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Voltaire, ein Vater des Vampirs

Von Christa Hager

Wissen

Der Historiker Christoph Augustynowicz über Vampirismus in der Geschichte und in der Literatur - Mit Audioauszügen


"Wiener Zeitung": Kann man die mythologische Gestalt des Vampirs auf einen Ursprungsmoment zurückführen oder ist sie eine Entwicklung über Jahrhunderte hinweg?

Christoph Augustynowicz: Sie ist eine langfristige Entwicklung. Goethe zum Beispiel rekurriert mit der "Braut von Korinth", einem Wiedergänger-Mythos, auf ein antikes Vorbild.

Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit wiederum gibt das Bild des Totentanzes. Konkrete Vampir-Formen sind aber erst seit dem 18. Jahrhundert während der Zeit der Aufklärung sichtbar, als mit dem Vampirglauben und mit der Auseinandersetzung damit die Grenze zwischen Leben und Tod neu verhandelt wurde. Generell bringen gesellschaftliche Umbrüche immer Untoten-Konjunktur mit sich. Allerdings ist die Gestalt des Vampirs auch immer eine Frage des Konzeptes, wie man ihn definiert.

Wer oder was ist dann ein Vampir?

Die Definitionen sind sehr breit. In der akademischen "Vampirologie" geht man davon aus, dass ein Vampir jemand ist, der oder die Blut saugt, irgendwelchen Schadenszauber ausführt, wiedergeht - also von den Toten wiederkommt und in diesem Sinne am Leben hängt. Außerdem ist der Vampir stofflich: Geistererscheinungen, Lichterscheinungen sind ebensowenig gemeint wie Voodoo, Zombies oder kollektive Erscheinungen. Der Vampir ist individuell.

Der Vampir als Blutsauger, als Parasit, ab wann setzt sich dieses Bild durch?

Es wurde an der habsburgisch-osmanischen Grenze in den 1720er und 1730er Jahren beobachtet und beeinflusste in Folge die akademische Diskussion. Der Vampir wurde sehr schnell zu einer Metapher für das Verharren im Feudalismus, für eine nicht erfolgte Emanzipation des Bürgertums. Blutsauger wurden im übertragenen Sinn als Bild für diejenigen verwendet, die sehr parasitär von der Arbeit anderer lebten. Vor allem in Osteuropa war dieses Bild des ausgesaugten Bauern durch den Adel und durch den Juden sehr stark. Im 18. Jahrhundert wurde der Vampir dann binnen einer Generation zu einem Bild für soziale Ungleichheit, Modernisierungsdefizite und das West-Ost-Gefälle. Der Gegensatz zwischen fortschrittlichem Westen und rückschrittliche Osten wurde in diesem Jahrhundert eingeführt. Die Vampirfigur, die man im Osten sieht, war hierbei ein ganz zentrales Mittel, um das abzubilden.

Der Vampirismus ist also ein spezifisches Bild des Westens für Osteuropa?

Dieser Vampirismus und dieser Glaube an Wiedergänger wurden sehr früh als osteuropäisches Bild (darunter Böhmen und das heutige Ungarn, Polen, Bosnien, Kroatien oder Serbien) inszeniert. Allerdings war dieser Glaube des Nachzehrers, also des Untoten, der die Lebendigen ins Grab zieht, auch seit dem späten Mittelalter in Westeuropa sehr aktiv. Elemente des widerkehrenden Toten gab es vor allem an der deutsch-französischen Grenze, in Elsass-Lothringen etwa vermutete man Vampire.

Der Vampir war immer schon ein Phänomen, mit dem Grenzräume markiert wurden, ein Phänomen der nach Osten gedachten Peripherie. Er wurde dann in die osteuropäischen Räume ausgelagert und vor allem über die sprachlichen und religiös-konfessionellen Momente als fremd inszeniert: der Vampirglaube, der Vampirismus wäre ein Phänomen des orthodoxen Europa, hieß es. Das wurde als Fremdwahrnehmung perzipiert, verstanden bzw. missverstanden und führte sehr früh dazu, dass der Vampir als Teil eines osteuropäischen Fremdbildes wahrgenommen wurde. Vor allem Wissenschafter des 18. Jahrhunderts aus dem heutigen östlichen Deutschland haben dieses Bild perpetuiert. Interessant hierbei ist, dass der Großteil dieser Gelehrten, die sich dazu äußern, nie vor Ort waren.

Vermeintliche Vampire wurden damals im Zuge von Gräberöffnungen lokalisiert. Wie kam es dazu, dass man überhaupt in diese blickte?

Hier muss man zweierlei unterschieden: Zum einen galt in der Orthodoxie Nichtverwesung als ein Zeichen der Verdammnis. Als Teil des orthodoxen Begräbnisritus wurde ein Grab nach 40 Tagen geöffnet, um sich den Verwesungsstand anzusehen. In manchen Fällen verweste eine Leiche schneller, in manchen weniger. Heute wissen wir, dass Verwesung von vielen verschiedenen Umständen anhängt: zum Beispiel von der Beschaffung des Bodens oder von den Jahreszeiten.
Manche der für den Vampirglauben verantwortlichen Phänomene würden wir heute tiefenpsychologisch als Albdruck, als schwere seelische Last, interpretieren. Sie waren Auslöser dafür, dass an der Grenze zum osmanischen Reich - im heutigen Bosnien-Herzegowina - Gräber aufgemacht wurden und dass die vorgefundenen Leichen erstmals sehr detailliert beschrieben wurden.

Viele dieser Leichen waren für damalige Verhältnisse anscheinend erstaunlich schwach verwest und hatten Blut im Mund und im Bauch – das galt als Beweis für das Blutsaugen. Die Gerichtsmedizin gibt heute sehr klare Antworten darauf: Schuld an dem Blut sind die Verwesungsprozesse, die Fäulnisgase treiben die Flüssigkeiten nach außen und dort bleibt sie dann relativ lange flüssig.

Hinzu kommt, dass viele der damaligen Ärzte sich ständig neu erfinden wollten. Exhumierungen brachten zusätzliche Remunerationen. Diese waren für die schlecht bezahlten Beamten des Habsburgerreiches ein willkommenes zusätzliches Einkommen.

Unter Maria Theresia gab es einen Erlass, der alle Abwehrmaßnahmen wie das Pfählen, Köpfen und Verbrennen verbot. Welche Wirkung zeigte dieser?

Ein Wesen der Dunkelheit: Die Fledermaus.
© © Harry Briggs/Corbis

Das ist schwer zu sagen. Der Volksglaube wirkte sicherlich langfristig weiter. Fest steht, dass der Vampir-Diskurs in der Gelehrtenwelt rasch wieder aufhörte.

Waren diese vermeintlichen Vampire vornehmlich Frauen oder Männer, eher jung oder alt, Adelige oder Bauern?

Meist waren es Bauern und Leibeigene. Das Phänomen des Gutshofes oder des Schlosses, wie es bei Stokers "Dracula" inszeniert wird, kam soweit wir wissen in den Bildern des Volksglaubens nicht vor. Auch dieses Bild des Blutsaugers als Metapher stammte ausdrücklich vom Gelehrtendiskurs, das ist nichts, worauf die Betroffenen dort selber kamen.

Hinsichtlich Geschlecht und Generation gibt es keine klaren Zuweisungen. Dies widerlegt auch die These, dass der Vampir den Hexenglauben des 17. Jahrhunderts abgelöst hätte. Außerdem hörte der Vampirhype Mitte des 18. Jahrhunderts plötzlich auf, Hexenprozesse dauerten aber durchaus noch gut eine Generation lang an.

Ein Sprung zur Literatur: Gibt es hier einen Entstehungsmoment der Vampir-Figur?

Der Beginn des literarischen Vampirs geschah meine Erachtens ganz klar mit der Zuordnung zur sozialen Metapher des Blutsaugers durch Voltaire, dem großen Aufklärer. Er war der erste, der dieses Bild ganz gezielt verwendete und der sich diesbezüglich übrigens auch sehr profund antijüdisch äußerte. So hing er etwa der Idee an, dass die Juden Menschenfleisch essen würden. Mit Voltaire begann die Stilisierung und das ganz bewusste Mythologisieren: Man verwendete das Bild des Vampirs zur Darstellung von sozial und wirtschaftlich distinkten Personen, von Aristokraten, Adeligen. Auch das Erscheinungsbild von Vampiren veränderte sich wesentlich: Von Fäulnis oder Moder war keine Rede mehr, der Vampir war nun schmal, blass, ästhetisch. Er war gepflegt und wusste sich gut zu benehmen.

Meist wird Lord Ruthven von John Polidori, Leibarzt von Lord Byron, als Urmoment des literarischen Vampirs genannt.

Die erste große Figur, die dem Bild des Verführers entsprach, war der berühmte Lord Ruthven. Allerdings wurde bei ihm das Blutsaugen noch stark tabuisiert. Die spitzen Eckzähne traten übrigens erst bei dem irischen Autor Joseph Sheridan Le Fanu Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Bis dahin war nicht ganz klar, wie man sich die Ernährung des Vampirs physiologisch vorstellen sollte. Es gab zum Beispiel die Vorstellung, dass der Vampir wie die Insekten einen Rüssel hatte. So richtig kam die Darstellung des Bisses und des Blutsaugens aber erst mit dem Vampirfilm auf.

Studien haben gezeigt, dass rund zwei Drittel der Vampir-Figuren aus dem Adels-Milieu stammen.

Ein Großteil ist sicherlich in irgendeiner Form aristokratisch, später dann aber auch kapitalistisch. Für Kapitalismuskritik eignet sich der Vampir ganz wunderbar. Das Bild gibt es etwa bei Karl Marx, durchaus konnotiert mit antijüdischen Untertöten. Es spielt auch in der Arbeiterpresse eine große Rolle: Der Kapitalist als fledermausartig stilisierter Vampir zum Beispiel. Aber auch als Kritik im globalen Verhältnis zwischen "Erster" und "Dritter Welt" kommt er im kolonialen Kontext vor, es gibt Abbilder, auf denen England als Vampir Indiens stilisiert wird.

Warum ist die literarische Vampir-Gestalt vorwiegend im Osten und Südosten Europas zu finden?

Der Vampir ist auch in der Literatur eine Figur der Peripherie. Das zeigt sich auch in den neueren Vampirmythen. So spielen Serien wie True Blood oder Twilight in entlegenen Gegenden. Großstadtvampire wiederum sind eher selten - Bram Stokers "Dracula" kommt zwar in die Stadt, verlässt sie dann aber fluchtartig wieder.

Generell verortete die westliche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts den Vampir eher im Osten, während ihn der Osten gelegentlich wieder in den Westen zurück auslagerte. Dort werden die "Räume" der Geistergeschichten und des "Geisterschlosses" wiederbelebt.

Gibt es Unterschiede zwischen der osteuropäischen Vampirliteratur und der westeuropäischen?

Die Übernahme des Vampirmotivs durch osteuropäische Autoren bestätigte die Idee des Aufholbedarfes, als Teil einer Verwestlichung im Sinne einer Modernisierung. Alexander Puschkin zum Beispiel übernahm das Vampirmotiv nicht über die slawischsprachigen Räume, wo es den Volksglauben an Vampire gab, sondern über Prosper Mérimée oder Lord Byron als Moment der Verwestlichung. Die Autoren übernahmen generell eher westliche Motive, bei den Schauplätzen drehte man den Spieß aber ein bisschen um: Man wählte europäische Peripherien oder suchte nach Peripherien europäischer Herrschaft: Bei Iwan Sergejewitsch Turgenew zum Beispiel ist Südamerika als Sehnsuchtsort für Vampire abgebildet.

Die Vampirfigur erlebt seit einigen Jahren vor allem in der Popularkultur eine Renaissance. Welche gesellschaftlichen Umbrüche sehen Sie in diesem Zusammenhang?

Was die Umbrüche betrifft so zählen ganz allgemein sicherlich die neuen globalen Machtverhältnisse dazu, die verunsichern, sowie die damit verbundene Intransparenz und möglicherweise auch die mediale Revolution. So kann man vielleicht auch das Internet als Vampir verstehen, das einen ansaugt, das Wissen saugt. Die nicht lineare Vernetzung von Information ist ein klarer Umbruch, der hier vielleicht auch befördernd wirkt. Die Vampirfigur hat allerdings eine deutliche Wende durchgemacht: Zum einen wird sie zum Helden, zum anderen werden die Vampirjäger, wie Van Helsing, stark eingeblendet. Diese Ausdifferenzierung ist ein ganz wesentliches Merkmal.

Zur Person
Christoph Augustynowicz  ist außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien.

Literaturtipp
Christoph Augustynowicz / Ursula Reber (Hg.): Vampirglaube und magia posthuma im Diskurs der Habsburgermonarchie. Wien, Lit Verlag 2011.