Eine schwedische Schulklasse, 1920 oder 21: Meine Mutter sitzt hinten links mit erstauntem Blick und einer großen Schleife im Haar. - © Foto: Privat
Eine schwedische Schulklasse, 1920 oder 21: Meine Mutter sitzt hinten links mit erstauntem Blick und einer großen Schleife im Haar. - © Foto: Privat

Es will mir fast unglaublich erscheinen. Knapp 20 Jahre habe ich in Wien gelebt - also gut, es waren nur 19 -, und jeden Sommer bin ich zum Schwedenplatz hinunter gedüst, um dort ein Stanitzerl Mango-Eis zu erwerben. Aber kein einziges Mal bin ich dabei auf die Idee gekommen, den Schwedenplatz irgendwie mit meiner Mutter in Verbindung zu bringen. Seit einigen Wochen weiß ich, dass es anders ist. Und ich besitze Fotos, die es beweisen. Sie zeigen meine Mutter beim Schwimmen in Schweden. Genauer: am Wasser, kurz vor dem Schwimmen. Die Fotos sind 90 Jahre alt, und was mich persönlich dabei umhaut, ist, dass ich sie zeitlebens noch nicht gesehen habe. Ich bin mittlerweile 63, und sehe diese Fotos zum ersten Mal!

Aber, um zu erklären, was es damit auf sich hat, muss ich Sie bitten, mit mir in die mittlere Tiefe der österreichischen Geschichte einzutauchen. Der Erste Weltkrieg, 1914-18, die absolute Katastrophe. Österreich und Deutschland liegen zerstört am Boden. Und nicht nur sie - die ganze Welt hat massiv gelitten. Dann, in den Zwanzigerjahren, die große Pleite. Das Geld stirbt. Verbreitete Hungersnot. Wiener Bürger reißen berittene Polizisten vom Pferd, schlachten das Tier auf der Straße, rennen mit dem blutigen Fleisch nach Hause zu den Kochtöpfen.

Bereits 1919 hat Schweden, das vom Krieg relativ verschont geblieben ist, Österreich angeboten, man möge doch die Kinder nach Schweden schicken. Sie sollen den Sommer bei kinderreichen Familien auf dem Land verbringen. Gut essen, Sonnenschein genießen, gesund werden. Dieser schwedischen Kinderhilfe zum Gedenken ist der Schwedenplatz eben so benannt worden.

Ein Kinderleben


Meine Mutter, geboren im dritten Wiener Gemeindebezirk, Klimschgasse, ist Jahrgang 1910. Als die schwedische Kinderhilfe beginnt, ist sie knapp neun Jahre alt. Das erste Foto von ihr aus Schweden zeigt sie als kleines Mädchen, sie ist neun oder zehn. Ich weiß es nicht genau, denn meine Mutter hat nie etwas über ihre Zeit in Schweden erzählt. Oder über ihre Zeit in Wien, oder über ihre Zeit in der Türkei. Über ihr gesamtes Leben. Ich kenne Dutzende von Episoden aus dem Leben meines Vaters, über meine Mutter weiß ich so gut wie nichts.

Aber zufällig sieht sie auf diesen Kinderfotos meiner älteren Tochter - ihrer Enkelin, die sie nie kennen gelernt hat - recht ähnlich. Ich rekonstruiere anhand der Kindheit meines Kindes die Kindheit meiner Mutter. Die nächsten Fotos zeigen dieses Kind (meine spätere Mutter) im Alter von 11, 12, 13, 14 - wir sprechen also von den Jahren 1921 bis 1924.

Die schwedische Familie, vielleicht eine Bauernfamilie, scheint wohlhabend gewesen zu sein. Sie besitzt ein großes Auto, möglicherweise auch einen Chauffeur, und zu Beginn zwei Töchter, dann ein Baby; dann ist das Baby größer, und es ist ein weiteres dazugekommen.

Dann plötzlich, meine Mutter ist schon ein Teenie geworden, und die Kinder sind nicht mehr am See, sondern es liegt überall Schnee, und alle tragen große Fellmützen. Man hat Rodelschlitten einer merkwürdigen Bauart: Einer sitzt vorne auf dem Stuhl, einer steht hinten und schiebt.

Jahrelang ist also meine Mutter von Wien bis nach Irgendwo in Schweden mit der Bahn gereist, Sommer und Winter, laut Google Map sind das rund 2000 Kilometer. Ich denke, das wird eine urlange Bahnfahrt gewesen sein, vom Westbahnhof bis etwa Stockholm. Vielleicht sind die Kinder im Kontingent gefahren, und wurden dann in Schweden abgeholt und aufgeteilt.

Meine Mutter ist offenbar auch in Schweden zur Schule gegangen, denn ich besitze jetzt ein Foto, circa aus dem Jahr 1921, das sie in einer Schulklasse zeigt, als eine von 23 hübschen kleinen Mädchen, frech, selbstbewusst, und man erkennt: Schon damals hielten diese Kinder hinter ihren Mitschülerinnen für die Kamera verstohlen die Finger zu Hasenohren hoch. Meine Mutter trägt eine Schleife am Kopf, wie Daisy Duck, das war wohl damals Mode. Dahinter stehen drei Lehrerinnen, die irgendwie aussehen, als wären sie miteinander verwandt.

Zufälle des Lebens


Als ich 1988 nach Wien kam, als Sohn einer Wienerin, die nie ein Wort über Wien verloren hatte, hatte ich mehr als 20 Jahre lang bereits mit großer Leidenschaft Wiener Literatur in mich aufgesogen. Trotzdem war meine Ankunft in Wien vom Zufall diktiert, und auch die Geburt meiner Wiener Tochter direkt neben der Klimschgasse, keine 100 Meter entfernt von der Wohnung, in der meine Großmutter ihr ganzes Leben verbracht hatte, war Zufall. Sofern man an Zufälle glauben möchte.

Aber lassen Sie mich hier einen Sprung machen. Da stehen wir nun mit einer Gruppe von jungen Frauen am Wasser. Ich vermute, dass dieses Foto ebenfalls in Schweden aufgenommen worden ist, vor allem, weil die Mädels auch einen etwas älteren "Anstandswauwau" dabei haben. Andererseits könnte das Bild auch an der Donau aufgenommen worden sein. Aber ich weiß, dass diese Mädels einige der Mit-Maturantinnen meiner Mutter von der BEA sind, um 1928.

Ich weiß es, weil ich vor 20 Jahren zufällig ein paar Fotos in die Hände bekam, von einem Klassentreffen aus dem Jahr 64 oder 65. Diese Frauen, alle Mitte 50, sitzen in einem undefinierbaren Café oder Restaurant in Wien, und betrachten gemeinsam ein Buch der Bestseller-Autorin Joy Adamson, das in mehrfacher Ausgabe auf den Tischen liegt: "Frei geboren. Eine Löwin in zwei Welten" Und noch einen weiteren Band über die Löwin Elsa, der damals gerade verfilmt worden war, hat Adamson geschrieben. Als ich, Anfang der Neunzigerjahre, der Geschichte nachging, erfuhr ich, dass Joy Adamson, als sie noch Fifi Gessner hieß, eine Mitschülerin dieser Frauen gewesen war. Sie wird ihnen wohl die Belegexemplare geschickt haben. Persönlich war sie bei dem Klassentreffen allerdings nicht anwesend.