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Wenn Forschung über Leichen geht

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Erforschung des Menschen anhand von Studienobjekten aus dunklen Quellen.


In Hamburg trägt eine Straße ihren Namen, in Dresden ist ein Platz nach ihr benannt, in Siebenlehn ein Kindergarten. Dazu kommen eine Algen-, eine Moos-, eine Wespen- und eine Sonnentau-Art. Vor der deutschen Sammlerin Amalie Dietrich liegt die Wissenschaft bis zum heutigen Tag auf den Knien. Sie sollte aufstehen. Denn neuen Erkenntnissen zufolge ist Amalie Dietrich möglicherweise eine Mörderin oder hat Morde in Auftrag gegeben. Mit ziemlicher Sicherheit ist sie eine Leichenfledderin und Grabräuberin. Exemplarisch ist die Geschichte der Amalie Dietrich jedoch vor allem für die Entwürdigung des Menschen im Namen von Wissenschaft und Forschung.

Amalie Dietrich kommt aus kleinen Verhältnissen. Am 26. Mai 1821 wird sie in Siebenlehn als Kind einer Heimarbeiterfamilie geboren. Sie heiratet den Apotheker Wilhelm Dietrich. Er macht sie mit den Grundbegriffen der Botanik vertraut, lehrt sie das Sammeln, Bestimmen und Präparieren von Pflanzen. Amalie bildet sich autodidaktisch fort, Lebensziel: Sammeln für die Wissenschaft.

Doch da gibt es ein Hindernis. Wilhelm Dietrich verlangt, Amalie möge sich weniger um ihre Sammlungen als um ihre 1848 geborene Tochter Charitas kümmern. Mutterpflichten oder Sammlerglück? Amalie Dietrich entscheidet sich - für das Sammeln. Sie trennt sich von ihrem Mann, behält jedoch das Kind, freilich nur, um es umgehend einer Pflegefamilie anzuvertrauen.

Mit einem Hundewagen zieht sie jetzt durch die Salzburger Alpen, wandert von Sachsen über Bremen nach Holland. Und sammelt und sammelt und sammelt.

Szenenwechsel, Hamburg: Der Reeder Johan Cesar VI. Godeffroy plant ein völker- und pflanzenkundliches Museum mit Schwerpunkt Australien und Südsee. Was die Exponate betrifft, sitzt Godeffroy an der Quelle: Schließlich braucht er nur seine Kapitäne zu beauftragen, von ihren Fahrten in die Regionen von Interesse zoologisches, botanisches und völkerkundliches Material mitzubringen. Ab 1860 sammeln Godeffroys Kapitäne Vögel inklusive ihren Nestern und Eiern, Muscheln, Schnecken und Käfer. Der Mensch wird anhand von Gebrauchsgegenständen und Gipsabgüssen von Skelettteilen dargestellt.

Aber Godeffroy ist mit seinen Kapitänen unzufrieden, es fehlt ihnen sowohl der naturwissenschaftliche Blick als auch das Gespür für das Besondere.

Sammeln für Godeffroy

Da hört Godeffroy von Amalie Dietrich. Ein anderer hielte die Sammlerin wahrscheinlich für verrückt. Godeffroy betrachtet sie hingegen als Triebfeder seines Museums. Er erteilt der Autodidaktin einen 10-jährigen Forschungsauftrag in Australien.

1863 landet Amalie Dietrich in Brisbane. So wie zuvor durch Mitteleuropa, so zieht sie nun durch Australien mit ihrem Hundewagen. Kiste um Kiste ihrer Präparate schickt sie nach Hamburg. Von 1866 an gibt das Godeffroy-Museum Kataloge der von Dietrich gesammelten Pflanzen heraus.

Doch dabei bleibt es nicht. Denn in einer seiner Schriften faselt Charles Darwin von den Aborigines als Urzeitmenschen, die bald aussterben würden. Damit werden die Aborigines für die Anthropologie interessant - nicht etwa als menschliche Wesen, sondern als Forschungsobjekte in Form von Skeletten und Schädeln.

Der deutsche Arzt Rudolf Virchow ist kein eingeschworener Darwinist, aber er glaubt so fest an die Wissenschaft als einzige Wahrheit, dass er humanistische Ideale aufgibt, stellen sie Barrieren auf dem Weg zur Erkenntnis dar. Godeffroy versichert sich der Mitarbeit ausgerechnet dieses Virchow. Dem Arzt nun genügen die Gipsabgüsse nicht, er verlangt nach echten Aborigines-Skeletten.

Somit erteilt Godeffroy seiner Sammlerin einen klaren Auftrag: Sie solle, schreibt er ihr am 20. Jänner 1865, "möglichst Skelette und Schädel von den Eingeborenen sowie auch deren Waffen und Geräte" senden. "Wir haben das gute Zutrauen zu Ihnen, dass Sie das alles machen werden."

Und Amalie Dietrich macht. Acht vollständige Skelette und zwei Schädel von Aborigines, nach anderen Quellen dreizehn Skelette, verschifft sie nach Deutschland. Virchow ist begeistert.

Es vergeht viel Zeit, bis in unsere Gegenwart braucht es, bis ein Wissenschafter, im konkreten Fall der deutsche Zoologe Matthias Glaubrecht, die peinliche Frage der Fragen stellt. Nämlich: Wie ist Amalie Dietrich an die Skelette und Schädel gekommen?

Soll man am Ende doch den Aborigines glauben, die Amalie Dietrich "Angel of Black Death" (Engel des Todes der Schwarzen) nennen und erzählen, sie habe Aborigines zwecks Knochenbeschaffung ermordet oder ermorden lassen?

Auch Bruce Archer Forster, Nachkomme der Gründerfamilie Archer, berichtet von einem Mordauftrag, den Amalie Dietrich an seinen Urgroßvater William Archer herangetragen haben soll. William Archer, der als einer der wenigen die Aborigines achtete, soll daraufhin Amalie Dietrich von seiner Farm gejagt haben. Die Geschichte ist eine Familienlegende. Historisch nachweisbar ist sie nicht. Aber Legenden ohne Ursache sind wie Rauch ohne Feuer.

Und da ist noch etwas: Amalie Dietrich schweigt so gründlich über die Beschaffung der Skelette, dass keiner ihrer Biografen auch nur den kleinsten Hinweis findet, wie sich die Sache denn zugetragen haben mag. Skelette findet man schließlich nicht auf Schritt und Tritt neben dem Trampelpfad. - Oder doch?

Die andere Frage ist nämlich, ob Amalie Dietrich es überhaupt notwendig hat, einen oder mehrere Morde in Auftrag zu geben. Und das ist das wahrlich Grauenerregende an der ganzen Affäre. Auf gewisse Weise hatte Darwin mit den aussterbenden Ureinwohnern nämlich durchaus recht - wenngleich auf völlig andere Weise: Die weißen Siedler knallen die Aborigines wie Jagdwild ab. Man kann sie nicht brauchen, nicht einmal als Arbeiter taugen sie. Also kann man sie ausrotten. Hunderte, tausende, zehntausende australische Ureinwohner werden von den eingewanderten Briten, die sich als Herrenmenschen gerieren, ermordet. Es gibt keine Strafen für das Töten von Aborigines. Ein staatlich sanktionierter Völkermord, der bis heute nicht offiziell als solcher anerkannt ist.

Leichen im Überfluss

Amalie Dietrich also hat wenig Probleme, an Leichen australischer Ureinwohner zu kommen. Und selbst, wenn diese Zeichen eines gewaltsamen Todes aufweisen, heißt das unter diesen Umständen nicht, dass Amalie Dietrich die Mörderin oder die Auftraggeberin der Morde war. Schließlich kann sie ja die Gräber Ermordeter geplündert haben.

Wenn man Amalie Dietrich auch keinen Mord nachweisen kann: Eine Leichenfledderin ist sie auf jeden Fall. Denn dass ihr die Aborigines freiwillig die Körper ihrer Toten übergeben, ist undenkbar. Die religiösen Systeme schließen das aus.

Hat die zur Grabräuberin gewordene Amalie Dietrich Bedenken? Wir wissen es nicht.
Godeffroys Auftrag nimmt ihr sowieso alle Verantwortung ab, sofern die besessene Sammlerin nicht von sich aus längst alle humanistischen Bedenken aufgegeben hat. Und Virchow kann die Skelette studieren, Schädel für Schädel, Knochen für Knochen.

Trotz aller Studien bleibt Virchows Sicht des Menschen eng begrenzt. Denn als man ihm Knochen jenes Urzeitmenschen vorlegt, der heute als Neandertaler bekannt ist, behauptet Virchow, es seien Überreste eines verkrüppelten und geistig zurückgebliebenen Homo sapiens. Seither haftet dem Neandertaler an, der Urzeit-Trottel gewesen zu sein.

1873 kehrt Amalie Dietrich nach Deutschland zurück. 1879 wird sie Kustodin im Botanischen Museum von Hamburg. Sie stirbt am 9. März 1891 in Rendsburg.

Zuvor, am 9. Februar 1885, ist Johan Cesar VI. Godeffroy gestorben - und sein Museum mit ihm. Die Bestände werden auf andere Museen aufgeteilt.

Viele der auch von anderen deutschen Museen unter zweifelhaften Umständen erworbenen Skelette werden im alliierten Bombenhagel vernichtet. Die heute noch vorhandenen werden geprüft und Vertretern der jeweiligen Ethnien übergegeben.

Vorbildlich hat das Naturhistorische Museum in Wien gehandelt, als es 2009 anstandslos die Gebeine australischer Ureinwohner zurückgab. Überhaupt kommt im Naturhistorischen Museum der Mensch zuerst. So wurden in einem anderen Fall erst unlängst, am 19. April, die Gebeine von Claas und Trooi Pienaar an Südafrika ausgehändigt.

Doch das ist ein Sonderfall. Speziell aber nicht allein britische Museen zieren sich mit dem Verweis auf Forschung immer noch bei der Rückgabe menschlicher Überreste. Dass ein Mensch mehr ist als ein erforschbarer Haufen Knochen ist ein Gedanke, der in unsere darwinistisch geprägte Zeit einfach nicht hineinzupassen scheint.