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Die Idee Europa

Von Manfred Matzka

Wissen
Delegiertensitzung beim Wiener Kongress 1814/15, Gemälde von Jean Baptiste Isabey.
© corbis

Ausstellung zu 200 Jahre Wiener Kongress wird am 9. Juni am Originalschauplatz eröffnet.


Ab 9. Juni ist Europa am Ballhausplatz zu Gast. In einer Publikumsausstellung lassen das Bundeskanzleramt und das Staatsarchiv den Wiener Kongress, der vor genau 200 Jahren hier stattgefunden hat, am Originalschauplatz wieder lebendig werden.

Die Schau soll weniger bekannte Facetten jener bedeutsamen Konferenz ins Licht rücken, aktuelle Bezüge herstellen und die vielen Dimensionen der Monate von Oktober 1814 bis Juni 1915 verbinden. Die Besucher können das Innerste des Metternich-Palais erleben und Beethovens Rolle als Star des musikalischen Rahmens; Symbole sollen provozieren, Parallelen zum heutigen Europa werden nicht versteckt. Unerwartete Objekte sollen zeigen, dass eine Auseinandersetzung mit dem tanzenden Kongress und dem kutschenfahrenden Metternich alles andere als eine bieder(meierlich)e und romantisierende Erzählerei über Restauration und Mätressen sein kann.

Metternich erfuhr alles

Kern der Ausstellung ist der Schauplatz des Kongresses, die geheime Hof- und Staatskanzlei - damals Amtssitz und Wohnpalais des Kanzlers, heute Bundeskanzleramt. Es wird als integraler Teil der Schau immer zu besichtigen sein, sofern keine Ministerratssitzungen oder andere offizielle Aktivitäten stattfinden. Hier gingen die Verhandler fast täglich aus und ein. Im Hochparterre hatten die Diplomaten ihre Kanzleien, in der Beletage lagen die Konferenzzimmer, Metternichs Büro und der große Kongresssaal.

Die Beratungen erfolgten in mehreren Räumen, in lockerer Atmosphäre, wie das berühmte Bild von Isabey erkennen lässt, das die Runde offenbar im Kanzlerzimmer abbildet. Dieser war über alles informiert - auch über Sitzungen im Kongresssaal, an denen er gar nicht teilgenommen hatte. Am Plafond befanden sich nämlich vier Lüftungsgitter. Sie dienten nicht nur der Frischluftzufuhr - über dem Saal hatte Metternich seine Schreiber postiert und dank ausgezeichneter Akustik konnten sie jedes Wort mitverfolgen.

So entstand am Ende ein völkerrechtlicher Vertrag aus vielen Dokumenten. Den großen europäischen Verträgen wird daher eine weitere Station gewidmet. Die wertvollsten Dokumente, die in Europa Frieden schufen, sind im Original zu sehen, so etwa die Kapitulationsurkunde des Sultans 1529 und der Westfälische Friede aus 1648. Im Zentrum stehen naturgemäß die Schlussakte des Kongresses, die Europas Grenzen neu zogen, die alte monarchische Ordnung wiederherstellten, aber auch die Ränge der Diplomaten festlegten und den Sklavenhandel abschafften. Vor allem aber schuf der Vertrag einen Frieden in Europa, der fast hundert Jahre hielt. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der den Ersten Weltkrieg mit Russland beendete, der Wiener Staatsvertrag von 1955 mitsamt seinem berühmten Bild und Österreichs EU-Beitrittsurkunde komplettieren diese Präsentation.

Der Wiener Kongress fand an vielen Orten Wiens zugleich statt, auch dem trägt die Ausstellung Rechnung: Verhandelt wurde in der Staatskanzlei, dort gab es auch so manches Souper des Außenministers, in den Wohntrakten der Hofburg aber residierte die imperiale Wohngemeinschaft der gekrönten Häupter, in diversen Stadtpalais der engeren Umgebung hatten die großen Delegationen ihr Quartier, in den Festsälen der Hofburg gab man rauschende Empfänge und Konzerte, und die Kirchen wurden für ostentative Gottesdienste genutzt.

Daher werden auch für die Schau mehrere Originalschauplätze genutzt. Der Standort Ballhausplatz wird in vier räumlich getrennten, aber inhaltlich eng verbundenen Stationen bespielt. Die Vorgeschichte und der historische und politische Kontext des Kongresses sollen sich im Amalienhof erschließen, in dessen Gästewohnung Zar Alexander logierte.

Ein Gewirr von Grenzbalken und Europas Kleinstaaterei führen in die Vorgeschichte ein. Das Leben zur Zeit des Kongresses, die Begleitumstände, die Wirkungen sind im Parterretrakt der Amalienburg nachzuvollziehen. Den Übergang zum heutigen Europa wird man im Durchgang zum Inneren Burghof passieren - hier bringt die Europäische Union den Weg nach Europa aus ihrer Perspektive ein. In einer kleinen Station mitten im Reichskanzleitrakt der Hofburg "tanzt der Kongress", indem seine filmische Interpretation und Verfremdung zum Objekt eines Kinos gemacht wird. Eine kurze Promenade führt in die alte ehrwürdige Hofburgkapelle zum Thema Musik, um erleben zu lassen, wie der Kongress "klingt", wie Beethoven einbezogen wurde und wie Wien geradezu von einem Kongress-Contest-Fieber erfasst war.

Oft wurde das Ereignis von 1814/15 auf zwei Vorurteile reduziert, die sein Image prägen: Der Kongress tanzte, aber brachte nichts zuwege, und der konservative Metternich hat bloß eine Restauration der alten politischen Verhältnisse herbeigeführt. Einen Bezug zur heutigen Bedeutung des Kongresses stellt man nur selten her, eine Einordnung in das soziale Leben der Großstadt Wien findet sich überhaupt nicht.

Ganz aktuelle Phänomene

Die Klischeebilder enthalten natürlich einen wahren Kern, gehen aber an der Realität weit vorbei. Die Schau will dazu manches neu beleuchten, was seine Wirkung gegen die Vorurteile nicht verfehlen sollte: Die langfristigen Ziele und Planungen, der gezielte und kluge Einsatz des Begleitprogramms, das Networking und Lobbying ganzer Scharen von Experten und Zuträgern, die Dynamik einer Serie von Gipfeltreffen mit Vorbereitung durch Arbeitsgruppen und Beichtstuhlverhandlungen, die Bereitschaft zu völkerrechtlichen Sanktionen und zur Korrektur innereuropäischer Grenzen und die Wichtigkeit einzelner für ganz Europa charismatischer Individuen in einer labilen historischen Situation sollen erfahrbar werden. Eigentlich sind das alles ganz aktuelle Phänomene europäischer Politik.

Der Autor ist Präsidialchef des Bundeskanzleramtes.