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"Am einsamsten Platz der Welt"

Von Michael Ossenkopp

Wissen

Vor 60 Jahren, am 29. Mai 1953, bestiegen Edmund Hillary und Tenzing Norgay als erste Menschen den Mount Everest. Heute ist das "Dach der Welt" zu einem Abenteuerspielplatz für Pauschaltouristen verkommen.


"Auf der Schneefläche angekommen, gab es nichts als Luft - in jeder Richtung. Mit ungeheurer Befriedigung stellten wir fest, dass wir auf dem höchsten Punkt der Erde standen. Es war 11.30 Uhr am 29. Mai 1953." So beschrieb der Neuseeländer Edmund Hillary die Erstbesteigung des Mount Everest vor 60 Jahren.

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Edmund Hillary (links) und Tenzing Norgay kurz nach ihrem spektakulären "Gipfelsieg" 1953.
© Foto: wikimedia

Gemeinsam mit dem Sherpa Tenzing Norgay hatte er den internationalen Wettlauf um den höchsten Ort der Erde gewonnen. Der Mission war eine monatelange generalstabsmäßige Planung von Expeditionsleiter Oberst John Hunt vom britischen Himalaya-Komitee vorausgegangen. In Unterdruckkammern der Royal Air Force hatte er das Equipment ebenso getestet wie unter hochalpinen Bedingungen in der Schweiz.

Der Aufstieg durch das Hochland von Nepal beginnt im März 1953 mit 350 Trägern und 13 Tonnen Ausrüstung - u.a. 180 Sauerstoffzylinder, Kocher, Zelte sowie Metallleitern. Sherpas, die einheimischen Träger, schleppen das Material ins Basislager in 5400 Metern Höhe. Hunt teilt die Mannschaft in mehrere Zweierteams ein, um den Mythos von der Unbesteigbarkeit des höchsten Berges der Welt endlich zu widerlegen.

Imker aus Neuseeland

Unterhalb des Khumbu-Gletschers errichtet die Karawane am 17. April Zelte, einige Bergsteiger beginnen mit dem weiteren Aufstieg und bereiten zusätzliche Lager vor. Eines der Teams besteht aus Hillary und Norgay. Der 33-jährige Neuseeländer, von Beruf Imker, ist Bergsteiger aus Leidenschaft. Der 1,92-Meter-Hüne hat "Blut geleckt", als er 1951 erstmals im Himalaya war. Der gebürtige Nepalese Norgay kennt die Region wie kaum ein anderer und ist von dem unbändigen Willen beseelt, eines Tages auf dem Gipfel des Everest zu stehen.

Am 25. April wird der Khumbu-Eisbruch, eine rund 700 Meter hohe Wand aus Eistürmen, von einer 52 Mann starken Expedition in Angriff genommen. Oberhalb davon öffnet sich das fünf Kilometer lange, flache Gletscherfeld "Western Cwm", auch "Tal der Stille" genannt. Unter Lebensgefahr befördern vor allem Sherpas die Ausrüstung hinauf, mit jeweils 20 bis 30 Kilogramm auf dem Rücken. Die nur labil aufeinander geschichteten, gefrorenen Blöcke im Gletscher könnten die Kletterer jederzeit unter sich begraben. Aber niemand kennt das Gebirge so gut wie die einheimischen Helfer.

Im vorgeschobenen Lager 4 in 6400 Metern Höhe entscheidet Hunt am 7. Mai, dass Charles Evans und Tom Bourdillon vom Südsattel aus den Gipfel in Angriff nehmen. Sollten sie es nicht schaffen, würden Norgay und Hillary als zweites Gipfelteam aufbrechen. Eisige Windböen mit Temperaturen von bis zu minus 40 Grad pfeifen um die Felsen, in den kleinen Biwaks hoch über dem "Tal der Stille" ist es extrem unwirtlich. Norgay bezeichnete rückblickend ihr Lager in schwindelerregender Höhe zwischen Everest und Lhotse als den "kältesten und einsamsten Platz der Welt".

In Höhen oberhalb von 7500 Metern spricht man von der "Todeszone". Das heißt, selbst in Ruhepausen baut der Körper kontinuierlich ab und eine dauerhafte Regeneration findet nicht mehr statt. Mehr als zehn bis 15 Schritte ohne Rast sind unmöglich. Die Sauerstoffaufnahme beträgt im Vergleich zum Meeresniveau nur noch ein Drittel. Ein Aufstieg in diesen Regionen wird zur Tortur, die Sinne sind benebelt, klares Denken: Fehlanzeige. "Ich hatte das Gefühl, an meinem Gehirn sei ein Pressluftbohrer angesetzt", schilderte Hillary seine Empfindungen. Am 26. Mai haben Evans und Bourdillon noch 950 Meter vor sich. Tenzing und Hillary harren etwas tiefer aus.

Zweifel vor Anstieg

Am 26. Mai gegen 13 Uhr erreichen Evans und Bourdillon den Südgipfel des Mount Everest in 8751 Metern - so hoch, wie noch niemand zuvor gewesen war. Es sind lediglich noch 100 Höhenmeter bis ganz oben, 350 Meter Luftlinie, das Ziel liegt zum Greifen nahe. Doch Evans bekommt kaum noch Sauerstoff, weil ein Ventil versagt. Bourdillion will notfalls allein weiter, aber die fünf Stunden für Auf- und Abstieg kann er nicht schaffen. Mit letzter Kraft schleppen sich die beiden zurück.

Jetzt schlägt die Stunde von Hillary und Tenzing. Trotzdem überkommen sie Zweifel. "Was für einen Sinn hat das alles?", fragt sich Hillary, "unablässig fegte der Sturm von Westen kommend, heulend und kreischend über uns hinweg, mit solcher Gewalt, dass die Leinwand unseres Pyramidenzelts knatterte wie Gewehrsalven." Im höchstgelegenen Camp der Menschheit in 8500 Metern Höhe sorgen sich Hillary und Tenzing am 28. Mai um den Sauerstoffvorrat, für die Nacht bleiben nur drei statt der ursprünglich vorgesehenen vier Liter pro Minute.

Um vier Uhr morgens öffnet Hillary das Zelt: klarer Himmel, kein Wind, "nur" minus 27 Grad, ideales Wetter. Sie schnallen ihre Sauerstoffflaschen auf den Rücken, setzen ihre Gletscherbrillen auf - und um halb sieben stapfen sie los. Am Gipfelgrat ist der Schnee fest. Mit dem Eispickel schlagen sie Stufe um Stufe. Das einzige Hindernis, das sie noch aufhalten kann, ist eine senkrechte, zwölf Meter hohe und 70 Grad steile Felsstufe im Grat - die man später "Hillary-Step" nennt.

"Es schien ewig so weiterzugehen, und wir waren müde und bewegten uns schon langsamer. In der Ferne breitete sich die kahle Hochebene Tibets aus. Ich blickte nach rechts oben und sah eine schneeige Wölbung. Das musste der Gipfel sein", erinnerte sich Hillary später.

Sämtliche Anstrengung fällt von ihnen ab. "Als Erstes nahmen wir die Sauerstoffmasken ab. Ich wollte Tenzings Hand schütteln, um zu gratulieren. Das war ihm zu wenig. Er warf seine Arme um meine Schultern und umarmte mich", berichtete der Neuseeländer über den historischen Augenblick. Hillary zückt die Kamera und schießt Fotos. Auf dem Gipfel bleiben sie 15 Minuten. Acht Stunden später sind sie zurück auf dem Südsattel, wo die Expeditionskollegen erwartungsvoll ausgeharrt haben. Hillarys Kommentar: "Wir haben den Bastard letztlich doch bezwungen."

Die Nachricht vom Gipfelsieg wird bis zum 2. Juni, dem Krönungstag von Queen Elisabeth II., zurückgehalten. Die "Times" titelt: "Der krönende Triumph". Der Jubel in den Straßen Londons gilt nun nicht nur der neuen Queen, sondern auch den beiden Berghelden. Die Erstbesteigung des Mount Everest wird als Pionierleistung gefeiert, vergleichbar mit der Eroberung von Nord- und Südpol.

"Stirn des Himmels"

Bereits 1865 war der bis dahin nüchtern als "Peak XV" bezeichnete höchste Gipfel im Himalaya nach dem Vermessungsexperten George Everest umbenannt worden. Die Tibeter nennen ihn "Chomolungma" ("Muttergottheit der Erde"), in Nepal heißt er "Sagar-matha" ("Stirn des Himmels"). Für die Einheimischen ist er heilig. Nach einer Neuvermessung im Jahr 1999 wurde seine Höhe von 8848 Metern um zwei Meter nach oben korrigiert.

Seit 1921 waren rund ein Dutzend Expeditionen am Everest gescheitert, meist versuchten Briten, das "Dach der Welt" als Erste zu erobern. George Mallory und sein Begleiter Andrew Irvine waren bei ihrem Besteigungsversuch im Juni 1924 bis auf wenige hundert Meter unterhalb des Gipfels gelangt. Mallorys Leiche wurde 1999 gefunden, Irvines sterbliche Überreste gelten als verschollen. Die Antwort auf die Frage, ob sie möglicherweise schon 29 Jahre vor Hillary auf dem höchsten Berg der Welt standen, bleibt Spekulationen vorbehalten, denn ihre Fotoausrüstung wurde nie gefunden.

1975 bezwang als erste Frau die Japanerin Junko Tabei den Riesen, 1978 kletterten die Tiroler Alpinisten Reinhold Messner und Peter Habeler erstmals ohne Sauerstoffflaschen auf die Bergspitze (siehe Interview mit Peter Habeler). Zwei Jahre später gelang Messner vom Nordosten aus die erste Alleinbesteigung.

Heute gibt es am Everest insgesamt 20 Routen. Die beiden Standardwege sind die Nordroute von Tibet aus und die Südroute von Nepal. In den 1990er Jahren entwickelte sich eine Art Massentourismus, befeuert durch Anbieter von All-Inclusive-Touren, die für 20.000 bis 65.000 Dollar jedermann eine Besteigung des Mount Everest anbieten.

Stau am Gipfelgrat

"Nicht selten stehen die Gruppenreisenden, die sich gebärden wie die Eroberer im Zeitalter des Kolonialismus, am Gipfelgrat stundenlang im Stau. Die ‚Weißen Herren‘, Sahibs genannt, die keine Rucksäcke schleppen, werden auf das Dach der Welt gebracht wie Pauschaltouristen", kritisiert Reinhold Messner.

Zwischen 250 bis 300 Menschen starben bisher am Everest, die meisten verunglückten oberhalb von 8000 Metern durch Abstürze, Erfrierungen, Erschöpfung oder an den Folgen einer höhenbedingten Gehirnschwellung.

Bis dato gab es am Everest schätzungsweise rund 15.000 Besteigungsversuche, doch nur jeder Fünfte erreichte den Gipfel. Vor einigen Wochen kam es in einem der Basiscamps zu einer blutigen Schlägerei zwischen drei Bergsteigern und Sherpas, die im Auftrag eines Expeditionsreiseveranstalters Fixseile verlegt hatten. Als die Alpinisten diese überquerten, hätten sie angeblich Eisschollen abgelöst, die hinunterstürzten und die Sherpas bei ihrer Arbeit behinderten.

Derartige Probleme kannten Hillary und Norgay nicht. Nach ihrer Pioniertat adelte die britische Queen den Commonwealth-Untertan Hillary zum "Sir", Norgay bekam einen Orden. Der Neuseeländer stieg zum Nationalhelden auf, sein Konterfei wurde sogar auf Banknoten verewigt. Nach seiner Karriere als Kletterer stellte er sich in den Dienst des Umweltschutzes und bemühte sich um humanitäre Hilfe für das nepalesische Volk. Er starb im Jahr 2008 im Alter von 88 Jahren an einem Herzanfall. Norgay wurde nach dem Gipfelsturm Direktor des Indian Himalayan Mountaineering Institute, er starb 1986 im Alter von 72 Jahren. Die beiden blieben lebenslang befreundet.

Michael Ossenkopp, geboren 1955, war 15 Jahre Redakteur bei Tageszeitungen und arbeitet heute als freier Autor in Berlin; Themenschwerpunkte: Chronik und Geschichte.