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Koalition der einstigen Gegner

Von Dieter Reinisch

Wissen
Das brennende Gerichtsgebäude ("Four Courts") während der Schlacht von Dublin, Juni 1922.
© National Library of Ireland on The Commons, gemeinfrei

Am 24. Mai 1923 endete der Bürgerkrieg in Irland. - Die Folgen wirken bis heute nach.


Der 26. Juni 2020 war ein historischer Tag in der politischen Geschichte der Republik Irland. Die Mitglieder der beiden konservativen, ehemaligen Großparteien Fine Gael (FG) und Fianna Fail (FF) stimmten auf Sonderparteitagen mit 76 bzw. 80 Prozent für eine große Koalition. Die beiden konservativen Parteien hatten Irland seit der Unabhängigkeit der südwestlichen 26 Grafschaften vom Vereinigten Königreich dominiert. Teilweise erhielten sie gemeinsam über 80, bei den Wahlen 2007 immer noch 69 Prozent.

Große Koalitionen waren im unabhängigen Irland nicht notwendig - bis 2020. Doch da war ihr Einfluss unter den Wählern schon so weit gesunken, dass sie die kleinen Grünen als Mehrheitsbeschaffer benötigten, um die ausreichende Zahl an Abgeordneten im Parlament Dáil Éireann in Dublin zu bekommen.

Die Zustimmung zu der Koalition zwischen FF und FG war aber alles andere als sicher. Denn die beiden Parteien entstanden aus den entgegengesetzten Fraktionen der Irischen Republikanischen Armee (IRA), die sich im Bürgerkrieg 1922/23 gegenüberstanden. 100 Jahre später prägt diese Spaltung der politischen Landschaft immer noch Familien und das politische Leben der Insel. Um 2020 die Wahlsiegerin, die republikanische Partei Sinn Féin (SF), den politischen Arm der im Nordirlandkonflikt von 1969 bis 1998 aktiven IRA, von der Macht fernzuhalten, sprangen die Parteibasen erstmals über ihren Schatten und gingen eine Koalition mit dem jeweiligen alten Gegner ein.

Jahrzehnt der Jahrestage

Das Ende des Bürgerkriegs markiert zugleich das Ende des von der Regierung ausgerufenen Jahrzehnts der Jahrestage (Decade of Centenaries). In den Jahren 1912 bis 1923 war Irland von militanten Klassenkämpfen, Generalstreiks, Anschlägen und Hungerstreiks von Suffragetten, der Gründung vieler der heute noch aktiven Guerillaorganisationen und Paramilitärs auf republikanischer und probritischer loyalistischer Seite, der Ausrufung der Republik während des antikolonialen Aufstands 1916, dem Erdrutschsieg von SF im Dezember 1918 und der Ausrufung eines revolutionären Parlaments im Jänner 1919, das zum Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs führte, geprägt. Und schließlich dem Friedensvertrag von Dezember 1921, der zur Teilung des Landes, der Etablierung Nordirlands und dem Bürgerkrieg 1922/23 führte.

Am 24. Mai 1923 ging dieser offiziell zu Ende. An dem Tag gab der Oberbefehlshaber der Fraktion, die das Friedensabkommen zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich am Ende des Unabhängigkeitskriegs ablehnte, folgenden Befehl aus: "Soldaten der Republik. Legion der Nachhut: Die Republik kann nicht mehr erfolgreich mit Ihren Waffen verteidigt werden. Weitere Opfer von Menschenleben wären nun vergeblich und die Fortsetzung des Kampfes mit Waffen wäre im nationalen Interesse unklug und würde der Zukunft unserer Sache abträglich sein. Der militärische Sieg muss vorerst auf denjenigen ruhen, die die Republik zerstört haben."

Die Fraktion von Éamon de Valera lehnte das Friedensabkommen ab, da Irland keine Republik, sondern ein Freistaat innerhalb des Commonwealth wurde und der industrielle, wohlhabende Nordosten der Insel - Belfast und das Hinterland - abgespalten wurde und Teil des Vereinigten Königreichs blieb.

Éamon de Valera, ca.1922-30
© National Photo Companyderivative work: Tebibyte, Public domain, via Wikimedia Commons

Éamon De Valera war einer der Anführer des Osteraufstands 1916, als in einem kläglich gescheiterten antikolonialen Aufstand die Republik ausgerufen wurde. Er entzog sich aber dem Todesurteil, das an den anderen Anführer vollzogen wurde, da er US-amerikanischer Staatsbürger war - inmitten des Ersten Weltkriegs wollte das Britische Empire die diplomatischen Beziehungen mit den USA nicht durch die Ermordung eines US-Bürgers aufs Spiel setzen.

Nach dem Bürgerkrieg gründete de Valera 1926/27 die Partei FF und gewann die Wahlen 1937. Während des Zweiten Weltkriegs und bis 1948 war er Taoiseach, Regierungschef. Ab 1959 wurde er für 14 Jahre Präsident Irlands.

Auch die zweite konservative, ehemalige Großpartei FG entstand direkt aus den Bürgerkriegsfraktionen. Sie vertritt jene Fraktion von Michael Collins, die den Friedensvertrag mit dem Vereinigten Königreich im Dezember 1921 aushandelte. Sie verteidige sich damit, dass die britische Regierung mit einer Wiederaufnahme des Kriegs und mit der vollständigen Vernichtung des Landes drohte - es also ein Diktatfrieden war. Ihre Gegner um de Valera warfen ihr vor, Irland nicht sofort zur Republik gemacht - erst 1948 wurden die 26 Grafschaften im Südwesten zur heutigen Republik - und die Insel geteilt zu haben.

FG entstand formell erst 1933 aus der Bürgerkriegspartei Cumann na nGaedhael und zwei kleineren Strömungen. Eine davon waren die faschistischen Blauhemden von Eoin O’Duffy, von denen sich während des Spanischen Bürgerkriegs viele den Reihen des faschistischen Generals Franco anschlossen.

FG und FF sind zwei Mitte-rechts-Parteien, deren politische Programme sich wenig unterscheiden. Familienbande und ihre Haltung im Bürgerkrieg entscheiden bis heute, für wen an der Wahlurne gestimmt wird. Politische Unterschiede sind nachrangig. In Irland werden beide Parteien bis heute als "Bürgerkriegsparteien" (civil war parties) bezeichnet.

Besetztes Gericht

Zur Beendigung des zweijährigen Unabhängigkeitskriegs wurde im Dezember 1921 ein Vertrag zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und den irischen Republikanern unterzeichnet. Die republikanische Bewegung um SF und die IRA waren über die Annahme des Friedensvertrags gespalten.

Unterschriftsseite des Anglo-Irischen Vertrags.
© gemeinfrei, via Wikimedia

Am 7. Jänner 1922 stimmten im Dáil Éireann 64 für und 57 Abgeordnete gegen die Annahme des britischen Diktatfriedens. Die republikanischen Kräfte besetzten daraufhin am 13. April 1922 das Gerichtsgebäude Four Courts. Doch unter Druck aus London und von der ehemaligen Kolonialmacht hochgerüstet, begann der Stabschef der antirepublikanischen Kräfte Eoin O’Duffy am 28. Juni mit der Bombardierung des Gebäudes. Damit trat die irische Revolution in ihre konterrevolutionäre Phase ein.

Die Vertragsunterstützer bildeten eine neue provisorische Regierung und bauten eine nationale Armee auf, während die Vertragsgegner sich in der IRA organisierten, die sich weiterhin loyal zur 1916 ausgerufenen Republik bekannte. Im März 1922 wurde Liam Lynch zu ihrem Oberbefehlshaber ernannt. Die militärischen Kräfte der nationalen Armee waren zunächst gering, doch nach der Besetzung des Gerichtsgebäudes in Dublin wurden die antirepublikanischen Kräfte durch britische Waffenlieferungen unterstützt.

Ambulanzwagen während der Kämpfe in Dublin, 1922.
© National Library of Ireland on The Commons, via Wikimedia Commons

Neben Gewehren und Artillerie wurde vor allem Munition geliefert. So drehte sich das Kräfteverhältnis rasch gegen die Republikaner, die ab dem 28. Juni 1922 bombardiert wurden. Ihren Stützpunkt in Dublin mussten sie bereits zwei Tage später aufgeben. Am 22. August wurde Michael Collins in einem Hinterhalt erschossen, Liam Lynch starb am 10. April.

Die provisorische Regierung ging brutal gegen die Republikaner vor. Ab November 1922 wurden Exekutionen durchgeführt. Rund 2.000 Personen starben während der zehnmonatigen Kämpfe. 77 Gefangene wurden exekutiert. Der Bürgerkrieg dauerte bis zum 24. Mai 1923, als de Valera die Erklärung an alle kämpfenden Republikaner abgab, "die Republik kann nicht länger erfolgreich verteidigt werden". Der Bürgerkrieg hatte ohne offizielle Erklärung begonnen und endete ohne Verhandlungen. In der Folge konsolidierte sich die Konterrevolution - eine Phase, die mit der Annahme einer neuen konservativen, erzkatholischen Verfassung 1936 ihren Abschluss fand.

Nach dem Sieg der Reaktion etablierten sich zwei getrennte Staaten auf der irischen Insel. Der neue im Südwesten aus 26 der 32 irischen Grafschaften entstandene Freistaat wurde spätestens ab den 1930er Jahren ein katholisches, konservatives Land. An die Stelle der ehemaligen britisch-protestantischen Oberschicht aus Großgrundbesitzern und presbyterianischem Bürgertum trat die mächtige katholische Kirche. Linke Republikaner, Gewerkschafter und Kommunisten wurden aus den ländlichen Gebieten vertrieben. Viele von ihnen wanderten in die USA oder nach Australien aus.

Der Nordosten blieb indessen eine britische Kolonie innerhalb des Vereinigten Königreichs. Um die Macht zu erhalten, etablierten die Briten ein Regime mit einer dominanten Unionistenpartei, die die katholische, proirische Bevölkerung systematisch unterdrückte. Um die im Norden in der Werft- und Leinenindustrie stärker vertretene Arbeiterklasse zu beschwichtigen, wurde die Stellung der protestantischen Arbeiter auf Kosten der katholischen Arbeiter verbessert: Protestantische Industriearbeiter erhielten höhere Löhne, und "gelbe" Gewerkschaften sorgten dafür, Katholiken von Industriearbeitsplätzen fernzuhalten. Diese mussten in Slums außerhalb der Innenstädte von Belfast und Derry hausen. Als die nördlichen Grafschaften 1921 zur Provinz Nordirland wurden, war diese einer der reichsten des Vereinigten Königreichs. Heute ist Nordirland indes eine der ärmsten Regionen Westeuropas.

Aufstieg von Sinn Féin

Die aktuelle große Koalition aus FF und FG dürfte eine einmalige Episode der politischen Geschichte Irlands sein. SF ist seit den Wahlen im Umfragehoch. Seit damals liegt sie durchgehend bei über 30 Prozent, so auch in einer Umfrage für die "Sunday Business Post" vom 30. April. FF und FG liegen mit über 10 Prozent Rückstand weit abgeschlagen. Selbst mit Hilfe der Grünen ist es unwahrscheinlich, dass sie die konservative Koalition fortsetzen können. An einem SF-Wahlsieg wird beim nächsten Urnengang wohl nichts vorbeiführen.

Der elektorale SF-Aufstieg hängt mit dem verfehlten Verständnis der Regierung, die Decade of Centenaries zu begehen, zusammen: Im Jänner 2020, einen Monat vor der Wahl, hatte der FG-Regierungschef Leo Varadkar angekündigt, eine Gedenkveranstaltung für die im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Mitglieder der britischen Kolonialpolizei Royal Irish Constabulary (RIC) zu organisieren.

Die RIC war ab ihrer Gründung 1822 für viele Kolonialverbrechen verantwortlich. Varadkar und FG fegte ein Schwall der Empörung entgegen. Der Gemeinderat von Dublin stimmt dafür, die Veranstaltung zu boykottieren. Die Regierung musste ihre Pläne verwerfen, doch die Umfragewerte von FG fielen in den Keller. Von da an befand sich SF in Aufholjagd und gewann die Wahlen im Februar.

Dieter Reinisch ist Historiker und Autor. Er forscht und schreibt zu irischer und britischer Geschichte und Politik in Belfast und Wien. Zuletzt erschien von ihm "Learning behind bars: How IRA prisoners shaped the peace process in Ireland" (University of Toronto Press, 2022).

Siehe auch seinen Artikel zum "Bloody Sunday" und über den Nordirlandkonflikt.