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Verniedlichte NS-Verbrecher

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Heinrich Himmler als treu sorgender Familienmensch - eine Verharmlosung? Der problematische Umgang mit dem Privatleben der NS-Verbrecher.


Wertungsfrei könnte man diese Briefe als "Korrespondenz einer historisch relevanten Person" einstufen. Ihre Veröffentlichung wäre dann legitimiert. Doch nicht allen historisch relevanten Personen ist eine neutrale Betrachtungsweise angemessen, und inwiefern es die Korrespondenz einer historisch relevanten Person historisch relevant ist, bedarf einer zusätzlichen Klärung.

Im konkreten Fall geht es um den Briefwechsel zwischen Heinrich Himmler und seiner Frau Marga. Das deutsche Feuilleton war entzückt, und auch Teile des österreichischen reagierten wie der pawlowsche Hund auf den Knochen: Kaum ein Artikel, der nicht auf die "Banalität des Bösen" verwiesen hätte, kaum einer, der nicht auf die eben nur scheinbare Harmlosigkeit verwiesen hätte, wenn da völlige Übereinstimmung zwischen dem "lieben Guten" und der "liebsten, allerliebsten, guten, kleinen Frau" über das "Judenpack" herrscht. Man empöre sich, gehe ironisch gefärbt auf Abstand und rede jenem Antinationalsozialismus das Wort, der umso größer wird, je weiter die konkrete Bedrohung zurückliegt.

Doch ist dieser Fall wirklich so einfach? Genügt es tatsächlich, die Briefe unter Kenntlichmachung des persönlichen Abscheus zu referieren und sie eventuell einen historischen Kontext einzubetten?

Der Umgang mit der Banalität des Bösen

Stellt wirklich niemand die grundlegende Frage, die lauten muss, ob diese Publikation der Himmler-Briefe im Grund die nicht Illustration des Problems ist, wie heute mit dem Jahrtausendverbrechen Nationalsozialismus umgegangen wird?

Denn die unablässige Beschwörung der "Banalität des Bösen" hat längst in die Banalisierung der Verbrechen gemündet, längst haben die Täter mehr Gesicht als ihre Opfer. Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Helfer und Helfershelfer ganz privat und psychologisch fundiert betrachtet - so viel Interesse hat kaum eines ihrer abermillionen Opfer erweckt.

Die Erforschung der Psyche eines Täters bedeutet freilich keine Entschuldigung der Taten, pflegen kluge Menschen zu argumentieren. Klügere antworten darauf: "Doch." Denn wenngleich die Erforschung der Psyche eines Täters selbst noch keine Entschuldigung darstellt, so ist sie die Grundlage dazu. Ich bezweifle sogar, dass es möglich ist, die Entschuldigung nicht automatisch mitzudenken. Deshalb versucht jeder halbwegs gewiefte Verteidiger eines Verbrechers, ein psychologisches Gutachten vorzubringen. Je menschlicher ein Täter erscheint, desto weniger neigt man zu seiner Verurteilung.

Die Veröffentlichung der Himmler-Briefe dient einer Vermenschlichung. Sie ist gewiss weder von den Herausgebern Katrin Himmler und Michael Wildt intendiert, noch vom honorigen Piper-Verlag. Dennoch findet sie statt. Die menschliche Psyche ist so gestrickt, sie kann gar nicht anders. Die Entschuldigung wird unwillkürlich mitgedacht. Wenn Himmler am 17. Februar 1942 seiner Familie Käse und Schokolade schickt, bekommt er ein Gesicht, das der Mit-Mörder von mehr als sieben Millionen Menschen allein in den Konzentrationslagern verwirkt haben sollte.

So hat man angesichts dieses Buchs die Frage zu stellen: Cui bono - wem nützt es?

Der Erkenntnisgewinn nämlich ist minimal. Himmler suchte in der Familie die heile Welt - das machte ihn aber nicht zu Himmler. Seine Frau teilte seine Vorlieben und Aversionen - schön für ihn. Doch worin liegt die historische Bedeutung? Nur sie scheint die Veröffentlichung dieses Materials moralisch zu rechtfertigen. Doch das erschließt sich hier nicht.

Ganz offen muss ich bekennen: Ich halte die Veröffentlichung der Himmler-Briefe für ein Geschäft mit der modischen Nationalsozialismus-Erklärerei. Es mag nicht als solches intendiert gewesen sein, doch für mich ist es nichts anderes, und es stünde dem Verlag gut an, die Tantiemen einer NS-Opfer-Vereinigung oder einer Gedenkstätte zu stiften. "Himmler privat" steht da also auf dem Buchcover, die Familie Himmler ist strahlender Gesichter abgebildet, der Untertitel "Briefe eines Massenmörders" mehr Kaufanreiz für die Sensationshungrigen als Abstandserklärung.

Natürlich wollten das die Herausgeber nicht, und auch dem Verlag kann man so weit vertrauen, dass sie alle dieses Heruntertakten eines rassistischen Massenmörders auf den gemütlichen Familienmenschen nicht anstrebten. Doch keine Fußnote und kein Kommentar kann verhindern, dass dies nicht auch in dem Buch steckt.

Zumal ja überhaupt nur allzu leicht übersehen wird, dass die Haltung, mit all diesen Analysen, Biografien und Dokumenten zu Hitler und seinen Helfern den Anfängen zu wehren, zweifellos sehr ehrenhaft ist. Doch es ist mit zunehmender Dringlichkeit die Frage zu stellen, um welche Anfänge es überhaupt geht.

So wichtig die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nämlich auch ist: Der Antisemitismus hat 1945 nicht schlagartig geendet. Er existiert in gewandelter Form auch heute noch als Antizionismus und Israelfeindlichkeit.

Tatsächlich hat sich der Antisemitismus nur noch ein weiteres Mal gewandelt: Aus dem religiös motivierten Antisemitismus, der oft beschönigend "Antijudaismus" genannt wird, entsteht der rassistische Antisemitismus, und wandelt sich, als dieser gesellschaftlich geächtet, zum territorialen Antisemitismus. Zuerst ging es also gegen die Religion der Juden, dann ging es gegen die jüdische Ethnizität, jetzt geht es gegen den jüdischen Staat.

Eine neue Form von Antisemitismus

Dass dieser in seiner Politik Fehler macht, sei nicht abgestritten - er hat es mit allen Staaten der Welt gemein. Doch schon den Vorwürfen, er sei aus Unrecht gegenüber den Palästinensern hervorgegangen, muss man entgegnen: Welcher Staat ist völlig rechtens entstanden und hat auch eine unblutige Geschichte? Man findet Diskussionssendungen, in denen Teilnehmer als "Israelkritiker" vorgestellt werden - mir sind in solchen Vorstellungen niemals "Österreichkritiker", "Schweizkritiker" oder "Kubakritiker" untergekommen, allenfalls "Amerikakritiker". In Nachrichtensendungen berichtet man über Wirkungen und unterschlägt die Ursachen - etwa, als neulich ein israelischer Raketenangriff auf Palästinenserstellungen gemeldet wurde, nicht aber, dass zuvor ein tagelanger Raketenbeschuss auf israelisches Gebiet stattgefunden hatte. Wo waren da die Anfänge, denen man wehren wollte?

Es ist sehr leicht, sich heute von den Nationalsozialisten zu distanzieren, zumal die zeitliche Entfernung eine solche Distanzierung zunehmend erleichtert. Gleichzeitig sinkt die Hemmschwelle, die nationalsozialistischen Machthaber zu psychologisieren und zu vermenschlichen und ihren Verteidigern damit ein ihnen willkommenes Instrumentarium in die Hand zu geben.

Vor allem besteht die Gefahr darin, tunnelblickartig auf die Zeit von 1933 bis 1945 zu sehen und alle Details ans Tageslicht zu holen, selbst wenn diese Details für das Gesamtbild irrelevant sind. Doch die Anfänge, denen man heute wehren muss, liegen längst nicht mehr im Jahr 1933 und in der Zeit davor. Die Vermenschlichung der NS-Verbrecher ist dabei ebenso problematisch wie die Blindheit gegenüber jenem neuen Antisemitismus, dem die Veröffentlichung von Himmler-Briefen gewiss nichts entgegensetzt. Im Grunde muss man sogar bezweifeln, dass sie jenem Nationalsozialismus etwas entgegensetzt, den sie zu treffen vermeint.

Katrin Himmler und Michael Wildt Hg Himmler privat – Briefe eines Massenmörders. Piper 2014,
399 Seiten, 24,99 Euro.