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Die Kunde der geheimen Zeichen

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Das Voynich-Manuskript gilt als Krone aller bisher unentzifferten Manuskripte. Über den Inhalt gibt es nur Vermutungen.
© wikipedia

Das Voynich-Manuskript ist die große Herausforderung der Kryptologie.


Geduld braucht der Kryptologe, Geduld und ein wenig Glück. Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Kassel hatten beides, und so gelang es ihnen, die sogenannte "Zauberhandschrift" aus dem 18. Jahrhundert zu entschlüsseln. Das lässt bei Kryptologen Hoffnung aufkeimen, dass dereinst auch das Voynich-Manuskript seine Geheimnisse preisgeben könnte. Wenn es denn welche hat. Doch der Reihe nach.

Kryptologie ist die Wissenschaft von der Informationsverschlüsselung. Was sich zu einer zentralen Wissenschaft im heutigen elektronischen Datenverkehr mauserte, war Jahrzehnte, um nicht zu sagen: Jahrhunderte lang eine abseitige Beschäftigung mit scheinbar unleserlichen Texten. Denn verschlüsselt wurde nicht erst seit Anno Internet, sondern seit der Antike. Schon damals sollte nicht jeder Text für jeden lesbar sein, der lesen konnte.

Die etwa 90 Seiten der "Zauberhandschrift" sind in chiffrierten Schriftzeichen abgefasst. Die Planetensymbole und Zeichnungen von Geistern dazwischen ließen auf einen magischen Inhalt schließen. Dennoch scheiterte die Entzifferung.

Bis jetzt die Arabistin Sabina Lüdemann, Leiterin der Hessischen Abteilung der Landesbibliothek und Murhardschen Bibliothek, die Erleuchtung hatte: Sie entdeckte, dass die Zeichen der "Zauberhandschrift" schlicht eins zu eins die Zeichen unserer Schrift ersetzen und teilweise von ihnen sogar abgeleitet sind. So fehlt beispielsweise dem A der Querbalken, und das S mutiert zu einem Zeichen, das dem Zahlensymbol 6 ähnelt. Damit (und mit Geduld, wie gesagt, denn etwas Versuch-und-Irrtum ist zwangsläufig nötig) lässt sich der gesamte Text entschlüsseln. Dann wird man ihn auch endlich einordnen können, also wissen, ob er ins Umfeld der Freimaurer oder der Rosenkreuzer gehört. "Es ist auch viel Hokuspokus dabei. Doch vorwiegend finden wir religiös-christliches Vokabular. Das legt nahe, dass der Autor aus dem christlichen Kulturkreis kommt", sagt Lüdemann. "Das Manuskript passt aber gut in den Kontext des gesteigerten Interesses an Mysterien, Alchemie, Magie und Schatzgräberei Ende des 18. Jahrhunderts."

Kryptologen schnalzen da vor Wonne mit der Zunge - aber, um ganz ehrlich zu sein, nicht wegen der "Zauberhandschrift". Ihre Entschlüsselung macht nämlich Hoffnung. Hoffnung auf das Knacken jener Handschrift, die, um das US-Kultwort für etwas supergroßes Supertolles zu verwenden, der Lollapalooza aller verschlüsselten Handschriften ist, nämlich das Voynich-Manuskript.

Der aus Weißrussland stammende US-amerikanische Büchersammler Wilfrid Michael Voynich erwarb es 1912. Datiert wird es auf eine Abfassung zwischen 1404 und 1438 in Norditalien. Heute befindet es sich in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University.

Von dem ursprünglich aus 116 Blättern bestehenden Kodex liegen heute 102 Blätter vor. Der in einer unbekannten Schrift abgefasste Text ist illustriert, die Bilder lassen auf Inhalte aus den Bereichen Kräuterkunde, Astronomie, Anatomie, Kosmologie und Pharmazie schließen. Auf diese Abhandlungen folgt etwas, das ein Schlüssel sein könnte, trotz der Ähnlichkeit mit einem in Deutschland verwendeten Schrifttyp jedoch auch nicht weitergeführt hat.

Könnte das Manuskript ein Scherz sein, also mit in Wahrheit sinnlosen Aneinanderreihungen inhaltsleerer Zeichen eine Schrift oder Sprache vortäuschen? Der britische Kryptologe Gordon Rugg und sein österreichischer Kollege Andreas Schinner etwa gehen von einem aufwendigen Schabernack aus.

Statistische Fakten

Dem widersprechen freilich ein paar statistische Fakten. Beispielsweise lässt sich eine Teilmenge von Zeichen ausmachen, von denen eines bis einige in jedem Wort erscheinen - entsprechend den Vokalen. Auch sind bestimmte Zeichenkombinationen häufig, andere hingegen kommen nie vor, und auch die Worthäufigkeiten entsprechen im Durchschnitt jenen der europäischen Sprachen. Für sie ist indessen uncharakteristisch, dass kaum ein Wort des Voynich-Manuskripts mehr als zehn und weniger als drei Zeichen hat.

Der US-amerikanische Philosophieprofessor William Romaine Newbold glaubte, in den Zeichen ornamentierte altgriechische Kurzschriftzeichen zu erkennen, starb jedoch, ehe er seine Entschlüsselung konkretisieren konnte. Der US-amerikanische Kryptologe William Friedman vermutete in den 1960er Jahren eine Kunstsprache, entsprechend etwa Esperanto, und schlug den Einsatz von Computern vor, wozu es jedoch nicht kam. Derzeit arbeiten vor allem die US-amerikanische Mathematikerin und Kryptologin Mary D’Imperio und der US-amerikanische Sprachwissenschafter Prescott Currier an der Entzifferung des Voynich-Manuskripts. Zu ihren Entdeckungen gehört, dass offenbar zwei Schreiber an der Abfassung beteiligt waren. Konkrete Entschlüsselungen von Wörtern können sie freilich ebenfalls nicht vorlegen.

Waren "Zauberhandschrift" und Voynich-Manuskript absichtliche Verschlüsselungen, gibt es auch unabsichtlich Unentschlüsselbares: Die Rongorongo-Schrift der Osterinseln ist ein ebenso harter Knochen wie das Voynich-Manuskript. Eingeweihte konnten sie lesen - aber sie starben an den von den Europäern eingeschleppten Krankheiten, ehe diese, also die Europäer, die Kultur der "Wilden" ernst zu nehmen begannen. Was wieder einmal zeigt, dass Rassedünkel schlicht und einfach zu Kulturverlust führt.