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Der Schritt von Heureka zu Oops

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Großmeister des Irrtums: Christoph Kolumbus glaubt, Ländereien Indiens für die spanische Krone in Besitz zu nehmen - ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Dióscoro Teófilo Puebla Tolín.
© wikipedia

Irrtümer amüsieren nicht nur, sie beflügeln auch das Weiterdenken.


Endlich angekommen in Indien! Dachte ein gewisser Seefahrer namens Christoph Kolumbus, als er Amerika entdeckte. Und seitdem das Privileg verbuchen kann, auf seine Person mehr Irrtümer zu vereinigen als die meisten anderen historischen Gestalten. Der große Seefahrer hat sich schlicht um ein paar 1000 Seemeilen vernavigiert. Man möge es ihm nachsehen, denn angesichts fehlender Bordchronometer konnte er keine Längengrade berechnen. Dennoch: Die Begründung eines Irrtums stellt ihn nicht richtig.

Womit die Serie der Kolumbus-Irrtümer aber erst beginnt: Erstens: Von der Entdeckung Amerikas keine Spur, die Wikinger waren erheblich früher dort und mit ziemlicher Sicherheit die Chinesen auch. Zweitens: Dass er ein bis dahin unbekanntes Land entdeckt hatte, wussten alle - außer ihm selbst, er hielt bis zu seinem Tod daran fest, in Indien gewesen zu sein. Drittens: Genau genommen wollte er nicht mal nach Indien, sondern nach China, das aber nach damaligen Begriffen ein Teil Indiens war.

Irrtümer machen Geschichte

Was zeigt: Irrtümer regieren die Welt, machen Geschichte, beeinflussen Denkweisen, Weltbilder, Vorstellungen von historischen Vorgängen. Den Schritt von Heureka zu Oops ist oft ein kleiner für den Menschen, der von Oops zu Heureka mitunter ein großer für die Menschheit.

Abgesehen davon macht es Vergnügen, Irrtümer aufzuzeigen und sich über das Unwissen der Altvorderen, freilich ganz ohne Spott, zu amüsieren. Der deutsche Autor Bernd Ingmar Gutberlet beging daher absolut keinen Irrtum, als er den Irrtum auf seine Fahne schrieb und eben sein viertes Buch zum Thema herausbrachte.

Bis in unsere Gegenwart ziehen sich Irrtümer als roter Faden durch das menschliche Handeln und Wissen. Eine einschlägige Marginalie aus jüngster Zeit: Da verkündete ein Fernsehmoderator, der österreichische Nationalfeiertag werde an jenem Datum begangen, an dem der letzte Soldat der Alliierten das österreichische Staatsgebiet verlassen habe. Just so hat er’s in der Schule gelernt - und zumindest ich glaube ihm das, denn es war mein eigener schulischer Kenntnisstand, ehe ich entdeckte, dass am 26. Oktober 1955 das Gesetz zur österreichischen Neutralität beschlossen wurde und den Feiertag mit diesem Umstand in Zusammenhang brachte. Korrekt, wie sich herausstellte - und wie auch der Fernsehmoderator in der Folgesendung bekannte.

Aber das ist, trotz der nahezu religiösen Verehrung, die der Neutralität in unserem Land zukommt, ein Minimalirrtum. Und sollte ein Schüler wegen der falschen Antwort ein Nicht genügend in Geschichte bekommen (harte Entscheidung!), können ihn seine Eltern ja damit trösten, dass auch ein Albert Einstein ein miserabler Schüler war. Was zwar ein Trost sein mag, aber leider ein kapitaler Irrtum ist: Der Entdecker der Relativitätstheorie war ein hervorragender Schüler. In seinem Schweizer Maturitätszeugnis (entspricht der österreichischen Matura) gibt es massenhaft 6er und 5er. Na eben...? Eben nicht! Das Schweizer System geht nämlich andersrum. Somit hatte Einstein zahlreiche "Sehr gut" und "Gut". Und die Nachwelt eine schülertröstliche Legende.

Jämmerliche Atomenergie

Von Fehlbarkeit war freilich auch der Physiker der Physiker nicht gefeit. 1932 vertrat er die Ansicht, dass es keine Atomenergie gäbe. Immerhin erkannte er seinen Irrtum. Dem übrigens auch der serbisch-österreichische Wechselstrom-Pionier Nikola Tesla aufsaß und Lord Ernest Rutherford ebenfalls. Er meinte 1933: "Die Energie, die durch Atomzertrümmerung erzeugt wird, ist eine jämmerliche Sache. Wer von der Umwandlung dieser Atome eine Kraftquelle erwartet, redet nur Blabla." Und der Brite, der gebürtiger Neuseeländer war, musste es wissen, immerhin war er - nun ja: Atomphysiker.

Aber was sind das alles für Lappalien gegen die schönen, saftigen Irrtümer, viel größer als jener mit dem unsinkbaren Luxusliner namens "Titanic"? Da ist zum Beispiel die Sache mit "Die Erde ist eine Scheibe". Den Unfug hat man geglaubt - oder? Irrtum. Zumindest Gelehrte, unter ihnen etwa Thomas von Aquin, wussten auch zu mittelalterlichen Zeiten: Sie ist eine Kugel. Was sich auch in den Reichsäpfeln widerspiegelt. Dass sie der feststehende Mittelpunkt des Universums sei, hatte man als Christ freilich tatsächlich bis tief in den Barock zu glauben. Die Schriften des Galileo Galilei, die eine andere Auffassung vertraten, standen bis 1835 auf dem Index der verbotenen Bücher der katholischen Kirche.

So richtig grotesk wird es, wenn ein Irrtum ganz klar ein solcher ist, aber auf eine ihm wohlgesonnene Ideologie trifft. Da erklärte der österreichische Ingenieur Hanns Hörbiger, die Körper des Weltalls bestünden aus Eis, unser ganzer Kosmos sei aus der Kollision eines Eisplaneten mit einer Ursonne entstanden. Zeitgenössische Astronomen belächelten die These - aber den Nationalsozialisten kam sie gerade recht: Sie hatte die der "jüdischen Intellektuellen", mit denen speziell Einstein gemeint war, zu ersetzen. Denn die Welteislehre war zwar Quatsch, aber "arisch", und da "arischer" Quatsch für einen Nationalsozialisten immer noch besser ist als jüdische Erkenntnis, stand Hörbiger hoch im Kurs. Zumal ja ein Bogen zu schlagen war zwischen dem Welteis und den Nordmenschen aus den, ja, eben: eisigen Nordregionen. So wurde denn auch in Heinrich Himmlers SS-Forschungsgemeinschaft "Ahnenerbe" der Zweig Wetterkunde eingerichtet, Forschungsziel: die Wirkung des ewigen (und nicht anzuzweifelnden) Welteises auf das Germanentum.

Nun gut, das ist ein Auswuchs, zugegeben. Aber insgesamt zeigt sich, dass die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Irrtümer ist. "Es irrt der Mensch, solang er strebt", lässt Goethe den "Herrn" im "Faust"-Prolog sagen. Der Irrtum ist jedoch auch Triebfeder zu neuer Forschung.

Ehrenrettung für den Irrtum

Und so darf man ihn zwar belächeln, doch es gilt, sein Image aufzupolieren. Und wenn ihn der römische Philosoph Seneca für eine Folge von Faulheit und Mitläufertum hielt, was er wohl auch seinem Schüler Claudius Caesar Augustus Germanicus beibrachte, der als Kaiser Nero in die Geschichte einging (die Irrtümer, die mit ihm zusammenhängen, können Bücher füllen), so sei dem antiken heidnischen Denker der Kirchenlehrer Augustinus entgegengehalten, der den Irrtum zwar für unausweichlich, aber trotzdem für gut hielt, denn nur das eigene Scheitern lasse seiner Ansicht zufolge den Menschen die Absolutheit Gottes als grundlegende Wahrheit erkennen.

Ob es nun um Gotteserkenntnis geht oder schlicht um profane Wahrheiten oder Erkenntnisse - Faktum ist: Irrtümer können uns weiterbringen. Philosophisch ausgedrückt, ist der Irrtum eine Stufe auf dem Weg zur Wahrheit. Was man in der konkreten Anwendung als "try and error" kennt. Vielleicht hängt es damit zusammen, wenn aus grundlegenden Irrtümern grundlegende Wissenschaften mit grundlegenden Wahrheiten erwachsen. So entwickelte sich aus dem Irrglauben, menschliches Schicksal und Sterne stünden in Zusammenhang, die Astrologie und aus ihr die Astronomie (und nicht umgekehrt). Aus der höchst esoterischen Vorstellung wiederum, man könne mittels Stein der Weisen aus unedlen Materialien Gold gewinnen, entstand die Alchimie, aus der sich, man ahnt es aufgrund der Namensähnlichkeit, die höchst seriöse Chemie entwickelte. Was etwa, wenn sich ein gewisser Johann Georg Faust (1480-1541) nicht zu solchen Irrtümern hätte hinreißen lassen...?