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Gegen alle Fakten

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Kontrafaktische Geschichte befasst sich mit Annahmen - und wird mitunter für Geschichte gehalten.


Was, wenn Nikolai Ges Bild darstellen würde, wie Pilatus Jesus den Freispruch mitteilt?
© wikipedia

Geschichte, davon sind nahezu alle seriösen Historiker überzeugt, lässt sich nur aus gebührendem zeitlichen Abstand objektiv schreiben. Selbst das gelingt nicht immer. Mitunter aber wird Geschichte völlig bewusst gegen die Fakten erzählt. Kontrafaktische Geschichte kann im besten Fall ein spannendes Gedankenexperiment sein, sie kann aber, im schlechtesten Fall, bis zur Geschichtsfälschung führen. Dann nämlich, wenn die Spekulation als Tatsache ausgegeben, die Uminterpretierung von Fakten nicht als solche ausgewiesen wird.

Den meisten Historikern lässt kontrafaktische Geschichte die Haare zu Berge stehen. Naturgemäß, denn sie widerspricht allem, woran Historiker glauben, nämlich an gesicherte Fakten, aus denen Ursache und Wirkung abgeleitet werden. Dementsprechend wird Geschichte von einem bekannten historischen Punkt A zu einem bekannten historischen Punkt B auf der Basis von solchen Fakten erzählt. Diese zu gewichten und zu interpretieren, obliegt dem Geschichtswissenschafter.

Jesus freigesprochen

Ein konkretes Beispiel, das im laufenden Jahr vielleicht überstrapaziert wurde: Es ist unbestritten, dass die Ermordung des Thronfolger-Ehepaars Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg am 28. Juni 1914 in Sarajevo zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Wie groß die Kriegslüsternheit der einzelnen an diesem Krieg beteiligten Nationen war, welche eigenen Interessen sie verfolgten und wie sie auf den Krieg hinarbeiteten, haben Historiker in unzähligen Büchern dargestellt. Diese Interpretationen der Vorgänge ergänzen einander, widersprechen einander bisweilen, weichen indessen nicht von den jederzeit nachprüfbaren Fakten ab.

Kontrafaktische Geschichte indessen besteht aus Spekulationen. Eine der häufigsten ist, wohl, da sie die gesamte abendländische und einen guten Teil der morgenländischen Geschichte berührt: Was wäre gewesen, hätte der römische Statthalter Pontius Pilatus einen gewissen jüdischen Prediger namens Jeschua freigesprochen?

Dieses Extrembeispiel zeigt sofort die Grenzen (vielleicht auch den Unsinn) kontrafaktischer Geschichte: Sofort begibt man sich in die reine Fiktion. Gleichberechtigt stehen dann Spekulationen nebeneinander: Jeschua habe Maria Magdalena geheiratet, mehrere Kinder gezeugt und ein Leben in Ruhe und relativem Wohlstand geführt und sei nicht mehr weiter aufgefallen - eine Möglichkeit. Das Christentum wäre nie über eine kleine jüdische Sekte hinausgekommen und sei am Widerstand des Saulus schließlich zerbrochen; wir beteten in Europa heute Mithras an und feierten am 25. Dezember Sol Invictus - eine andere Möglichkeit. Judas habe Jeschua, auch das eine Möglichkeit, nach dem Freispruch getötet und sich selbst zum Messias erklärt. Hätte Pilatus dann Judas gekreuzigt? - Eine Spekulation zeugt die nächste. Wie sehr kann Geschichte fiktionalisiert werden?

Andere beliebte Spekulationen der kontrafaktischen Geschichte sind, was gewesen wäre, wenn
- Hannibal den Zweiten Punischen Krieg gegen Rom gewonnen hätte;
- Napoleon Russland besiegt hätte;
- die Südstaaten den Sezessionskrieg gewonnen hätten;
- das Attentat von Sarajevo vereitelt worden wäre;
- Hitler im Ersten Weltkrieg gefallen wäre;
- Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte?

Annahmen als Tatsachen

Doch was geschieht, wenn eine (bewusste oder unbewusste) kontrafaktische Geschichtsschreibung für korrekt ausgegeben oder lange Zeit dafür gehalten wird? Ein Ding der Unmöglichkeit? Schauen wir einmal genauer hin.

Natürlich kann eine kontrafaktische Geschichtsschreibung niemals in großem Maßstab geschichtsverändernd wirken. Teilaspekte der Geschichte jedoch können in erstaunlichem Ausmaß in kontrafaktischer Form tradiert werden - und das beginnend mit der Antike.

So wird es zwar den Anhängern der Präastronautik niemals gelingen, das Mitwirken außerirdischer Raumfahrer beim Bau der Pyramiden als historisches Faktum durchzusetzen, doch es glückte der überwiegend senatorischen Geschichtsschreibung der römischen Antike und der christlichen nachfolgender Jahrhunderte, Kaiser Nero zur Bestie aller Bestien zu stilisieren. Die Basis dafür ist ein kontrafaktisches Narrativ, eine Fiktion, die sich im Gewicht und auch in der Durchsetzungsfähigkeit, nicht aber in der Methode von der Annahme unterscheidet, der Priesterseminarist Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili sei dem Ruf der Religion gefolgt und nicht dem der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, deren Generalsekretär des Zentralkomitees er unter dem Kampfnamen Stalin wurde.

Widersprach der grundsätzlich pazifistische Künstlerkaiser Nero den militaristischen Idealen der antiken Historiographen, so war seine Verfolgung der Christen, von den antiken Geschichtsschreibern zu seinen wenigen guten Taten gerechnet, für die christliche Geschichtsschreibung inakzeptabel. Die Geschichtsschreibung entgegen den Fakten eines volksnahen, klugen und umsichtigen Herrschers änderte nicht den Lauf der römischen Geschichte, wohl aber einen ihrer Teilaspekte, nämlich die Biografie Neros.

Ideologie zähmt Geschichte

Kontrafaktische Geschichtsschreibung in größerem Ausmaß versuchten mit voller Absicht die Nationalsozialisten in ihrer Verzweiflung, die "arische Rasse" ebenso wenig archäologisch nachweisen zu können wie eine frühe germanische Hochkultur. Also instrumentalisierten sie die Antike für sich, indem sie die Geschichte in ihre Ideologie einpassten. Sie erfanden historisch nicht belegbare Völkerwanderungen und eine "arische" Ur-Kultur, die sich, von einem Nord-Atlantis ausgehend, nach Süden ausbreitete, nur um von dort durch das NS-Regime gleichsam zurückimportiert zu werden.

Eine andere kontrafaktische Geschichtsschreibung ist uns heute kaum bewusst: Im Zuge der Aufklärung wurden mit dem Christentum argumentierte Kampfhandlungen nach und nach prinzipiell zu Verbrechen stilisiert - mit den Kreuzzügen an erster Stelle. Christliche Ritter im Blutrausch gegen friedliche, tolerante Muslime hat sich als Bild in unserem Denken festgesetzt.

Der US-amerikanische Religionswissenschafter Rodney Stark belegt indessen auf der Basis klarer Fakten das Gegenteil. Nicht nur, dass dem Abendland das beispiellose Blutbad bei der Einnahme von Konstantinopel im Nacken saß: Muslimische Krieger massakrierten im Heiligen Land, Mönche ebenso wie christliche Pilger. Die Idee der Kreuzzüge fußte darauf, Anhängern des Christentums die Pilgerreise nach Jerusalem zu ermöglichen, ohne für ihr Leben fürchten zu müssen. Dass es im Zuge dessen zu Gräueltaten auch von christlicher Seite kam, ist unbestritten.

Wenn freilich Pilatus Christus freigesprochen hätte, müsste auch dafür ein anderes Szenarium erfunden werden. Vielleicht eines von Mithrasgläubigen gegen Zoroastrier.

Richard J. Evans: Veränderte Vergangenheiten (DVA, 219 Seiten, 19,99 Euro)
Rodney Stark: Gottes Krieger (Haffmans & Tolkemitt, 383 Seiten, 12,95 Euro)
Johann Chapoutot: Der Nationalsozialismus und die Antike, Philipp von Zabern, 500 Seiten,
49,95 Euro)