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Der Verlust der Welt

Von Georg Traska

Wissen

"Strom der Erinnerung" heißt ein Projekt vom Wiener Stadtsender W24, das die Geschichte einer jüdischen Vorstadtgemeinde in Wien in Erinnerung ruft, die nach 1938 ausgelöscht und danach beinahe vergessen wurde.


2007 begannen sich Judith Pühringer und Michael Kofler für die jüdische Vorgeschichte des Hauses Herklotzgasse 21, in dem sie seit 2005 in einer Bürogemeinschaft sozialer Organisationen arbeiteten, zu interessieren. Auslöser war das Buch "Nachricht vom Verlust der Welt" von Inge Rowhani- Ennemoser (mandelbaum), eine biografisch- dokumentarische Erzählung über die Mutter der Autorin und deren Arbeit als Hausmeisterin in der Herklotzgasse 21 bis zum Jahr 1938. Erstaunt darüber, dass von dieser Geschichte in der Umgebung kaum etwas bekannt war, setzten sie sich zum Ziel, gemeinsam mit im Haus arbeitenden Künstlern ein erstes sichtbares Zeichen zu setzen. Sie luden den Autor, den Kunsthistoriker Georg Traska, dazu ein, historisch zu recherchieren und mehr über den Ort in Erfahrung zu bringen.

Nach einigen Monaten ist aus diesen vagen ersten Ideen ein umfangreiches Projekt geworden, das die Geschichte eines Viertels, ja einer weitläufigen jüdischen Vorstadtgemeinde, betraf, die die heutigen Bezirke XII bis XV umfasste und neben dem Gemeindehaus in der Herklotzgasse 21 vom Leben im Turnertempel in der Turnergasse und der orthodoxen Storchenschul in der Storchengasse geprägt war. Die Initiatoren nahmen Kontakt mit Menschen auf, die in diesem Viertel aufgewachsen und von hier geflohen waren. Die Absichten des Projekts wurden sehr positiv aufgenommen und so wurden die Initiatoren von einem zum nächsten Mitglied der zerstörten Gemeinde "weitergereicht" – in Österreich, Israel und den USA. Zugleich fragten österreichische Archive (Nationalfonds der Republik Österreich, Anlaufstelle der Israelitischen Kultusgemeinde) bei Vertriebenen aus diesem Stadtgebiet für das Projekt an – und nach sehr kurzer Zeit war eine repräsentative Gruppe von Menschen bereit, über ihre Lebensgeschichten und Erinnerungen zu sprechen. Mit finanzieller Unterstützung von Zukunftsfonds und Nationalfonds der Republik Österreich, der Stadt Wien, der Bezirksvorstehung Rudolfsheim Fünfhaus und allen voran der ERSTE-Stiftung gelang die kontinuierliche Entwicklung des Projekts über einige Jahre hinweg.

Ursula Henzl kam in einem nächsten Schritt als Kamerafrau zum Projektteam dazu. Bei zwei Reisen nach Israel 2007 und 2009 sowie in Wien entstanden etwa 100 Stunden Interviews mit 20 Zeitzeugen. Die Begegnungen, die Auseinandersetzung mit den Interviews und die Freundschaften, die daraus entstanden, wurden für das Team zu einer geistig und menschlich prägenden Erfahrung, die weit über das Projekt hinausreicht, und zu einer ungemein starken Motivation für die Arbeit. Plötzlich standen einander zwei "Gegenwarten" gegenüber. Die eine "Gegenwart" entdeckte das Team staunend auf diesen Reisen: das Weiterleben einer untergegangenen und vergessenen Wiener jüdischen Gemeinde in Israel und in deren vertriebenen Mitgliedern. Diese sind in ihrer Sprache und in ihrem Habitus so sehr Wiener, als hätten die 70 Jahre (heute bereits 75 Jahre) seit der Vertreibung diesem kulturellen Wesen kaum etwas anhaben können – und zugleich sind sie Israelis, die hier ein langes Berufsleben hinter sich haben, sowie Eltern, Großeltern, ja Urgroßeltern in dieser Gesellschaft und Kultur, die sie mit aufgebaut haben. Die andere "Gegenwart" lag in Wien halb verborgen unter der materiellen Oberfläche der Stadt und zwischen den archivarischen Dokumenten. Erst durch die Projektarbeit wurden Spuren eines einstigen Lebens wieder sicht- und spürbar. Zum Sprechen gebracht wurden die Spuren aber vor allem durch die Erinnerungen der Geflohenen.

Parallel zur "Oral History", der "mündlich" vermittelten Geschichte, verlief die historische Recherche. Sie führte zurück in die 1830er und -40er Jahren zu den Ursprüngen der Gemeinde; verfolgte deren Entwicklung ins 20. Jahrhundert und suchte die wichtigsten Orte, Persönlichkeiten und Organisationen zu fassen. Florian Wenninger konnte als Mitarbeiter gewonnen werden, der die bis dahin unausgearbeitete Datenbank eines universitären Forschungspraktikums ins Projekt einbrachte und nach zwei Richtungen auswertete: die jüdischen Be wohner des 15. Bezirks 1938-45 und die hier stattgefundenen Arisierungen. Alexandra Zabransky arbeitete ein Vermittlungsprogramm für Kinder und Jugendliche aus, das die wichtigsten Projektaktivitäten begleitete.

Im ehemaligen Festsaal der Herklotzgasse 21 – dem ehemaligen Vereinshaus, zionistischem Zentrum und einem der lebendigsten Orte der jüdischen Gemeinde – fand schließlich 2008/09 die Ausstellung und Videoinstallation "Das Dreieck meiner Kindheit" statt. Thomas Hamann kam als Gestalter hinzu. Die thematisch geschnittenen Videos dieser Ausstellung wurden nun in der DVD-Produktion "Strom der Erinnerung" in Zusammenarbeit mit W24, dem Wiener Stadtsender, der dem Thema 2013 einen großen zeitgeschichtlichen Programmschwerpunkt widmet, neu verarbeitet und erweitert.

2009 wurde gemeinsam mit Radio Orange 94.0 ein Audioguide im 15. Bezirk entwickelt. Zehn Stationen sind im öffentlichen Raum durch Tafeln gekennzeichnet und laden dazu ein, über das Handy Interview-Sequenzen zu den betreffenden Orten in einer von fünf Sprachen (Deutsch, Englisch, Hebräisch – sowie Türkisch und Serbisch/ Kroatisch/Bosnisch, um die heutige migrantische Bevölkerung des Bezirks direkt anzusprechen) zu hören oder sich von der Projektwebsite herunterzuladen. 2012 wurde der "Erinnerungsort Turnertempel" an der Stelle der zerstörten Synagoge eröffnet, der in dieser Publikation an anderer Stelle ausführlich beschrieben wird.

Geschichte der jüdischen Gemeinde "Sechshaus"
Die jüdische Vorstadtgemeinde "Fünfhaus" bzw. "Sechshaus" reicht als religiöse Gemeinde bis in die 1840er, als jüdischer Siedlungsort sogar bis in die frühen 1830er Jahre zurück, als sich hier jüdische Fabrikanten anzusiedeln begannen, um schließlich in den 1840erund 1850er Jahren das Zentrum der Wiener Textilindustrie zu etablieren. Diese Fabrikanten bilden sozial- und wirtschaftsgeschichtlich den Ursprungsmoment der Gemeinde. Die Niederlassung von Fabrikanten in den Vorstädten ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Juden und Jüdinnen bis 1848 die Ansiedlung "auf dem offenen Land von Niederösterreich" prinzipiell untersagt war – wie in den meisten Teilen der Monarchie, von einzelnen Städten mit ihren Ghettos und Judenstraßen sowie von den tolerierten, aber numerisch streng begrenzten Juden Wiens abgesehen. Eine Ausnahme bildeten aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung die Verordnungen für Fabrikanten, die sich weitgehend frei ansiedeln konnten, jedoch keine jüdischen Arbeiter anstellen durften. Daraus ergab sich, dass die wenigen "Tolerierten" verhältnismäßig wohlhabend waren – während ein anderer Teil der in Wien und seinen Vorstädten lebenden Juden (vor allem Männer) hier inoffiziell arbeitete und lebte. Nach der Verfassung von 1849, der Auflösung der alten Grundherrschaften und Zunftzwänge, im Zuge der Industrialisierung und Liberalisierung des Wirtschaftslebens sowie aufgrund neuer Eisenbahnlinien strömten hauptsächlich ärmere Juden und Jüdinnen nach Wien – an der Seite von hunderttausenden Nichtjuden und -jüdinnen aus den Kronländern, die sich aus ähnlichen Gründen in der Residenzstadt ansiedelten.

Der Übergang von einer kleinen, relativ wohlhabenden jüdischen Bevölkerung im Vormärz zu deren Proletarisierung in der Gründerzeit stellte sich in den südwestlichen Vorstädten auf ganz eigene Weise dar und gab der Gemeinde ein besonderes Gepräge. Bis 1848 bildeten Fabrikanten, vor allem Textilfabrikanten, die bei weitem wichtigste Gruppe in einer mit keinem anderen Bezirk Wiens vergleichbaren Konzentration. Im Verlauf der Gründerzeit veränderte sich die Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung, um sich der eines armen Arbeiterbezirks anzugleichen. Zugleich kann man aufgrund der Lage außerhalb des "Eruvs" (ein durch einen "Zaun" gekennzeichneter Bereich, innerhalb dessen die Sabbatregel, nichts tragen zu dürfen, keine Anwendung findet) und der geringen Konzentration von Juden und Jüdinnen davon ausgehen, dass es kein Ort der Wahl für die streng Orthodoxen war.

Die hier lebenden Juden und Jüdinnen waren von Anfang an relativ gleichmäßig innerhalb der vorhandenen Siedlungsstrukturen verteilt. Diese Streuung gilt auf allen Bezugsebenen: in der gesamten Gemeinde, in den Vororten und städtischen Bezirken, in den Vierteln, Straßen und Häusern. Verdichtungen gab es vor allem in der Organisation der Gemeinde und bis zu einem gewissen Grad bei den Geschäften. Die Streuung impliziert, dass die jüdischen Haushalte vorwiegend an nichtjüdische Nachbarn grenzten. Wie auch immer die Frage der Konzentration der Wiener Judenschaft diskutiert wird (der quantitativen und qualitativen, der eher durch Ausgrenzung erzwungenen oder selbst gewählten Konzentration), so war sie in dieser Region hinsichtlich der räumlichen Strukturen denkbar gering. Das bedeutet, dass die hier lebenden Juden und Jüdinnen kein starkes Bedürfnis nach einer abgeschlossenen jüdischen Lebenssphäre hatten. Allerdings steht der räumlichen Integration in der Umgebung ein relativ hoher Organisationsgrad in jüdisch definierten Gruppierungen gegenüber.

Die 1867 offiziell gegründete jüdische Gemeinde "Sechshaus" umfasste den Bereich der heutigen Bezirke XII bis XV und war innerhalb von Vororten entstanden, als diese gerade den Wandel von Bauerndörfern zu proletarischen Vorstädten vollzogen. Fünfhaus und Sechshaus bildeten den Kern der weitläufigen Gemeinde: mit dem Tempel in der Turnergasse 21 (ab 1871), der Storchenschul 22 (ab 1873) und einem Vereinshaus in der Herklotzgasse 21 (ab 1906). Die weitläufige Gemeinde im Südwesten Wiens zeichnete sich nicht durch eine besondere Dichte der jüdischen Bevölkerung aus: In Fünfhaus waren es 4,5 bis 5,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, in den übrigen Teilen der Region weniger. Doch es gab auch weite Bereiche Wiens, die einen niedrigeren Anteil aufwiesen. Dem in Wiener Relation eher niedrigen jüdischen Anteil an der Bevölkerung stehen das verhältnismäßig hohe Alter der Gemeinde und deren Organisationsgrad gegenüber. Warum im allgemeinen Geschichtsbewusstsein die jüdische Bewohnerschaft von Rudolfsheim-Fünfhaus die längste Zeit kaum existiert, kann also nicht einfach aus deren numerischen Rang erklärt werden. Es hängt wesentlich mit dem Charakter des Bezirks und der jüdischen Gemeinde, die nicht mit den Klischees vom Wiener Judentum übereinstimmen, zusammen.

Die Klischees sehen eine Dominanz von weitgehend assimilierten, wohlhabenden Freischaffenden, Industriellen und hohen Angestellten einerseits und von armen, religiösen "Ostjuden", die sich im 2. und 20. Bezirk konzentrierten, andererseits. Auch die philosemitische Vorstellung der überproportional aktiven jüdischen Intellektuellen und Künstler greift in Fünfhaus und Rudolfsheim nicht. Der (heutige) 15. Bezirk, in dem das Zentrum der Vorstadtgemeinde lag, sowie Meidling sind seit der Gründerzeit Arbeiterbezirke mit einem hohen Anteil an Kleingewerbe. Dem entsprachen auch die Lebensverhältnisse der jüdischen Bevölkerung, die wenigstens in den 1860er und 70er Jahren in die Tausende ging.

Turnertempel, Storchenschul und Herklotzgasse 21
Der Turnertempel (Turnergasse 22) war das religiöse Zentrum der vorstädtischen jüdischen Gemeinde und zugleich sein öffentlich sichtbarstes Symbol. Der Turnertempel wurde 1871-72 nach den Plänen von Carl König als dritte Synagoge Wiens und seiner Umgebung erbaut und bezeugte damit das Alter und die Bedeutung der Gemeinde "Sechshaus" innerhalb des Wiener Judentums. Er war im Leben fast aller jüdischen Familien dieser Gemeinde verwurzelt, und in dem benachbarten Gemeindehaus waren zahlreiche Vereine untergebracht.

Die Storchenschul (Storchengasse 21) reicht als der zweite wichtige jüdische Sakralbau der Gemeinde "Sechshaus" etwa ebenso weit in deren Geschichte zurück wie der Turnertempel, nämlich bis ins Jahr 1873. Damals als geräumiges Bethaus entstanden, wurde die Storchenschul 1934 nach den Plänen von Ignaz Reiser zur zweiten Synagoge der Gemeinde ausgebaut und mit einer neuen Straßenfassade versehen. Sie war das Zentrum der hiesigen orthodoxen Juden und Jüdinnen, wobei sich Orthodoxie vor allem auf die Bevorzugung eines bestimmten religiösen Ritus durch Einwanderer der ersten und zweiten Generation bezog – gegenüber einem hier schon länger verwurzelten Wiener Judentum. Der Unterschied vom liberaleren Turnertempel lag also mehr im kulturellen und sozialen Hintergrund der Mitglieder als in den religiösen Grundsätzen.

1906 erwarb die jüdische Philanthropin Regine Landeis das Gebäude in der Herklotzgasse 21 und stellte es jüdischen Vereinen zu Verfügung. Anfangs hatten hier vor allem Fürsorge-Vereine mit einem Schwerpunkt auf Kinderfürsorge ihren Sitz. In den 1920er Jahren wurde das Gebäude zu einem zionistischen Zentrum für die südwestlichen Außenbezirke der Stadt, aber auch noch für den 6. und 7. Bezirk. In den Erinnerungen der Zeitzeugen spielt die Herklotzgasse 21 eine bedeutende Rolle als der Ort ihrer ersten jüdischen Sozialisation außerhalb der Familie, aber auch einfach als der Platz, an dem sie einen liebevoll geführten und pädagogisch fortschrittlichen Montessori-Kindergarten oder den Turnverein besuchten. Ältere Kinder waren Mitglieder zionistischer Jugendorganisationen, die 1938/39 zu den wichtigsten Fluchthelfern für Jugendliche wurden. Die Ausspeisung, die hier seit 1906 für die ärmsten Juden und Jüdinnen bestand, wurde nach 1938 für viele zu einer bitteren Notwendigkeit, als ihnen alle Möglichkeiten, für ihren eigenen Unterhalt aufzukommen, genommen worden waren.