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Christus einte und trennte

Von Heiner Boberski

Wissen

Trotz des gleichen Glaubens gab es im Mittelalter in Europa ständig Konflikte.


Wien. "Gehet hin und lehret alle Völker", nicht "lehret alle Menschen", steht in der Bibel. Für den Wiener Mittelalter-Forscher Walter Pohl hat diese Formulierung dazu beigetragen, dass das Christentum trotz seines an sich universalen Charakters auch die Bildung ethnisch dominierter Staaten im Frühmittelalter legitimierte. An die Stelle eines auserwählten Volkes traten mehrere auserwählte Völker, die nicht nur Heiden und Andersgläubige, später vor allem den Islam, sondern einander auch gegenseitig bekriegten und dabei den gleichen Gott um Hilfe anriefen. Der Entwicklung der europäischen Nationen vor dem Hintergrund der Christianisierung des Kontinents ging dieser Tage die Tagung "Ethnicity and Christian discourse in the Early Middle Ages" nach.

In den drei Kronen des schwedischen Staatswappens (hier eine Variante davon) leben neben dem schwedischen die Reiche der Goten und Vandalen weiter.
© wikimedia commons/Ssolbergj

Für Gastgeber Pohl, Leiter des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und des europäischen Forschungsprojekts Scire (Social Cohesion, Identity and Religion in Europe, 400-1200), das mit einem Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) in der Höhe von zwei Millionen Euro dotiert ist, liegt die Relevanz des Themas auf der Hand: "In den letzten 100, 200 Jahren gab es in nationalen Fragen eine kurzschlüssige Aneignung der Vergangenheit. Die Wissenschaft ist gefordert, Grundlagen zu liefern, wie Identitäten funktionieren, wie sie entstanden sind und sich entwickelt haben. Da ist das Frühmittelalter eine vernachlässigte Zeit."

Mit der Christianisierung Europas traten europäische Völker wie die Franken oder Angelsachsen auf, die sich zu modernen Gesellschaften entwickelt haben. Aber auch untergegangene Völker wie Burgunder, Langobarden, Vandalen oder Goten haben ihre Spuren hinterlassen, erklärt Pohl. Auf Goten und Vandalen beziehen sich etwa zwei der drei Kronen der schwedischen Könige, erklärt Pohl, "man hat sich immer wieder noble Vergangenheiten angeeignet". Die Könige des Mittelalters und teilweise der Neuzeit Könige bedienten sich einer doppelten Legitimation, einerseits ethnisch, etwa als König von England, und anderseits religiös, als Herrscher "von Gottes Gnaden".

Religion als Gewaltquelle

Vor dem Christentum hatte jedes Volk seine eigenen Götter, für Pohl ist interessant, wie das universal ausgerichtete Christentum mit diesem Konnex umgeht. Manches wurde rigoros bekämpft, manche Bräuche wurden christlich umgedeutet, es gebe "Synkretismen bis auf den heutigen Tag". Nach dem Zerfall des Römischen Reiches sei "ein Laboratorium der ethnischen Prozesse" zu beobachten, etwa wie die Franken "als kleine Minderheit über eine große Mehrheit einer vorwiegend gallo-römischen Bevölkerung herrschen und sich transformieren".

Wenn ein ÖAW-Workshop zum Thema "Apokalyptik und Prophetie im Mittelalter" diese Woche noch die Rolle von Dissidenten wie Jan Hus und die Reaktion der damaligen Machthaber beleuchtet, sieht Pohl auch hier starke Bezüge zur Gegenwart. Wie damals könnten stets neu religiöse Massenbewegungen, etwa in evangelikalen Kreisen der USA, militant werden. Sein Fazit: "Etwas, was man aus der Geschichte lernen kann, ist, dass alles, was das Potenzial hat, große Mengen von Menschen zu integrieren, auch das Potenzial zu Konflikten hat. Seit es das Christentum und den Islam gibt, hat es viel mehr Kriege um Religion gegeben. Wir müssen erkennen, dass dieselbe Dynamik sowohl Integration oder Konflikt auslösen kann."