Zum Hauptinhalt springen

Ein Opfer des Hasses

Von Gerhard Strejcek

Wissen

Vor 150 Jahren wurde Abraham Lincoln von einem politischen Fanatiker erschossen.


Das Attentat auf den Präsidenten während einer Theateraufführung. Abb.: Zeitgenössische Darstellung/Wikipedia

Als der Schauspieler John Wilkes Booth sich am 14. April 1865 dem US-Präsidenten Abraham Lincoln von hinten näherte und diesen in seiner Loge des Ford-Theaters von Washington meuchlings erschoss, tötete er eine politische Integrationsfigur. Ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, starb tags darauf jener Präsident, der bis heute (laut seinem Biografen Nagler) noch vor George Washington und Franklin D. Roosevelt im kollektiven Bewusstsein als "groß" gilt.

Der Mörder beendete mit Gewalt die zweite Amtszeit des Präsidenten, der gerade die größten Triumphe seines Lebens gefeiert hatte: die endgültige Niederlage seines Kriegsgegners im Süden und die Wiederwahl ins mächtigste Amt der USA. Der Hass darüber war das Hauptmotiv des Schützen, der als politischer Fanatiker galt. Er gehörte einer Verschwörergruppe an, die am selben Abend auch versuchte, den Außenminister Seward zu ermorden, was allerdings misslang. Seward wurde verletzt, überlebte aber den Anschlag. Mehrere Verschwörer wurden im Juni 1865 hingerichtet, Lincolns Mörder starb schon früher.

Lincoln und Kennedy

Es gibt Parallelen zwischen diesem Attentat und der Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy 98 Jahre später. So wie ein Begleiter Lincolns durch einen abgeirrten Schuss zu Schaden kam, wurde 1963 in Dallas der texanische Gouverneur, der neben John F. Kennedy saß, verletzt. Und grauenhafterweise musste Frau Lincoln ihren tödlich getroffenen Gatten in ihren Schoß betten, genau wie Jackie Bouvier Kennedy später. Beide Attentäter wurden vor ihrem Prozess durch Dritte erschossen: Booth bei einem Schusswechsel in Virginia, Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald bei seiner Vorführung durch Jack Ruby.

Gerade weil beide Attentate die amerikanische Nation erschütterten, wurden die erstaunlichen Parallelen zwischen Lincoln und Kennedy immer wieder hervorgehoben: Genau hundert Jahre lagen zwischen dem Termin der ersten Wahl beider Präsidenten (Lincoln: 1860; Kennedy: 1960), beide Präsidenten hatten einen Nachfolger namens Johnson (1865: Andrew Johnson; 1963: Lyndon B. Johnson). Eine unheimliche Rolle spielten auch die Namen bzw. Marken Ford/Lincoln: Lincoln wurde im Ford-Theater erschossen - Kennedy in einer "Lincoln-Limousine" (die Automarke war 1917 von Leland zu Ehren Lincolns gegründet worden).

Allerdings: Was die Herkunft und das soziale Umfeld betraf, konnten die Unterschiede zwischen dem reichen, aus Boston stammenden Demokraten Kennedy und dem Aufsteiger und Republikaner Lincoln größer nicht sein. Am Anfang seines Lebenswegs schien es Lincoln weder bestimmt zu sein, Präsident der USA zu werden, noch überhaupt je in die Elite des damals erst drei Jahrzehnte alten Bundesstaates vorzudringen.

Der am 12. Februar 1809 geborene Lincoln stammte aus dem ländlichen Kentucky und wuchs in einer wenig begüterten Familie an der Grenze zur Wildnis (frontier) auf, da die Familie 1816 nach Indiana und 1830 nach Illinois zog. Er arbeitete als Holzfäller, Flößer, Knecht, Postmeister, Landvermesser und Kaufmannsgehilfe und schloss sich als 24-jähriger "Captain" dem Kampf gegen den Häuptling Black Hawk und die Sauk-Indianer an. Ein markanter Unterschied bestand zu den begüterten und kultivierten, meist gallophilen Großgrundbesitzer-Familien aus Virginia, welche so berühmte und umfassend gebildete Politiker wie George Washington oder James Madison hervorgebracht hatten. Lincolns Eltern stammten zwar auch aus dieser Gegend, waren aber Baptisten und entschieden sich für ein Farmerdasein im Westen.

Sohn Abraham war ein self-made-man, er studierte auf eigene Faust, meist fernab der Hörsäle, und schaffte es bis zum Anwalt in Springfield. Als Politiker begann er bei den Whigs, also den Liberalen, die im Jahr 1852 zerfielen. Lincoln wurde zunächst ins Repräsentantenhaus des Staates Illinois gewählt, wo sich erstmals seine Redegabe zeigte. Dann wechselte er als Abgeordneter in den Bundes-Kongress und wurde schließlich Senator. Seine unpopuläre Gegnerschaft zum Mexikokrieg des Generals und nachmaligen Präsidenten Zachary Taylor erregte Aufsehen.

Republikanischer Sieg

Ab 1854 schloss sich Lincoln den neu gegründeten Republikanern an. Sein Wahlkampf gegen Senator Stephen Douglas 1858 war legendär, doch die große Chance kam zwei Jahre später, im Mai 1860, als man ihn in Chicago zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl kürte.

Die Demokraten waren in der Frage der Abschaffung der Sklaverei und des Baumwoll-Außenhandels gespalten. So konnte Lincoln im Dezember 1860 knapp gegen zwei demokratische Kandidaten siegen, die zusammen deutlich mehr Stimmen als er erhalten hatten.

Als der erste republikanische Präsident sein Amt antrat, war dies das Signal für die Südstaaten zur Sezession. Neben der Sorge um die bundesweite Abschaffung der Sklaverei taten sich tiefgreifende Mentalitätsgräben auf. Der moderne und industrialisierte Norden stand gegen den feudalen Süden. Staaten wie Virginia verweigerten dem Bund die Treue und schlossen sich den "Aufständischen" (so Lincolns Diktion) an. Zum Präsidenten wählten die Konföderierten den Demokraten Jefferson Davis, mit den Schüssen auf Fort Sumter in South Carolina begannen am 21. April die Feindseligkeiten - der Sezessions- oder Bürgerkrieg hatte begonnen. Er sollte 620.000 Opfer fordern.

Mit der einigenden Figur Lincolns starb auch die Hoffnung auf eine rasche Versöhnung der tief verfeindeten Kriegsparteien. Die Mühen der Wiedervereinigung sollten noch Jahrzehnte andauern, der Rassismus und die Ressentiments trotz dreier Verfassungszusätze sogar noch ein Jahrhundert weiter schwelen.

Der Präsident hatte Anfang März 1865, eineinhalb Monate vor seiner Ermordung, die Angelobung und Amtseinführung gefeiert. Er hatte angekündigt, alles daran zu setzen, die Konföderierten Staaten von Amerika herbeizuführen und die rund zehn Millionen Bewohner der abtrünnigen Südstaaten zu guten und loyalen US-Bürgern zu machen. Dabei setzte er auf Versöhnung und rasche Wiedereingliederung, sodass sein Heimatstaat Kentucky bald nach dem Krieg wieder in seine Rechte als Unionsstaat eingesetzt werden konnte (länger dauerte es bei Texas). Der Sezessionskrieg hatte trotz seines enormen Blutzolls einen technologischen Schub gebracht; gepanzerte Schiffe ersetzten die hölzernen, U-Boote fungierten als Blockade-Brecher, am Feld taten unzählige Geschütze ihre grauenhafte Tötungsarbeit.

Zunächst war der Krieg unentschieden verlaufen, den Generälen des Präsidenten, darunter McClellan, gelang es nicht, die südliche Hauptstadt Richmond (Virginia) einzunehmen. Lincoln warf ihnen Versagen vor und tauschte mehrfach das Kommando aus. Auf der Seite der Konföderierten agierten besser ausgebildete Offiziere, viele von ihnen waren in West Point ausgemustert worden, der besten militärischen Schule des Kontinents. An der Spitze der Südstaatenarmee stand der strategisch klug agierende General Robert Lee, der, aus Virginia stammend, selbst gegen die Sklaverei eingestellt war, aber aus Loyalität zu seiner Heimat gegen die Bundesarmee kämpfte.

Der Weg zur Einheit

Lange Zeit hatte Lincoln der motivierten und beweglichen Konföderierten-Armee nur wenig entgegenzusetzen. Die Situation änderte sich erst, nachdem die Westarmee der USA den ganzen Mississippi beherrschte und damit einen Keil zwischen die Südstaaten getrieben hatte. Im Osten markierte die verlustreiche Schlacht bei Gettysburg mit über 50.000 Gefallenen im Juni 1863 die Wende. Die Generäle Ulysses S. Grant, William Tecumseh Sherman und Philip Henry Sheridan verwüsteten hernach das Feindesland (der "totale Krieg" war somit keine Erfindung von Josef Goebbels). Schließlich musste der ressourcenmäßig unterlegene Gegner unter General Lee am 9. April 1865 bei Appomattox kapitulieren.

Lincolns Hauptanliegen, das seine ganze Amtszeit dominiert hatte, war es - unter Berufung auf den American spirit, die Leistungen der Gründerväter und die Kohäsionskraft der erfolgreichen US-Verfassung von 1787 -, die auseinanderdriftende Nation wieder zusammenzuführen.

Paradigmatisch waren seine feierlichen Worte anlässlich der Eröffnung des Kriegerdenkmals und Friedhofs in Gettysburg am 19. 11. 1863. Er ließ sich nicht zu einer siegesbewussten Tirade gegen die "Aufständischen" und abtrünnigen Sezessionisten hinreißen, sondern ehrte alle Gefallenen gleichermaßen. Es gibt unscharfe Fotografien davon, wie der Präsident auf einem Hügel steht und von Zuhörern umringt wird.

Dank der Nachwelt

Lincoln sagte wörtlich, dass sich die Nachwelt nicht mehr an diese Rede erinnern werde - das Gegenteil ist der Fall. Wie der Kieler Historiker Martin Kaufhold darlegt, dauerte die Hauptrede eines heute unbekannten Harvard-Professors mit Dutzenden klassischen Zitaten zwei Stunden und wurde begeistert aufgenommen, während Lincolns kurze Ansprache daneben fast unterging. Gleichwohl hatte er mit wenigen Worten die gesamte Gründungsgeschichte der Nation zitiert und die "Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk" eingemahnt (das Original klingt noch treffender).

Die Schlussworte sind in Goldlettern am Lincoln Memorial in Washington verewigt. Auch das große New Yorker Lincoln Center mit der Metropolitan Opera und anderen Theatern erinnert an den verehrten Präsidenten.

Als Resümee bleibt, dass sich kaum ein Präsident der Vereinigten Staaten so tief in das Bewusstsein einer ganzen Nation eingeprägt hat wie der 1809 geborene und am Karfreitag 1865 ermordete Abraham Lincoln, den seine Zeitgenossen mit Recht "Honest Abe" nannten und dem Walt Whitman das berühmte Gedicht "O Captain, my Captain" widmete.

Literatur
Jörg Nagler: Abraham Lincoln: Der große Präsident. C. H. Beck, München 2013.
Christof Mauch (Hrsg): Die amerikanischen Präsidenten. 44 Portraits von George Washington bis Barack Obama, C.H. Beck, München 2013 (Beitrag von Jörg Nagler über Lincoln, S. 173-192).
Martin Kaufhold: Die großen Reden der Weltgeschichte. Marix Verlag, Wiesbaden 2009 (Gettysburg Address auf S. 111-117).
Udo Sautter: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Kröner, Stuttgart 2013.

Der Autor
Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Leiter des Zentrums für Glücksspielforschung an der Universität Wien.