Ich traf dann eine dieser Damen, damals schon über 80, in Wien, und sie gab mir ein Foto aus ihrer Schulzeit, aufgenommen 1925. Fifi Gessner fehlte darauf, sie hatte die Schule bereits verlassen. Aber es war für mich etwas irritierend, meine eigene Tochter mit langen Zöpfen als Fünfzehnjährige in einer Wiener Schulklasse der Zwanzigerjahre zu sehen.
Unmöglich, denn ich wusste, dass sie 1975 in Auckland in Neuseeland geboren wurde. Aber es war ja gar nicht meine Tochter, es war meine Mutter. Von diesem Foto ausgehend - einem Foto, das ich zuvor auch nie gesehen hatte -, konnte ich nun ihre Mit-Maturandinnen auf dem schwedischen Bade-Bild wieder erkennen. Hier fehlt meine Mama. Sie stand wohl hinter der Kamera.
Jedenfalls spannt sich so ein Bogen über die gesamten Zwanzigerjahre, über viele Sommer und Winter, in denen meine Mutter nach Schweden fuhr, und wohl auch etliche ihrer Freundinnen dorthin mitgenommen hat. Als sie 1929 in Wien zu studieren begann, besaß sie bereits ein Übersetzer-Diplom für Schwedisch. Sie hätte, 1935, nach ihrem Studium, wieder nach Schweden gehen können, und hätte den "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland, und den ganzen Zweiten Weltkrieg relativ ungeschoren überleben können, und ich wäre heute ein Schwede. Stattdessen ging sie nach England, dann in die Türkei, schüttelte angeblich sogar Atatürk noch die Hand, bevor der das Zeitliche segnete. Und sie erlebte offenbar genügend Traumatisches, um ihr gesamtes früheres Leben in einen Karton zu packen und wegzustecken.
Aber die schwedische Verbindung riss nie ganz ab. Als sie mit mir schwanger war (ich bin im März 1948 in Berlin geboren), schickten ihr die schwedischen "Verwandten" regelmäßig Postpakete mit Konserven, Milchpulver, Fleisch - alles Mögliche, was eine Schwangere brauchen könnte. Die Folge war, dass ich bei der Geburt ein Lebendgewicht von fünf Kilo auf die Waage brachte. Die Leute im Krankenhaus, so wurde mir später des Öfteren berichtet, hätten gestaunt. "Das ist kein Baby, das ist ein Mastkalb!" soll einer der Ärzte ausgerufen haben. Offenbar hatte es in Berlin in den ganzen Vierzigerjahren kein solch fettes Baby gegeben wie mich.
Ich verbrachte meine Kindheit in Teheran, aber als Dreizehnjähriger war ich wieder in Deutschland. Mein Vater gab eine arabische Zeitschrift in Bonn heraus. Und ich war bei den Pfadfindern. 1961 war ich eben 13, und eigentlich zu jung für eine große Fahrt. Aber der oberste Pfadfinder, dessen Namen ich sicher damals schon nicht kannte - er wurde "Buddha" gerufen, obschon schlank und rank -, hatte eine Braut in Schweden, die er abholen wollte. Er brauchte also Geld, das heißt, es mussten möglichst viele Pfadfinder mitfahren. So saß auch ich in einem von zwei VW-Käfern, die von Bonn bis nach Siljansnäs am Siljansee fuhren.
Vereintes Schweigen
Es wäre eine wunderbare Gelegenheit gewesen, dass mir meine Mutter irgendetwas über Schweden erzählt hätte. Aber nein. Ich fuhr nach Schweden, ich war der einzige Pfadfinder, der Englisch sprechen konnte, und deshalb musste ich die ganze Anmache für meine älteren Mit-Pfadfinder besorgen, die sich dort an die Schweden-Mädchen heranmachen wollten. Und dann fuhren wir wieder zurück, diesmal noch beengter, weil Buddhas Braut mit dabei war. Es war September gewesen, und bereits recht kalt und regnerisch. Im Siljansee mochte ich ungern schwimmen, und das kleine Städtchen Siljansnäs sah ich auch nicht, weil die übrigen Pfadfinder mich zum Bewachen ihres Zeltes zurück ließen.
Wieder zu Hause, fragte meine Mutter nichts, und ich erzählte ihr auch nichts. Im Folgejahr fuhr sie nach Schweden, heute vermute ich, zu einem Begräbnis. Dann kam sie zurück - und erzählte wieder nichts. Sie brachte eine Schallplatte mit, auf der ein älterer schwedischer Volkssänger traurige Lieder von sich gab. Sie hörte sich die Platte nicht an. Ich hörte sie öfter.
Nun bekam ich diese Bilder zugeschickt, die ungefähr seit 1920 auf irgendwelchen Dachböden verräumt gewesen sind. Ich habe sie zu Lebzeiten meiner Mutter nie gesehen. Ich habe das Gefühl, als wäre mir mit Absicht etwas vorenthalten worden, als wäre ich ein persönlicher Feind gewesen. Aber da steigen wohl kindliche Gefühle auf, so wie Scheidungskinder sich selber die Schuld an der Scheidung der Eltern geben. Dabei waren es wohl nur die katastrophalen Zeitumstände, die so zerstörerisch auf die Seele dieser Frau gewirkt haben.
Aber historisch sind die Bilder einzigartig, denn sie geben einen Eindruck davon, wie die schwedische Kinderhilfe ausgesehen hat, nach der dann der Schwedenplatz benannt worden ist.
Tom Appleton, geboren 1948, Journalist und Schriftsteller. Nach Jahren in Berlin, Teheran, Bonn, Wellington und Wien lebt er jetzt in Neuseeland.