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Lübecker Totentanz

Von Ulrich Zander

Wissen
Entwickelte den BCG-Impfstoff: Albert Calmette (1863-1933).
© Foto: Archiv

Am 6. Februar 1932 ging der "Calmette- Prozess" zu Ende.|Bei größter Impfkatastrophe starben 77 Säuglinge.


Im Dezember des Jahres 1929 wurden drei Neugeborene in der Lübecker Kinderklinik gegen Tuberkulose geimpft. Professor Georg Deycke, der Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, hatte die Emulsion nach einem von den Franzosen Albert Calmette und Camille Guérin entwickelten Verfahren hergestellt.

Im Frühjahr 1930 erkrankte ein Säugling an Tuberkulose und starb. Daraufhin äußerte ein Arzt der Kinderklinik den Verdacht, der Todesfall "könne etwas mit der Impfung zu tun haben".

Deycke wiegelte ab - es handele sich vielmehr um eine äußerst seltene, bereits im Mutterleib erworbene Form der Tuberkulose. So wurde in Lübeck weiter Impfstoff "verfüttert", wie es in der Fachsprache der damaligen Zeit hieß.

Fatale Unterlassung

Am 26. April starb ein zweiter Säugling an der Schwindsucht. Die obduzierenden Ärzte erkannten nun recht wohl einen Zusammenhang mit der BCG (Bacillus Calmette-Guérin)-Schutzimpfung.

Die französischen Wissenschafter hatten 1906 den ersten messbaren Erfolg bei der Tuberkulose-Immunisierung erzielt. Ihr Verfahren wurde erstmals 1921 in Frankreich erfolgreich an Menschen angewandt, danach mehr als 150.000 Mal in verschiedenen europäischen Ländern, den Vereinigten Staaten und in Japan. Das 1890 vom Entdecker des Tuberkulosebazillus, Robert Koch (Nobelpreis 1905), entwickelte "Tuberkulin" hatte sich dagegen als unwirksam erwiesen.

Deycke setzte sich mit Obermedizinalrat Ernst Altstaedt, dem ärztlichen Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, in Verbindung. Auch Altstaedt war von der Unschädlichkeit des Impfstoffes überzeugt und ließ sich von Kollegen Deycke beruhigen: Es sei der seltene Fall eingetreten, wonach abgeschwächte Tuberkelbazillen unerwartet wieder aktiv geworden wären. Höhere Gewalt also. Im Übrigen, so Deycke, habe er die Verfütterung bereits einstellen lassen. Altstaedt unternahm nichts, um andere Impfstellen der Hansestadt zu warnen. Diese Unterlassung sollte fatale Folgen haben.

Am 14. Mai bekam die Berliner "Vossische Zeitung" Wind von der Sache: "Lübeck hat vor einigen Wochen als erstes deutsches Land das sogenannte Calmettesche Tuberkulose-Verfahren bei Kindern eingeführt. Dr. Calmette will damit die besten Erfahrungen erzielt haben. In Lübeck hat man jedoch die allerschlechtesten Erfahrungen gemacht. Von 246 Säuglingen, denen man die Rindertuberkelbazillenkuren im Essen eingab, sind acht gestorben und 23 schwer erkrankt. Sie zeigen die typischen Merkmale der schweren Tuberkulose-Erkrankung."

Nun griff eine massive Erregung um sich. Reichsinnenminister Wirth warnte alle Landesregierungen, das "Calmette-Verfahren" vor der völligen Aufklärung der Lübecker Tragödie anzuwenden. Während sich eine eilends eingesetzte Untersuchungskommission aus Berlin durch "das Dickicht von Vertuschen, Verschweigen und Geheimhalten" - so der Nebenkläger und Anwalt verzweifelter Eltern, Erich Frey - hindurch arbeitete, sah sich die Lübecker Staatsanwaltschaft von der empörten Öffentlichkeit dermaßen unter Druck gesetzt, dass sie Anklage "gegen Unbekannt" erhob.

Dabei standen zwei Fragen im Vordergrund: War es unter Professor Deyckes Verantwortung bei der BCG-Herstellung zu Verwechslungen oder Verunreinigungen mit anderen Bakterienkulturen gekommen? Oder war es möglich, dass die entgifteten Bazillen unter anderen als den Pariser Laborbedingungen wieder virulent werden konnten? In dem Fall wäre der Impfstoff bei weitem nicht so ungefährlich wie propagiert. Eine Annahme, die in nationalsozialistischen Zirkeln als "Mord an deutschen Kindern durch den Erbfeind Frankreich" lautstarke Anhänger fand. Eine dritte Möglichkeit basierte auf jener "höheren Gewalt", die Deycke für sich in Anspruch nahm. Diese These findet ihren Ausdruck in der noch heute üblichen Beschönigung vom "Lübecker Impfunglück".

Am 17. Mai 1930 waren bereits 50 Kinder erkrankt und zwölf gestorben; Mitte Juni stieg deren Zahl auf 39 - einen Monat darauf auf 57. Am Ende des "Lübecker Totentanzes" waren von 251 Geimpften 77 verstorben - davon 72 nachweislich an Tuberkulose. Die Kinder hatten im Durchschnitt 90 Tage gelebt.

Am 12. Oktober 1931 begann unter großem Interesse der Weltöffentlichkeit vor der II. Großen Strafkammer des Landgerichts Lübeck der Sensationsprozess gegen Deycke, Altstaedt, Professor Klotz, den Chefarzt der Kinderklinik, und Deyckes Laborschwester, Anna Schütze. Das Verfahren fand wegen des gewaltigen Andrangs in der Hauptturnhalle der Hansestadt statt.

Die Prozessführung erwies sich als schwierig, da Juristen über Sachverhalte entscheiden mussten, über die sich selbst die medizinischen Sachverständigen uneins waren. Der Präsident, Amtsgerichtsrat Wibel, sympathisierte mit den gesellschaftlich hochgestellten Angeklagten und monierte, dass "aus dem Prozess immer wieder ein Medizinerkongress zu werden drohe".

Die Anklage warf Dr. Altstaedt vor, er habe vor der Herstellung des Impfstoffes durch Deycke kein Expertengutachten eingeholt. Altstaedt verwies auf ein positives Gutachten der Hygienekommission des Völkerbundes. Auf den Vorwurf, er habe die Unbedenklichkeit des Impfstoffs "Made in Lübeck" nicht in Tierversuchen überprüft, antwortete Altstaedt, das sei Sache des "Herstellers", also Deyckes.

Der arbeitete an einem eigenen Verfahren zur Tuberkulose-Impfstoffherstellung und hatte den Rest seiner Tod bringenden Emulsion unmittelbar nach der Obduktion der ersten Kinderleiche wegkippen lassen. Und somit auch ein mögliches Hauptbeweismittel vernichtet.

Die Calmette-Impfung beruht auf der Verabreichung abgeschwächter Erreger der Rindertuberkulose. Auf diese Weise werden - ähnlich wie bei der Pockenschutzimpfung - körpereigene Abwehrstoffe gegen Tuberkulose gebildet. Im Jahre 1928 waren allein in Deutschland knapp 56.000 Menschen an Tbc gestorben.

Unhaltbare Zustände

Kommen statt der erprobten Kulturen virulente Erreger menschlicher Tuberkulose ins Spiel, besteht allerhöchste Gefahr. Und solche Erreger wurden im Labor des Professors nachgewiesen. Er hatte sie von einem Kieler Institut bezogen. Für die Wahrheitsfindung bekam dieser "Kieler Stamm", manche sprachen vom "Killer-Stamm", große Bedeutung.

Die Sachverständigenkommission fand bei der Überprüfung des Labors haarsträubende Zustände vor. In einem unbeschrifteten Glaskolben wurden Kiel-Kulturen entdeckt. Und in einem Brutschrank ungeschützte Calmette-Kulturen in unmittelbarer Nachbarschaft zum - ebenfalls offenen - Kieler Stamm. Darüber hinaus erwies sich ein von Georg Deycke als ungefährlich ausgegebener Stamm als hochvirulent.

Deycke musste zugeben, die Kulturen auf anderen Nährböden gezüchtet zu haben als von Calmette vorgeschrieben. Er erklärte sich mit der Doppelbelastung als Klinikdirektor und Laborchef überfordert und bedauerte "das Unglück", bestritt aber weiterhin die Verantwortung für die "Verunreinigungen".

Es stellte sich heraus, dass die aus den Leichnamen der Säuglinge gewonnenen Kulturen mit denen des Kieler Stammes aus dem Labor Deyckes nahezu identisch waren. Und damit war aus dem "Calmette-Prozess," wie er heute noch genannt wird, der "Deycke-Prozess" geworden.

Nachdem in der Öffentlichkeit Unmut über den nicht enden wollenden Prozess laut geworden war (und die Lübecker Turnerschaft vehement die zweckentfremdete Heimstatt zurückforderte), fiel am 6. Februar 1932 das Urteil: Georg Deycke wurde wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, Ernst Altstaedt wegen fahrlässiger Körperverletzung zu 15 Monaten Gefängnis (er kam nach sieben Monaten frei). Professor Klotz und Schwester Schütze wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Die Impfkatastrophe forderte noch zwei späte Opfer. Am 29. Oktober 1932 meldete die Lübecker Justizpresse: "Amtsgerichtsrat Wibel ist in der vergangenen Nacht freiwillig aus dem Leben geschieden". Der Berliner Staranwalt Frey schreibt in seinen Erinnerungen: "Was diesen scharfsinnigen, geduldigen Mann in den Tod getrieben hat, weiß niemand. Aber dies ist wahrscheinlich: Als er damals, vom Mitleid für die von ihm Verurteilten tief bewegt, den Gerichtssaal verlassen hatte, war er ein gebrochener Mann." Auch Professor Deycke hatte allen Lebensmut verloren. Er starb im Jahre 1938.

Die BCG-Impfung wurde nach dem Calmette-Skandal peu à peu rehabilitiert und in den 1950er Jahren weltweit als allgemeine Schutzimpfung eingeführt. Seit 1998 wird sie von der ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut nicht mehr empfohlen. BCG schützt nicht absolut sicher vor Tuberkulose, sondern nur vor einigen Tb-Komplikationen. Auch ist sie als "Lebendimpfung" mit Nebenwirkungen belastet. Seltene Impfkomplikationen können auftreten - und kamen in einigen Ländern bereits häufiger vor als die Tuberkulose selbst. Eine neuere Anwendung findet BCG bei der Behandlung bestimmter Formen von Blasenkrebs.

Ulrich Zander, geboren 1955, lebt als freier Journalist in Berlin und ist spezialisiert auf historische Themen.