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Ein Stilkünstler auf der Suche

Von Arthur Fürnhammer

Wissen
Die Staatsoper, van der Nülls verkanntes Hauptwerk.
© Foto: Arthur Fürnhammer

Ein Platz in der Ruhmeshalle der österreichischen Architektur ist Eduard van der Nüll seit dem Bau der Staatsoper gewiss. Doch der Ruhm kam zu spät für den oft als schwermütig bezeichneten Architekten, der sich das Leben genommen hat, und zwar vermutlich wegen der Kritik am Opernbau. "Königgrätz der Baukunst", "versunkene Kiste", "Bahnhof" waren nur einige der wenig schmeichelhaften Vergleiche, mit denen das erste Haus am Ring bedacht wurde.

Doch das Lebenswerk van der Nülls steht für mehr als den Bau der Oper. Es dokumentiert den Mut zur Innovation in einer reaktionären Zeit, die Überzeugung von der Notwendigkeit eines neuen Baustils und das bedingungslose Streben danach. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde van der Nüll daher von Wurm-Arnkreuz, einem seiner Schüler, als "Schöpfer der modernen Architektur" gepriesen. Heute ist die Bedeutung van der Nülls für die Entwicklung der österreichischen Architektur unbestritten.

Eine Würdigung seines architektonischen Erbes schließt aber unausweichlich auch eine solche seines Partners August Sicard von Sicardsburg mit ein. Die "Dioskuren der österreichischen Architektur", deren Arbeitsgemeinschaft von Studienzeiten über die ersten öffentlichen Aufträge bis hin zum Opernbau reichte, waren bei all ihren Projekten in stets gleicher Weise beteiligt: Der um zwei Jahre jüngere Sicardsburg übernahm den architektonischen Teil, van der Nüll hatte den künstlerischen Teil mit der Ausschmückung und Innendekoration inne.

Solide Ausbildung

Eduard van der Nüll kam als jüngstes von vier Kindern in Wien zur Welt und wurde am 9. Jänner 1812 in der Augustinerkirche getauft. Als er drei Jahre alt war, ließ sich sein Vater, ein Getreidegroßhändler aus Köln, von seiner um 30 Jahre jüngeren Frau scheiden. Mit 12 Jahren trat Eduard in der Akademie der vereinigten bildenden Künste in die "Schule der historischen Zeichnungsgründe" ein, dann ins k.k. polytechnische Institut, wo er alle mit dem Bauwesen in Zusammenhang stehenden Kurse absolvierte und wo es vermutlich zur ersten Begegnung mit Sicardsburg kam. Dann diente er als Praktikant bei der galizischen Landesbaudirek-tion in Lemberg und absolvierte dort seine praktische und technische Dienstprüfung.

Mit 21 Jahren kam van der Nüll für das dreijährige Architekturstudium zurück an die Akademie in Wien. Am Ende des Studiums gewannen er und Sicardsburg den renommierten Hofpreis in Gold. Außerdem erhielten beide ein dreijähriges Reisestipendium, das sie zuerst nach Italien, später auch nach Frankreich, England und Deutschland brachte.

Zurück in Wien, wurde der Umbau des Sofienbades zu einer ihrer ersten Arbeiten. Das 1838 von Franz Morawetz eröffnete russische Dampfbad bauten die beiden zur Schwimmhalle aus, die im Winter für Ballveranstaltungen genutzt werden konnte. Die Überspannung des großen Schwimmbassins und Ballsaals - 1847 fand in den "Sofiensälen" der erste Ball statt - mit Eisenkonstruktion und Oberlichten wurde dabei zu einer aufsehenerregenden Neuerung. Die Zweitfunktion als Ballsaal war außerdem ein Konzept, das den jungen Architekten später bei der Oper erneut begegnen sollte.

Eduard van der Nüll, porträtiert von seinem Zeitgenossen Josef Kriehuber.
© Foto: Geymeyer/ Wikipedia

Etwa gleichzeitig mit dem Umbau des Carltheaters, ihrer ersten bedeutenden Architekturschöpfung, wurden erst Sicardsburg, dann van der Nüll als ordentliche Professoren an die Akademie berufen. Damit begann eine zwanzig Jahre währende Lehrtätigkeit, in der die beiden eine Reihe bedeutender Architekten - Ferstel, Hasenauer, Wagner, um nur die bedeutendsten zu nennen - ausbildeten. Van der Nüll hatte neben der Professur für Architektur auch den Lehrstuhl für Ornamentik und Perspektive inne, der eigens für ihn geschaffen wurde.

Als van der Nüll 1847 seine ordentliche Professur antrat, waren "sowohl die Baukunst als auch das Kunstgewerbe auf einen Tiefpunkt herabgesunken. Die akademische Richtung ging immer mehr in einen offiziellen Hofbauratstil über, der jede freie Fantasie tötete und unter dessen Herrschaft die Baukunst förmlich zur Mumie erstarrte" (Wurm-Arnkreuz). Diesen Verfechtern des Stildenkens, die eine Wiederaufnahme und Weiterentwicklung der historischen Baustile propagierten, standen van der Nüll und Sicardsburg als Vertreter des Stilpluralismus gegenüber. Sie waren überzeugt von der Notwendigkeit einer modernen Formensprache in der Architektur, die unmöglich allein in der Wiederholung alter Stilformen gefunden werden konnte, sondern nur in der Synthese derselben. Auch wenn sich diese Synthese in der Stilrichtung des "Romantischen Historismus", als deren Hauptrepräsentanten van der Nüll und Sicardsburg gelten, wiederfindet, so behauptete doch zu Lebzeiten keiner der beiden, diesen neuen Stil schon gefunden zu haben. Die Bedeutung der Dioskuren liegt daher auch in der direkten und indirekten Prägung nachfolgender Generationen in Richtung Moderne.

Aufbruchstimmung

Das Revolutionsjahr 1848 brachte auch Änderungen in der Architektur. Van der Nüll und Sicardsburg nutzten die Aufbruchstimmung und schlossen sich dem Architekten- und Ingenieursverein an, dessen erste Tat der Sturm gegen die amtliche Bevormundung durch den Hofbaurat war. Stein des Anstoßes war der Bau der Altlerchenfelderkirche, für den sie die Ausschreibung eines Wettbewerbs verlangten. Der Forderung wurde schließlich auch von höchster Stelle nachgegeben, gemeinsam mit der Zusicherung, dass für alle größeren Staatsbauten in Hinkunft das Wettbewerbssystem eingehalten werde. Van der Nüll erhielt später den Auftrag zur Dekoration und Gestaltung des Kircheninnenraums.

Eine direkte Folge des Revolutionsjahres 1848 war auch der Bau des Arsenals, das als Befestigung gegen innere Feinde diente. Aber auch in seiner Form, weil als Resultat der soeben errungenen künstlerischen Freiheit nicht unbekannte Militäringenieure, sondern zivile Architekten die Pläne dafür liefern sollten. Einer davon, jener für die Umfassungsanlage und das Kommandanturgebäude, stammte von van der Nüll und Sicardsburg. Heute gilt das Arsenal als beherrschendes Monument der Wiener Spielart des romantischen Historismus.

1857 ordnete Kaiser Franz-Joseph im berühmten Handschreiben an seinen Innenminister den Abriss der Basteien, die Verschönerung der Hauptstadt und die Verbindung Wiens mit seinen Vorstädten an. Im daraufhin ausgeschriebenen Wettbewerb wurden von über 500 Entwürfen drei, darunter jener van der Nülls und Sicardsburgs, prämiert und zur Grundlage für den Bau der Ringstraße.

Ein Beweggrund für die Schleifung der Basteien war die Oper selbst: Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Rufe nach einem größeren und moderneren Opernhaus als Ersatz für das Hoftheater am Kärntertor immer lauter geworden. Hinzu kam, dass die im Zuge der aufkommenden Gasbeleuchtung entstandenen sicherheitstechnischen Vorgaben ein frei stehendes Gebäude verlangten, wofür innerhalb der Basteien der Platz fehlte. Die Oper wurde daher auch zum ersten profanen Monumentalbau der neuen Prachtstraße - nur die Votivkirche wurde noch vor der Ringstraße geplant.

Die Bauarbeiten, die 1861 begannen, standen von Beginn an unter keinem guten Stern. Immer wieder gab es massive Verzögerungen, allein die Fundierung auf unsicherem Grund dauerte über ein Jahr. Dazu kamen ungeheure organisatorische Schwierigkeiten, die auf das Baukomitee durch die Ausführung dieses ersten Großbaus zukamen, und die Schwerfälligkeit, mit der der Beamtenapparat solchen Problemen gegenüberstand. Mit den staatlichen Behörden und dem Operndirektorium hatten die Architekten noch dazu zwei Auftraggeber mit teils widersprüchlichen Vorstellungen. Von beiden Seiten wurde der Bau außerdem noch dadurch verschleppt, dass sich der erste Operndirektor, Franz von Dingelstedt, in der Endphase der Bauarbeiten eine Direktorenwohnung im Opernhaus in den Kopf setzte und zur gleichen Zeit von kaiserlicher Seite der Einbau einer Inkognitologe gefordert wurde.

Nicht vorhersehbar war auch, dass sich der Wiener "Ziegelbaron" Heinrich Drasche direkt gegenüber der Oper von Theophil Hansen ein Zinshaus von gewaltigen Ausmaßen errichten ließ. Der nach ihm benannte Heinrichshof - im Zweiten Weltkrieg zerstört und durch den vergleichsweise unansehnlichen Opernringhof ersetzt - war der erste "Zinspalast" seiner Art und sollte die Oper in seinen Dimensionen eindeutig überragen. Das Opernhaus war den Wienern daraufhin nicht monumental genug. Emil Perrin, der Direktor der Pariser Oper, schrieb später sogar: "Ein Fremder, auf die Straße zwischen beiden Bauten gestellt, würde schwanken, ob er die Oper zur Rechten oder zur Linken hat."

Dazu kam die Stilkritik. Von ihrer Grundausrichtung war die Oper ein Bau der Neorenaissance. Der für die Stilrichtung des Romantischen Historismus typische Einsatz von Elementen verschiedener Baustile brachte den Architekten jedoch den Vorwurf der Rückständigkeit ein. Ein viel zitierter Spottvers lautete damals: "Der Sicardsburg und Van der Nüll / Die suchen einen neuen Stil / Griechisch, gotisch, Renaissance / Das is den beiden alles ans."

Weiters wurde ihnen vorgeworfen, die Oper sei zu niedrig und würde "in der Erde versinken". Letzteres lag jedoch daran, dass das Straßenniveau erst nach Baubeginn um einen Meter gehoben wurde. Die allgemeine Empörung schlug bald in eine mediale Hetzkampagne um, selbst der Kaiser sparte nicht mit Kritik.

Das tragische Ende

Gegen Ende der Bauarbeiten wurden beide Architekten zusehends krank. Sicardsburg hatte Tuberkulose, van der Nüll litt an einem Augenleiden, an Migräne und möglicherweise an einem Aneurysma.

Als das "Hofoperntheater" am 25. Mai 1869 eröffnet wurde, waren die Reaktionen weiterhin gespalten, die prächtige Innengestaltung bekam jedoch allgemein großes Lob. Ein Triumph, den van der Nüll vermutlich nur allzu gerne ausgekostet hätte, der ihm jedoch versagt blieb. Er erhängte sich am 4. April 1868 in seiner Wohnung in der Schadekgasse 4. Der 57-Jährige hinterließ eine junge Frau, Maria Killer, die er erst ein Jahr zuvor geheiratet hatte und die nur ein Monat nach seinem Tod eine Tochter zur Welt brachte. Zehn Wochen nach dem Freitod van der Nülls erlag Sicardsburg seinem Lungenleiden.

Kaiser Franz-Joseph, vom Selbstmord van der Nülls tief erschüttert, unterließ es fortan, seine Meinung in künstlerischen Dingen öffentlich kundzutun, und äußerte sich stattdessen immer mit dem allseits bekannten Ausspruch: "Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut."

Arthur Fürnhammer, geboren 1972, lebt als freier Autor und Journalist in Wien, 2008 erschien im Iatros Verlag sein Buch "Unterwegs nach Albanien", 2011 ein Beitrag in der Anthologie "Unten", Holzbaum Verlag, Wien.