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Meine Freundin von der Stasi

Von Edit Rainsborough

Wissen

Edit Rainsborough über ihre Erinnerungen an den Fall der Mauer, von 1985 bis 1990 lebte die "WZ"-Mitarbeiterin in Ostberlin


"Fassaden wie bröckelnde Schminke – Berlin ist die Stadt, an die ich mich noch immer in Schwarz-Weiß erinnere."
© Tamás Féner

Der Fall der Berliner Mauer war ein Geburtstagsgeschenk. Eines, dass wir Ostberliner uns vielleicht schon lange gewünscht, mit dem wir aber so schnell nicht gerechnet hatten. Das Geschenk der grenzenlosen Freiheit. So sehr, wie ich mir die bunten Lichter Westberlins gewünscht habe. Und echte Hamburger von McDonalds statt Grilletta vom Alexanderplatz. Was meine Mutter sich damals im November 1989 tatsächlich zu ihrem Geburtstag gewünscht hatte, weiß ich nicht mehr. Doch weder meine selbstgemachte Schokoladentorte, noch bessere Noten in Mathe hätten es mit diesem ungreifbaren, unwirklichen Geschenk aufnehmen können.

"Es ist genau fünf Jahre her, dass ich als Vorbereitung auf die Arbeit in Berlin lange Seiten darüber lesen musste, welche Gefahren mich während meines Auslandsdienstes erwarten werden. Es ist genau fünf Jahre her, dass mir gesagt wurde, was ich nicht tun darf: über Privates telefonieren, schreiben, sprechen – ehrlich sein. Dafür darf ich überall einen Feind vermuten, konspirieren, den Kindern beibringen, dass man etwas anderes denken und etwas anderes sagen muss", schrieb meine Mutter über die Zeit in Berlin, die sie zwischen 1985 und 1990 am ungarischen Kulturinstitut verbrachte.

"Don't Worry, Be Happy" (Bobby McFerrin)

Also fuhren wir los. Von Budapest Richtung Berlin. An einem Augustmorgen des Jahres 1985 in unserem bis oben hin bepackten gelben Trabi. Die Skier am Dachgepäckträger brachten uns an der Grenze erstaunte Fragen ein. Die Kaffeemaschine hatten wir vergessen, ganz zum Leidwesen der Eltern, die von ihrem letzten Geld noch kurz vor der ungarischen Grenze eine neue kaufen mussten. Deutscher Filterkaffee war für Ungarn ungenießbar.

Als wir zwei Tage später in der Hauptstadt der DDR ankamen, um die nächsten Jahre unseres Lebens in einem damals unbekannten Land zu verbringen, hat niemand von uns auch nur geahnt, dass dieses Abenteuer uns zu Zeitzeugen einer historischen Freiheit machen würde. Dass diese seltsame Stadt meine Heimat werden würde. Eine Hassliebe, die mich nie wieder losließ.

Meine Mutter war jung, lebenslustig und naiv. Wir waren Kinder. Der Aufenthalt bot meinen Eltern die Möglichkeit, die Schulden für das Haus, das wir erst zwei Jahre zuvor bezogen hatten, in weniger als vierzig Jahren abzubezahlen. Dass ich Michael Gorbatschow bei seinem Berlin-Besuch 1986 mit Fähnchen zuwinken und mein Bruder bald Dusch-Monologe zur Unterhaltung der Abhöranlage halten würde, war uns nicht in den Sinn gekommen.

"Doch dass die Gefahr nicht aus dem Westen kam, wurde mir erst einige Wochen nach unserer Ankunft klar. Es waren nicht die Imperialisten, die uns abhören und umgarnen, sondern das Bruderland – mit riesigem Apparat und sehr umsichtig", erinnerte sich meine Mutter.

 Tamás Féner fotografierte im Herbst 1989 die Stadt für die Schau "Berlin mal anders".
© Tamás Féner

Ich lernte Deutsch. Kochte in allen Vergangenheitsformen Pudding und sprach innerhalb eines Jahres so gut Deutsch, dass ich sogar die Pausengespräche in der Schule verstand. Ick kann det heute noch janz jut. Meine neue Heimat. Komfortabler Plattenbau. Siedlung diplomatischen Elends. Ostblock. Kakerlaken im 13. Stock. Und überall dieser säuerliche Geruch. Absurditäten des Alltags.

Nostalgie überkommt mich heute noch, wenn ich an Berlin denke. Ich spreche nicht über Ostalgie, wie es später oft genannt wurde. Es ist keine Sehnsucht nach dem Osten, nach der Deutschen Demokratischen Republik, nach der Absurdität. Es ist die Sehnsucht nach der Kindheit. Nach der unbeschwerten Freiheit eines Kindes. Die Sehnsucht nach der Zeit des sorglosen Seins, die mir diese Stadt gab. Mit all seinen merkwürdigen Erscheinungsformen. Die lange Schlange vor einem leeren Stand vor der Kaufhalle und die Antwort einer jungen Frau "vielleicht jibt det Erdbeeren". Die Erinnerung an die Beschaffung von bulgarischem Pfirsichkompott, wenn es denn wieder einmal welches gab. Jedes Glas trugen wir wie Ameisen einzeln in unser Zuhause und legten uns damit einen Vorrat an. Die Erinnerung an sogenannte Bück-dich-Ware (von unterm Ladentisch), die mein Vater immer wieder nach Hause brachte. Der Geschmack von "Club Cola", picksüß und kohlensäurelos. Die Verwunderung über die Schuhabdrücke am Teppichboden, als wir vom Wochenendausflug zurückkamen. Und auch wenn Muttern schimpfte, stellten wir doch schnell fest, das sie keinem von uns gehörten. Von da an zierte ein Zettel mit "Bitte, die Schuhe ausziehen!" die Diele, wann immer wir die Wohnung verließen. Und wenn das Gespräch bei längeren Telefonaten wieder einmal unterbrochen wurde, scherzten wir nach nochmaligem Wählen: Das Abhörband war wohl zu Ende und musste gewechselt werden.

"I've been looking for freedom" (David Hasselhoff)

Es war der Humor und die kindliche Freiheit, die uns dieses System erträglich machte. Der Müggelsee. Die Reisen in den Ferien. Nach Rügen und Erfurt und in den Harz. Der erste Sonnenbrand an der Ostsee. Das gelb leuchtende Rapsfeld, das nach Großmuttern roch. Die erste heimlich gerauchte Zigarette. Die erste Liebe. Eine freie deutsche Jugend. FDJ.

 

Auf dem Schulweg kamen wir jeden Tag an einem Schlachthof vorbei. Es stank fürchterlich an heißen Tagen. Leninplatz, Dimitroffstraße, das Sport- und Erholungszentrum SEZ. Der Friedrichshain. Die Schönhauser Allee mit ihren U-Bahn-Bögen. Der Prenzlauer Berg, herrschaftlich heruntergekommen. Fassaden wie bröckelnde Schminke. Eine einst wohlhabende und schöne Frau. Verfallen, zugespachtelt, grau. Berlin ist die Stadt, an die ich mich noch immer in Schwarzweiß erinnere.

Ich fühlte mich hier nie fremd. Ich war Teil dieser Stadt. Teil des sozialistischen Alltags. Als braver Thälmann-Pionier organisierte ich Altpapiersammlungen an der Schule. Tauschte später das rote Halstuch gegen das Blauhemd der Freien Deutschen Jugend. Ich sang lauthals "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", nahm an Schießübungen teil und ging alle zwei Wochen ins VEB Elektrokohle Lichtenberg, um Kondensatoren für Haushaltsgeräte zusammenzuschweißen. Ich hasste es, wie jeder Jugendliche die Schule in diesem Alter hasst. Einführung in die sozialistische Produktion. Staatsbürgerkunde. Ganz normale Unwägbarkeiten des Lebens. Gemeinsam mit meinen Mitschülern wurde ich hier "erwachsen". In Berlin Ost. Hauptstadt der DDR. Ich hatte meine Freiheiten und durfte anlässlich meiner Jugendweihe im Frühjahr 1989 sogar ein Gläschen Rotkäppchen-Sekt trinken. Das große Buch mit dem weinroten Einband, das wir alle bekamen, und dessen Titel "Vom Sinn unseres Lebens" lautet, steht heute noch in meinem Bücherregal. Über den Titel habe ich keine Sekunde nachgedacht.

© Tamás Féner

1987 beging man feierlich 750 Jahre Berlin. Mit bunten Aufmärschen demonstrierte man im Osten die Überlegenheit des Sozialistischen Staates. Eine Scheinwelt. Doch bunt und fröhlich feierten wir mit. Auf westlicher Seite wurden die Feierlichkeiten zum Politikum. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan forderte Gorbatschow auf, die Mauer niederzureißen. "Mr. Gorbatschow, tear down this wall".

Ungarn, die "fröhliche Baracke", erlaubte seinen Bürgern bereits Reisen in den Westen.

Das erste Mal war ich 1988 in Wien. Schnitzel mit Kartoffelsalat. Grinzing. Der Prater. Alles war schön und sauber und voller Farben. Wir hörten Falco und EAV, die wir nur bruchstückhaft verstanden. Später die vorweihnachtlichen Lichter West-Berlins. Die Weihnachtsmärkte mit leuchtend roten, riesigen kandierten Äpfeln. Alles war von dem süßen Duft erfüllt. Die Heimkehr am Abend war ernüchternd. Hin und wieder bescherte uns ein Besuch im Intershop in Berlin die bunte Welt des Westens und schenkte uns für harte Währung ein Überraschungsei.

"Woke up this morning with my heart on fire" (Soulsisters)

Große Aufregung, als im Sommer 1989 DDR-Bürger in die Deutsche Botschaft in Budapest flüchteten und die Ausreise verlangten. Im September wurde in Ungarn die Grenze geöffnet. Viele DDR-Bürger kehrten von ihrem Urlaub am Balaton (Plattensee) nicht mehr in den Arbeiter- und Bauernstaat zurück. Auch unsere Freunde aus Dresden, die uns in diesem Sommer besuchten, sahen wir erst ein Jahr später in Nürnberg wieder.

 

Als nach der feierlichen Begehung des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 in unserer Küche die Bohnensuppe im Druckkochtopf explodierte und die kleinen Bohnenstückchen wie Splitter an der Decke klebten, hätten wir es bereits wissen können. Wissen sollen. Müssen. Oder zumindest ahnen, dass es nicht mehr lange gut gehen wird.

Meine beste Freundin, Katja, war ein Stasi-Kind. Ihre Eltern arbeiteten beim ADN, dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst, und verbrachten viele Jahre in China und Japan. Katja und ich, das Diplomatenkind, waren beide Kinder dieses Systems. Integriert und so frei, wie Kinder nur sein konnten. Wir hörten West-Radio. Rias2. Musik kennt keine Grenzen. Und auch die Fernsehuhr war nicht immer rund. Wir schimpften über das, was uns nicht gefiel. Aber demonstrieren gingen wir nicht. Unser politisches Bewusstsein beschränkte sich auf einen gesungenen Kampf für den Frieden. Doch die Massen, die immer lauter "Wir sind das Volk" riefen, begleiteten uns zu unseren regelmäßigen Theaterbesuchen. "Du gehst nicht demonstrieren", warnte meine Mutter ängstlich im Herbst 1989, "wir sind nur zu Gast in diesem Land!" Wir gingen lieber ins Theater und ließen die Geschichte an uns vorüberziehen.

Wir machten uns auch keine großen Gedanken über die politische und wirtschaftliche Zukunft des Landes. Was uns beschäftige, war, warum unser evangelischer Mitschüler, der kein FDJler war, nicht auf eine Erweiterte Oberschule (EOS) gehen konnte. Tun konnten wir wenig. Die Verlogenheit einer Gerechtigkeit. Das ganz normale Leben. Auch wir hatten unsere Schwierigkeiten mit der Wahrheit.

Nie werde ich Katja mit ihren geflochtenen Zöpfen vergessen, wie sie den Rezitationswettbewerb an der Schule gewann. Nie werde ich das Gedicht von Majakowski vergessen. "Zwei sind im Zimmer: ich und auch Lenin – / Er als Foto an weißer Wand. / "Genosse Lenin, ich will dir berichten, / Nicht als Beamter, eher als Sohn. / Genosse Lenin, ein gigantisches Verrichten / Steht uns bevor, doch wir meistern es schon."

Acht Feuerwehrwagen standen vor der Gethsemane-Kirche. Es brannte nicht. Die Stadt stand in Flammen. Christa Wolf richtete in der Aktuellen Kamera am Vortag des 9. November einen Appell an die Bevölkerung. "Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung, wir bitten sie, bleiben sie doch in ihrer Heimat, bleiben sie bei uns. Was können wir ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen." Es war die Vision eines demokratischen Sozialismus. Keine plötzliche Einverleibung in ein kapitalistisches System. Doch nicht alle wollten gehen, viele wollten bleiben und für Freiheit kämpfen. Sie wollten hinaus. Aber nicht für immer. Sie hegten die Illusion eines neuen Sozialismus, einer neuen freien Gesellschaft. Später warb Gregor Gysi mit Aufklebern und der Aufschrift "Don't worry, take Gysi" bei den ersten freien Wahlen. Wende? Nein. Revolutionäre Erneuerung! Christa Wolf sprach davon, dass Revolutionen von unten ausgehen. Wir befanden uns in einem Zwiespalt.

"Tell it like it is" (Don Johnson)

Am Abend des 9. November 1989 saßen wir mit Freunden in unserer Wohnung in der Leninallee 23. Plattenbau. Und feierten den Geburtstag meiner Mutter vor.

Im Fernsehen stammelte Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros, auf die Frage eines Journalisten, ab wann denn die "neue Reiseregelung" in Kraft treten würde, nur "ab sofort" und "unverzüglich". Wir waren fassungslos. Die Freude war verhalten. Wir haben uns nicht verhört. Eine Lawine an Gefühlen wurde losgetreten. Wir waren nicht vorbereitet. Das Volk verlangte die Öffnung der Grenzen. Eine Welt brach in jener Nacht zusammen. Ein Sickerwitz der Geschichte. Aber das wussten nur wenige.

Am Morgen des 10. November fuhren wir wie gewohnt zur Schule. Warfen zehn Pfennig in den Fahrkartenautomaten und zogen eine Fahrkarte heraus. Manchmal warfen wir auch kein Geld hinein oder zogen verschwenderisch zu viele Karten heraus. Ein schlampiger Fehler im sonst so genauen System. Der Unterricht verlief wie gewohnt. Kein Wort von der Öffnung der Mauer. Eine allgemeine Anspannung und Unruhe war aber den ganzen Tag zu spüren. Wir alle wussten, dass wir am Nachmittag nach West-Berlin fahren würden. Ohne Grenzkontrollen. Mit der S-Bahn vom Bahnhof Friedrichstraße zum Bahnhof Zoo. Ein Besuch beim Klassenfeind. Fassungslose Normalität. Hier gab es in den Geschäften noch Sekt. Später versuchten wir uns als Mauerspechte, doch unsere Werkzeuge und unsere Kraft reichten nicht aus, um wirklich große Stücke aus der Mauer zu schlagen. Und da standen wir nun, mit unseren Freunden am Ku'damm vor dem Café Kranzler und konnten es nicht fassen.

"I can feel it coming in the air tonight" (Phil Collins)

Dann ging alles sehr schnell. Die Gewissheit, dass Freunde uns bespitzelten. Enttäuschung über die Informanten. Die Erinnerung an Sommernachmittage mit Rhabarberkuchen und Vanillesauce bekamen einen schalen Beigeschmack. Stasi-Akten. Vielleicht waren wir zu naiv. Wir sind doch gewarnt worden. Neben der Freude machte sich Angst und Unbehagen breit. Was war der Preis der neuen Freiheit? Bald sprach man von Wiedervereinigung. "Wir sind ein Volk." Und kaum einen Monat später legte Helmut Kohl einen entsprechenden Plan vor. "Die EG darf nicht an der Elbe enden, sondern muss die Offenheit auch nach Osten tragen", sagte er vor dem Bundestag. Wir wussten nicht, was auf uns zukam. Es war eine Zeit zwischen den Welten. Zwischen Alltag und Traum. Der Wechselkurs eins zu eins. Westliche Waren im Konsum.

Zu Silvester feierten tausende Menschen am Brandenburger Tor. Freudentaumel. Die knallenden Sektkorken erinnerten mich an die Bohnensuppenexplosion. Wir hätten es wissen müssen, wie schnell es gehen kann. Aber wir wussten nicht, was alles noch kommen würde. Nur eines war klar: Unsere Tage in Berlin waren gezählt.

Am Morgen des 1. Januar 1990 knirschte ein zentimeterhoher Teppich aus Glasscherben unter unseren Schritten auf der Straße Unter den Linden. Die leeren Sektflaschen blieben stumme Zeugen des trunkenen Glücks im grenzenlosen Berlin.

Der Fall der Berliner Mauer war ein Geburtstagsgeschenk. Das schönste Geschenk, das meine Mutter uns machen konnte.