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Mehr als ein Beobachter

Von Christian Hlavac

Wissen

Vor 200 Jahren starb Charles-Joseph de Ligne in Wien. | Der Offizier, Diplomat und Dichter prägte den Begriff vom "tanzenden Kongress", was seine Rolle als Teilnehmer am damaligen Geschehen aber nur unvollständig wiedergibt.


Schloss Beloeil in Wallonien, der Familiensitz, auf welchem Ligne in Friedenszeiten oft lebte.
© Hlavac

Charles-Joseph de Ligne ist ob seiner zahlreich überlieferten Bonmots in die europäische Geschichte eingegangen. Seine letzte schlagfertige Bemerkung machte er am Totenbett: Anfang Dezember 1814 konnte er aufgrund eines "bösartigen Rothlauffiebers" (laut Totenschauprotokoll) nur mehr im Bett liegen. Henrich Graf zu Stolberg-Wernigerode berichtet in seinem Tagebuch, dass eine Tochter Lignes, Marie-Louise-Elizabeth Clary, an seinem Bett niedergekniet und des Vaters Hand geküsst haben soll. Dies soll er auf Französisch mit "Mein Gott, betrachten Sie mich schon als einen Heiligen?" kommentiert haben.

Er spielte damit auch darauf an, dass er - obwohl politisch ohne Einfluss und ohne Vermögen - eine zentrale Figur am Wiener Kongress war, dessen erste Monate er als 79-Jähriger noch erlebte. Zahlreiche Teilnehmer des Kongresses berichteten von den Einladungen des "von Geist und Witz sprießenden" Fürsten in dessen einfachem Haus auf der Mölkerbastei. In diesem Gebäude fiel auch sein bekanntestes Bonmot, welches verkürzt und seines Sinnes beraubt, als "Der Kongress tanzt" in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist.

Mehrere Versionen

Die Interpretation des Ausspruches ist schwierig, weil Ligne ihn kurz vor seinem Tod machte. Wenn er nicht bald darauf gestorben wäre (am 13. Dezember 1814), hätte er sein Bonmot sicher irgendwann in einer seiner Schriften veröffentlicht. So aber sind wir auf Zeitzeugen angewiesen, die den Ausspruch in mehreren Versionen überliefert haben.

Am häufigsten sind die drei Varianten "Le congrès ne marche pas; il danse" (Der Kongress kommt nicht vom Fleck; er tanzt), "Le congrès danse, il ne marche pas" (Der Kongress tanzt, aber er schreitet nicht voran) und "Le congrès danse bien, mais il marche mal" (Der Kongress tanzt gut, aber es funktioniert nicht richtig) nachzuweisen. In den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch ist nur "Der Kongress tanzt" eingegangen, womit der feine französische Wortwitz verschwunden ist.

In zahlreichen Beiträgen rund um das Jubiläum "200 Jahre Wiener Kongress" wird seine Bemerkung über die politische Veranstaltung missverständlich interpretiert: Ligne nahm weder nur Bezug auf das reiche kulturelle und vergnügliche Programm, noch kritisierte er ausschließlich die Schwerfälligkeit der Verhandlungen. Der Ausspruch lebt von der Vielfältigkeit des Verbes "marche". Dies bedeutet "laufen", "gehen" im Sinne von funktionieren, "arbeiten", aber auch "schreiten". Diese Doppeldeutigkeit betraf auch Ligne selbst, da er als berühmter Mann - trotz hohen Alters - Teil der Wiener Festivitäten war. Bei einem gemeinsamen Besuch mit Auguste Graf de La Garde in seinem Sommersitz am Kahlenberg meint Ligne im Herbst 1814, dass er hier "dem Getümmel der Feste [entrinne], der Ermüdung des Vergnügens und dieser Masse von Hoheiten. Hier [ . . .] schöpfe [ich] neue Kräfte, die ich dann jeden Abend in dem unaufhörlichen Freudenrausch des Kongresses wieder vergeude".

Charles-Joseph François-Lamoral-Alexis de Ligne - geboren am 23. Mai 1735 in Brüssel - ist als Offizier, Diplomat, Dichter, Briefschreiber, Europa-Reisender, Gartenpublizist und Gartenbesitzer in die europäische Geschichte eingegangen. Er stammte aus einer Reichsfürstenfamilie mit dem Stammschloss Beloeil (Wallo-nien), welches von 1714 bis 1794 in den Österreichischen Niederlanden lag.

Europäische Wurzeln

Die Verbundenheit des Hauses Ligne mit dem regierenden Hause Habsburg ging so weit, dass Kaiser Karl VI. und dessen Frau Elisabeth Christine Taufpaten von Charles-Joseph wurden. Durch seine Tätigkeit als Kammerherr in jungen Jahren am Wiener Hof, seine Zeit als Offizier der österreichischen Armee und seine verwandtschaftlichen Verhältnisse mit böhmischen, ungarischen und österreichischen Adelsfamilien lebte er sich in die österreichische, ständische Kultur ein, ohne seine europäischen Wurzeln zu negieren.

Ein Grund mag darin liegen, dass er mit einunddreißig Jahren das Familienvermögen mit Besitzungen im Hennegau, in Flandern, Frankreich, Polen, Österreich, Spanien, Böhmen und auf der Krim übernahm. Er nannte sich in Österreich einen Franzosen, in Frankreich einen Österreicher - und einmal so, einmal so in Russland.

Seine zahlreichen zu Lebzeiten veröffentlichten Briefe machten Ligne zu einer in Europa berühmten Persönlichkeit. Johann Friedrich Reichardt berichtet in seinen "Vertrauten Briefen" von seinen Besuchen bei Ligne in Wien: Dieser sei trotz des hohen Alters "lebhaft", und ihn zeichne ein "stets reger, sprudelnder Witz" aus.

Graziöse Leichtigkeit

Einige Zeitgenossen und Biographen schrieben ihm bestimmte Eigenschaften zu. Goethe verlieh ihm das Prädikat "frohster Mann des Jahrhunderts", Voltaire betitelte ihn als einen der "liebenswürdigsten Menschen Europas". Die knappe, pointierte Ausdrucksweise, seine Heiterkeit und seine "graziöse Leichtigkeit" besaßen im Zeitalter des Rokoko ein hohes Ansehen, jedoch am Ende seines Lebens waren die lebensfrohen Epochen des Spätbarocks und Rokokos bereits vorbei; die Französische Revolution und Napoleon Bonaparte fegten das Ancien Régime von der politischen und gesellschaftlichen Bühne.

"Hôtel de Ligne"

Mann mit Witz: Charles-Joseph de Ligne (1735-1814).
© Hlavac

In Friedenszeiten lebte Ligne die meiste Zeit in Brüssel, in Paris oder auf dem Familiensitz Beloeil. Nachdem die Französische Revolution auch die Österreichischen Niederlande erreicht hatte und Österreich gegen die durch die Franzosen unterstützten Aufständischen eine Niederlage erlitt, verlor Ligne seine Besitztümer. Er übersiedelte daher im Jahr 1794 ganz in die Residenzstadt Wien.

Ligne reiste nicht mehr ständig; in Wien lebte er länger als zuvor jeweils in Paris, Brüssel oder Beloeil. Sein "Hôtel de Ligne" war ein kleines schmales Wohnhaus an der Adresse Mölkerbastei Nr. 96 mit einem kleinen Balkon und mit zwei Stuben, einer Kuchl sowie einem Boden. Trotz der Beengtheit des Hauses wurden seine Einladungen sehr gerne angenommen. So speiste unter anderem der Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall im Jahre 1808 bei Ligne in dessen Haus, und war 1814 bei einer Soirée zu Gast. Das Haus war ebenso wie das Stall- und das Dienergebäude "rosenrot getüncht". Neben dem kleinen Palais hatte sich Ligne zwei Sommersitze als Rückzugsmöglichkeiten geschaffen: am Kahlenberg und am Leopoldsberg.

Die Beziehung zu Kaiser Franz II. (I.) war, im Gegensatz zu jener mit Maria Theresia, Joseph II. und Leopold II., unterkühlt. Dies lag unter anderem daran, dass der Freimaurer Ligne in seiner Wiener Zeit mit französischen Revolutionären Kontakt hatte und sie in sein "offenes Haus" einlud. Die beiden Staatskanzler Johann Amadeus Franz de Paula Freiherr von Thugut und Clemens Lothar Wenzel Fürst von Metternich ließen ihnen daher, trotz seines hohen Alters, aufgrund seiner Kontakte zu "Aufrührern" und Revolutionären durch die Wiener Polizei überwachen.

Lignes positiver Bezug zu seinen beiden Sommersitzen am Kahlenberg und Leopoldsberg kam auch nach seinem Tod deutlich zum Ausdruck: Er ließ sich am Kahlenberger Waldfriedhof bestatten; sein Grab existiert noch heute. Im Gegensatz zur Abgeschiedenheit seiner Grabstelle stand sein Begräbnis am 15. Dezember 1814: Um 12 Uhr fand die öffentliche Einsegnung des Feldmarschalls in der Schottenkirche durch Generalvikar Joseph Chrysostomus Pauer statt. Der Trauerzug mit drei Regimentern Infanterie, zwei Regimentern Kavallerie und 24 Kanonen wurde - wie bei Begräbnisfeierlichkeiten von Generalfeldmarschällen üblich - von einem schwarzen, geharnischten Ritter am Pferd begleitet.

Lignes Leichenzug

Das Begräbnis war ein gesellschaftliches Ereignis, an dem als Beobachter in der Stadt, an der Stadtmauer oder an den Fenstern Kaiser, Fürsten und Diplomaten teilnahmen, die zum Kongress nach Wien gekommen waren. Joseph von Hammer-Purgstall dürfte einer der wenigen gewesen sein, der den Leichenzug Lignes bis zum Kahlenberger Friedhof begleitete. Später wurden im gleichen Grab Lignes Frau Prinzessin Franzisca-Xaviera von Liechtenstein und Sidonie, eine seiner Enkelinnen, beigesetzt.

Da sowohl das Haus auf der Mölkerbastei abgerissen wurde als auch seine beiden Sommersitze nicht mehr existieren, bleibt nur das Grab als gebaute Erinnerung an einen der berühmtesten Mitteleuropäer des langen 18. Jahrhunderts. Vor allem seine unüberschaubare Anzahl an Schriften, die teilweise nach seinem Tod über Jahrzehnte (neu) herausgegeben wurden, weisen Charles-Joseph de Ligne als aufmerksamen Chronisten seiner Zeit aus, der - geboren in der Phase des Spätbarock - den "aufgeklärten Absolutismus" Maria Theresias, die Liberalisierung unter Joseph II., die Revolution in weiten Teilen Europas und die Neuordnung des Kontinents am Beginn des 19. Jahrhunderts miterlebte und oft pointiert kommentierte.

Die Reduktion seiner Person auf das oft verkürzte Bonmot "Der Kongress tanzt" wird seinem Wesen jedenfalls nicht gerecht. Charles-Joseph de Ligne war nicht nur passiv - als Beobachter und Chronist - am damaligen Geschehen beteiligt, sondern spielte als Diplomat und Offizier eine aktive Rolle im politischen und militärischen System seiner Zeit.

Christian Hlavac ist Gartenhistoriker, Publizist und Ligne-Biograph. Er forscht seit mehr als 15 Jahren über Charles-Joseph de Ligne.