindustrie geworden. Hochschild kaufte die Produkte unabhängiger Minenbesitzer (mit oft elenden Arbeitsbedingungen) auf, übernahm ganze Bergwerke und wurde zu einem der reichsten Unternehmer Südamerikas. Er war ein großgewachsener Mann mit buschigen Augenbrauen, der als mächtiger "Don Mauricio" in den höchsten politischen Kreisen verkehrte.

Als nach Hitlers Machtübernahme 1933 in Deutschland der Druck auf die Juden stieg, holte Hochschild einige gefährdete Studienkollegen in seine Firma. Weitergehende Bitten um Unterstützung lehnte er ab. Sein Unternehmen sei "kein Hilfsverein" und das arme, unterentwickelte Bolivien böte Einwanderern aus Europa kaum Chancen. Ende der 1930er Jahre hatte bei "Don Mauricio" dann doch ein Umdenken begonnen. Nach dem Muster britischer "Kindertransporte" wollte er mit Mitteln von jüdischen US-Organisationen wie "Joint" die Reise junger Flüchtlinge ins besser entwickelte Argentinien organisieren.

1938, als sich die Judenverfolgung in Deutschland und dem angeschlossenen Österreich verschärfte, vollzog Hochschild die Kehrtwende dann ganz. Zu einem Zeitpunkt, als die USA und das damals britische Palästina die jüdische Zuwanderung stark limitierten und die meisten anderen Staaten der Welt, auch Südamerikas, ihre Grenzen schlossen, überzeugte er den Präsidenten Boliviens, seine zu öffnen.

Schmuck im Teddybär

Der um eine Generation jüngere Oberstleutnant Germán Busch, der sich im Jahr davon an die Macht geputscht hatte, betrachtete Hochschild zeitweise als väterlichen Freund. Sein eigener Vater war Deutscher, hatte die Familie aber bald verlassen. Busch träumte davon, Bolivien mit europäischen Kräften wirtschaftlich zu entwickeln, und bat sogar in Hitlers Berlin um Expertenrat. Aber er war kein Antisemit. "Busch war es egal, ob die neuen Siedler Juden oder Dänen, Kroaten oder Sizilianer waren", heißt es in einer Schlüsselstelle des Hochschild-Buchs. Wie für den durchschnittlichen Bolivianer waren das für ihn alles "weiße Europäer, Gringos".

Hochschild wandte einen Trick an und versprach, mit Hilfsgeldern Siedlungsprojekte zur Entwicklung der Landwirtschaft voranzutreiben. Die mit bolivianischen Visa aus Europa kommenden Flüchtlinge - darunter auch nichtjüdische verfolgte Linke - sollten Bauern werden.

Koffer von der Flucht, Bolivien 1939. 
- © privat

Koffer von der Flucht, Bolivien 1939.

- © privat

Das neue Fluchtziel sprach sich in Europa rasch herum. Auch der junge politische Häftling Bruno Kreisky überlegte, ehe er eine Einladung aus Schweden bekam, die Emigration nach Bolivien. Auf die lange Reise bis zum pazifischen Hafen Arica im Norden Chiles machten sich dann Tausende auf. Von dort ging es in tagelanger Bahnfahrt in schwindelerregender Höhe über die Anden nach La Paz auf 3.600 Metern über dem Meer.

Unter ihnen war der 22-jährige Wiener Physikstudent Fred Hendel, der beim Skiurlaub in der Schweiz die Chance zur Flucht genützt hatte. Der 16-jährige Egon Schwarz kam mit Vater und Mutter ebenfalls aus Wien, wo sie unter ärmlichen Verhältnissen gelebt hatten. Aus Berlin war mit den Drexlers eine Großfamilie aus 15 Personen dabei. Im Teddybären des vierjährigen Günther war der Familienschmuck versteckt.

In Ungnade gefallen

Nur wenige der Neuankömmlinge fuhren zu den ländlichen Siedlungsprojekten weiter, die Hochschild in einiger Entfernung von La Paz auf steilen Abhängen im subtropischen Klima einrichtete. Mangels Kenntnis und Infrastruktur brachte der Kaffee- und Getreideanbau kaum Resultate, zehntausende Dollars vom Joint wurden in den Sand gesetzt.

Hochschild steckte immer mehr eigenes Geld in die Flüchtlingshilfe, finanzierte in den Städten Spitäler und Kindergärten für die Zuwanderer. Diese versuchten recht und schlecht zu überleben, verkauften in den Straßen Speiseeis, Würstel oder Kuchen von Handkarren, machten erste Konditoreien, Putzereien und Werkstätten auf. Manche Einheimische reagierten auf die Konkurrenz am Arbeitsmarkt sauer, es geschahen antisemitische Zwischenfälle.

Jüdischer Kindergarten in La Paz, den Hochschild unterstützte. - © gemeinfrei
Jüdischer Kindergarten in La Paz, den Hochschild unterstützte. - © gemeinfrei

Dazu kam, dass Hochschild aus der Gnade des diktatorischen Präsidenten fiel. Um an die Devisenreserven der Firma zu kommen, verhängte Germán Busch sogar die Todesstrafe gegen ihn. Doch statt Hochschild umzubringen, erschoss sich der Präsident in einem Verzweiflungsakt wenig später selbst.

"Don Mauricio" erreichte unter den nachfolgenden Militärherrschern Boliviens nie wieder den einstigen Einfluss. Als verhasster Ausbeuter kam er 1944 wochenlang ins Gefängnis und wurde, kaum in Freiheit, von rebellierenden Soldaten für zwei Wochen gekidnappt. Hochschild verließ für immer das Land, das sein Unternehmen 1952 verstaatlichte. Als Entschädigung gab es nur einen Bruchteil des Schätzwerts, was mit hohen Steuerschulden des Unternehmers begründet wurde.

Hochschild, noch immer Miteigentümer an Minen anderer Länder, lebte danach in New York und Paris, wo er 1965 hochbetagt starb. Erst Jahre später kamen Dokumente über seinen Rettungseinsatz ans Licht. Ausgerechnet ein ihm an sich feindlich gesonnener Gewerkschaftler hatte sie beim Durchstöbern alter Akten in der nun staatlichen Bergbaugesellschaft gefunden.

Erster Skilift in Anden

Robert Brockmann und Raúl Peñaranda, die Autoren des neuen Hochschild-Buchs, wollten auch eine Gegenerzählung dazu bieten, dass Bolivien nach 1945 ein Zufluchtsort für Nazi-Kriegsverbrecher war. (Der Wiener Apotheker Gehler soll, wie seine Familie erzählt, einmal auf der Straße sogar Klaus Barbie, dem "Schlächter von Lyon", begegnet sein.)

Von den tausenden Menschen, die Hochschild rettete, sind nur wenige in Bolivien geblieben, die jüdische Gemeinde ist nun wieder sehr klein. Für viele wurde die Rettungsplattform aber zu einem Sprungbrett für ein erfolgreiches Leben. Der Wiener Fred Hendel schlug sich zunächst als Elektriker durch. Auf dem Berg Chacaltaya errichtete er auf 5.400 Metern den wohl ersten Skilift Südamerikas und beobachtete die dort starke Höhenstrahlung. Nach dem Krieg studierte er - unter anderem an der Pariser Sorbonne - Physik und wurde schließlich Professor an der US-University of Michigan (Spezialgebiet: Kosmische Strahlung).

Egon Schwarz musste in den Kriegsjahren als ungelernter Arbeiter, auch in Bergwerken, den Lebensunterhalt verdienen. 1949 kam er nach mehreren Zwischenstationen in die USA, wo er Germanistik und Romanistik studierte. Als Spezialist für deutschsprachige Literatur brachte er es zu Professuren in Harvard und anderen US-Universitäten.

Günther Drexler, der Bub mit dem Familienschmuck im Teddybären, übersiedelte mit der Familie nach Uruguay und studierte Medizin. 1964 wurde in Montevideo sein Sohn Jorge geboren, heute ein Weltstar der Latino-Musik. Für sein Titellied zum Film "Die Reise des jungen Che" gewann er 2005 einen Oscar. In der Nummer "Bolivia", die man auf YouTube nachhören kann, besingt Jorge Drexler in Erinnerung an seine Familiengeschichte das Jahr 1939, "als alle nein sagten - nur Bolivien sagte ja".