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Tote Sprache, die fasziniert

Von Heiner Boberski

Wissen
Höhlenklöster bei Kizil überlieferten Bilder und Texte tocharischer Kultur.
© Institut für Sprachwissenschaft/Uni Wien

Zeugnisse einstiger buddhistischer Kultur an der Seidenstraße in Westchina.


Wien. "Der große Traum ist, dass wir einmal alle tocharischen Texte in unserer Datenbank haben." Tocharische Texte? Die Sprachforscherin Melanie Malzahn, Professorin am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien, weiß, dass ihr Spezialgebiet auch unter Wissenschaftern wenig bekannt ist. Denn Tocharisch gehört zu den ausgestorbenen Sprachen. Gesicherte schriftliche Belege dafür gibt es, so Malzahn, nur "aus dem 5. bis 10. nachchristlichen Jahrhundert". Unsicher ist, ob auf die Radiokarbon-Datierung einer Handschrift in das 12. Jahrhundert ganz Verlass ist. Faszinierend ist, dass es sich um die östlichste indogermanische Sprache handelt - ihr relativ klar umrissenes Verbreitungsgebiet befand sich im Tarimbecken an der nördlichen Seidenstraße in der heutigen autonomen uigurischen Provinz Xinjiang im Nordwesten der Volksrepublik China.

Buddhistische Kultursprache

In Wahrheit gab es nicht nur eine Sprache, sondern Tocharisch A und Tocharisch B. Das waren, wie Malzahn betont, keine verschiedenen Dialekte, sondern wie Deutsch und Niederländisch zwei "eigene Sprachen, schon ziemlich verwandt, aber nicht wirklich gegenseitig verständlich". Warum diese Sprache Tocharisch genannt wurde, ist eine eigene komplizierte Geschichte. Melanie Malzahn erklärt dazu: "Man muss unterscheiden zwischen den Sprechern der Sprachen, die wir heute Tocharisch A und B nennen, und den historischen Tocharern, den ,Tocharoi‘, die aus der antiken Tradition bekannt sind. Sie haben Mitteliranisch gesprochen und lebten auf der anderen Seite des Pamir-Gebirges, in Baktrien."

Möglicherweise haben die Türken, als sie in dieses Gebiet einwanderten, den Namen "Tochri", der in einem alttürkischen Text auftaucht, auf alle in diesen Regionen lebenden Völker übertragen - wie etwa die Bezeichnung der Deutschen im Französischen auf den Stamm der Alemannen zurückgeht.

1908 haben deutsche Indologen die ersten tocharischen Handschriften entziffert. Von 26. bis 28. Juni 2013 sind Forscher aus 14 Staaten, darunter mehreren asiatischen, zu einer internationalen Konferenz zu dieser Thematik nach Wien gekommen. Malzahn hebt die dabei entstehenden Kontakte zwischen Experten aus verschiedenen Nationen und Disziplinen hervor: "Tocharisch kann man nicht isoliert betreiben, man muss mit allen Nachbargebieten in Kontakt bleiben. Man braucht sprachwissenschaftliche Kenntnisse, man muss den Buddhismus verstehen, man muss auch die Geschichte dieser Region und die buddhistische Kunstgeschichte kennen, man muss die Sanskrit-Texte kennen und dazu die alttürkischen Übersetzungen. Das Wichtige an der Konferenz ist, dass wir es geschafft haben, dass alle diese Gebiete vertreten sind." Wesentlich sei etwa, dass die chinesischen Forscher ihre Resultate auch auf Englisch publizieren.

Wann der letzte Tocharisch-Sprecher gelebt hat, ist ungewiss, aber Melanie Malzahn ist sicher, dass das Verschwinden der Sprache nicht mit Gewalt verbunden war. Die Bevölkerung in dieser Region habe den Islam angenommen und das Tocharische aufgegeben, "weil es als Kultursprache eng mit dem Buddhismus verknüpft war". Wichtige Texte hat man in alten buddhistischen Höhlenklöstern und Oasen entdeckt. Neben Texten zur Religion, Medizin und Wirtschaft ist ein Liebesbrief auf Tocharisch erhalten.

Malzahns Traum von der Aufarbeitung aller tocharischen Texte hat eine realistische Basis. Sie ist Start-Preisträgerin, der Wissenschaftsfonds FWF fördert ihr auf sechs Jahre angelegtes Projekt "Eine Gesamtedition der tocharischen Handschriften". Die Resultate werden auch viele Nachbarfächer nutzen können, "zum Beispiel die Turkologen, die Sanskritisten oder die Kunsthistoriker. Man muss nicht Tocharisch lernen, um dann mit diesen Texten arbeiten zu können."