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Gefährliche Spekulation

Von Herbert Hutar

Wissen

Trotz manch verführerischer Parallelen zur derzeitigen finanziellen Lage Griechenlands taugt der Vergleich mit der Lateinischen Münzunion nicht wirklich.


"Immer Sorgen mit den Griechen. Die sind ja schon 1908 aus einem Währungsverbund geflogen, weil sie getrickst haben", ist immer wieder zu lesen. Und dann wird von Ökonomen und anderen Autoren auch in Qualitätsblättern die sogenannte "Lateinische Münzunion" aus dem Hut gezaubert. Diese Münzgemeinschaft aus dem 19. Jahrhundert muss als intellektueller Aufputz für Polemiken gegen Griechenland ebenso herhalten, wie als Untergangsszenario für den Euro. Die Versuchung des knappen historischen Vergleichs ist groß. Nur: Die Sache ist falsch.

Fritz Breuss, Wirtschaftsforscher, Jean Monnet-Professor an der Wiener Wirtschaftsuniversität und Europaexperte, meint: "Die Lateinische Münzunion im 19. und 20. Jahrhundert war ein sehr rudimentärer Verbund von Staaten, die eben gegenseitig die Münzen anerkannt und einander abgenommen haben. Es hat keine gemeinsame Geldpolitik, keinen gemeinsamen Wirtschaftsraum gegeben. Ein Vergleich mit dem Euro von heute ist völlig unzulässig." Und: "Griechenland ist keineswegs hinausgeflogen, sondern bis zuletzt im Jahr 1927 drinnen geblieben. Die Lateinische Münzunion mit ihren rudimentären Regeln und vielen Freiräumen eignet sich jedoch auch für fragwürdige Interpretationen."

Silberscheidemünzen

Am 23. Dezember 1865 gründeten in Paris Frankreich, Belgien, die Schweiz und Italien eine Münzunion, die Mitte 1866 in Kraft trat. Diese Lateinische Münzunion regelte die Beschaffenheit von Gold- und Silbermünzen, bei denen der Metallgehalt mit dem aufgeprägten Wert übereinstimmt, also sogenannte Kurantmünzen. Geregelt wurden auch die Silberscheidemünzen, bei denen der aufgeprägte Wert höher war als der Metallwert. Die Lateinische Münzunion bildete also einen Gold- und Silberstandard. 1868 trat Griechenland bei, andere Länder folgten.

Von einer gemeinsamen Geldpolitik oder Zentralbank konnte keine Rede sein. Auch die Zinspolitik blieb den Ländern vorbehalten. Bei Vertragsabschluss 1865 hatten nur Frankreich und Bel-gien Zentralbanken mit Emissionsmonopol. In Italien agierten sechs Emissionsbanken, später drei, in der Schweiz gar 27 Kantonal- und Privatbanken mit Emissionsrecht. Die Geldausgabepolitik wurde zwar koordiniert, ständige Probleme ergaben sich vor allem durch die stark schwankenden Silberpreise. Eine Regelung für die Ausgabe von Papiergeld, das auf die Namen der geregelten Münzen lautete, fehlte jedoch völlig.

Die Initiative ging von Frankreich aus. Napoleon III. sah in der Münzpolitik auch ein außenpolitisches Instrument zur Wiederherstellung der Größe Frankreichs und zur Einflussnahme auf Europa. Ob den französischen Gründervätern mit der Bezeichnung "Lateinisch" gleich der Anspruch zu unterstellen ist, mit dem römischen Imperium gleichzuziehen, bleibt unbewiesen. Tatsächlich war Frankreich trotz der Niederlage Napoleons I. eine Großmacht und Paris der wichtigste Finanzplatz am Kontinent geblieben. Der französische und der belgische Franc ebenso wie der Schweizer Franken waren bereits eingeführt. Die italienische Lira behielt ihren Namen, wurde jedoch ebenso angeglichen wie später die griechische Drachme. Wobei der Anpassungsbedarf durch schon vorher getroffene Standards gering war.

Trotzdem war die wirtschaftliche Entwicklung der Partnerländer höchst unterschiedlich. Bel-gien und die Schweiz waren in der Industrialisierung viel weiter als Frankreich, und Italien war von Anfang an in einen prosperierenden Norden und einen rückständigen Süden gespalten. Einzelne Regionen der Partnerländer waren wirtschaftlich zwar relativ gut integriert, aber: "Insgesamt bildeten die Staaten der Lateinischen Münzunion keineswegs einen Binnenmarkt", stellt die Wirtschaftswissenschafterin Theresia Theurl in ihrer eingehenden Studie über europäische Währungssysteme im 19. Jahrhundert fest.

Und noch ein entscheidender Unterschied ist festzuhalten: Die Lateinische Münzunion ist auf ein paar Jahre befristet abgeschlossen und immer wieder verlängert worden, während der Euro als Vollendung des Binnenmarktes von Anfang an auf Irreversibilität angelegt war.

Griechenland spielte in der Lateinischen Münzunion als kleines und rückständiges Agrarland am Rand kaum eine Rolle. Zum Teil gelangten seine Münzen gar nicht bis in die anderen Partnerländer. 1901 fragte der amerikanische Finanzexperte Henry Parker Willis in seiner "History of the Latin Monetary Union", was denn Griechenland überhaupt in der Münzunion verloren habe. Aber der griechische Beitritt war politisch motiviert: Es wollte an Frankreich, an eine der Garantiemächte seiner Unabhängigkeit vom osmanischen Reich, näher heranrücken. Und Frankreich war ein Mitglied an der Südflanke Europas durchaus willkommen.

Verführerische Parallelen zu heute sind auch der Staatsban-krott von 1893 und die 1897 erzwungene internationale Finanzkontrolle als Bedingung für neue Kredite. Beide Ereignisse hingen mit dem unmittelbaren Überleben des griechischen Staates zusammen. (siehe "Wiener Zeitung" vom 14. 7., Seite 6, Anm.) Aber, so Fritz Breuss: "Griechenland war viel zu klein, um die Münzunion ernsthaft zu tangieren."

Instabile Metallpreise

Die großen Probleme der Lateinischen Münzunion waren jedoch die Preisschwankungen bei Silber. Das Drucken von Papiergeld hingegen war in den Verträgen der Münzunion gar nicht erwähnt. Trotzdem besteht ein Zusammenhang: Das Anwerfen der Gelddruckmaschinen in Italien und in Griechenland war nicht beschränkt oder gar verboten. Aber es irritierte das ohnehin durch schwankende Metallpreise störungsanfällige Währungsgefüge in der Münzunion zusätzlich. Denn vor allem das auf Unionsmünzen lautende italienische Papiergeld, das im Land selbst einem Zwangskurs unterworfen war, wollte - bei einem völligen Fehlen von Deckungsvorschriften - im Ausland niemand haben. Und so mussten für alle Auslandsgeschäfte zumindest Silbermünzen gezahlt werden, und die haben bei fallenden Silberpreisen die Partner der Münzunion überschwemmt (Münzwanderung) und zu Inflation geführt.

Also versuchte man, grenzüberschreitend die Inflationsbremse zu ziehen. Das geschah durch die sogenannte Renationalisierung der Silbermünzen. Die Emissionsländer mussten sie zurücknehmen und den Partnerländern eine Entschädigung zahlen. Das wurde in einem Vertrag 1878 mit Italien geregelt, das immerhin ein Kontingent von mehr als einem Drittel der Silbermünzen zugestanden erhalten hatte. Zugleich verloren die italienischen Silbermünzen ihre Gültigkeit in der übrigen Union, solange der Zwangskurs für das Papiergeld beibehalten wird.

Eine ganz ähnliche Regelung fand 1908 mit Griechenland statt, das ebenfalls die Staatsfinanzierung mit Hilfe der Notenpresse weit übertrieben, aber damit keine Bestimmungen verletzt hatte. Von einem Ausschluss Griechenlands ist bei Theresia Theurl nichts zu lesen. Die Kriege von 1866 (Italien gegen Österreich) und von 1870/71 (Frankreich gegen Deutschland) führten zu Irritationen in der Münzunion, aber nicht zu deren Gefährdung. Italien verpasste seinem Papiergeld zur Kriegsfinanzierung jenen Zwangskurs, der schließlich zu den Schwierigkeiten mit den Münzpartnern führte. Der verlorene Krieg gegen Deutschland 1870/71 kostete Napoleon III. den Thron und Frankreich Elsass-Lothringen sowie fünf Milliarden Francs in Gold an Reparationsleistungen an das Deutsche Kaiserreich, aber die Münzunion überlebte.

Als in den 1870er-Jahren in der Münzunion der Ruf nach einer Einstellung der Silberwährung immer lauter wurde, weil Silber immer weniger wert wurde, stand Frankreich zunächst erfolgreich auf der Bremse, weil ihm das Gold zur Umstellung auf den Goldstandard fehlte. Außerdem wäre das Einziehen und Einschmelzen aller Silbermünzen zu teuer gewesen. Erst im Vertrag von 1878 wurde der Doppelwährungsstandard von Gold und Silber aufgeweicht, Theresia Theurl spricht von einer "hinkenden Goldwährung". Eine Konstruktion, die de facto bis 1914 gehalten hat. Formal wurde die Lateinische Münzunion erst 1927 aufgelöst.

Wie überhaupt der Goldstandard mit dem Schwerpunkt London nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer weiter vorgedrungen ist und die Bedeutung der Lateinischen Münzunion untergraben hat. "Der Goldstandard war das erste echte Währungssystem", befindet Fritz Breuss, "denn da gab es feste Regeln. Man hatte fixe Wechselkurse zum Gold, eine Goldparität, die alle eingehalten haben. Man konnte beliebig Gold in Devisen umtauschen. Das erleichterte den Außenhandel, die Schutzzölle sind gesunken. Banknoten mussten durch Goldreserven gedeckt sein. Sobald eine Unter- oder ein Überdeckung festgestellt wurde, mussten die Goldbestände ausgeglichen werden. Nach dem Ersten Weltkrieg aber war weltweit nicht mehr genug Gold vorhanden, und das System musste aufgegeben werden."

Was Fritz Breuss in der aktuellen Diskussion um die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit nördlicher und südlicher Euro-Länder am früheren Goldstandard so gut gefällt, ist der sogenannte Goldautomatismus. Der funktioniert - vereinfacht - so: Wer importiert, zahlt in Gold. Fehlt das Gold im Land, ist weniger Geld da, und die Preise fallen. Das macht in der Folge Waren und Exporte günstiger, die Wettbewerbsfähigkeit steigt, und so gleichen sich Handelsbilanzdefizite und -überschüsse aus. Man sollte sich auch für den heutigen Euroraum ein ähnliches System überlegen, etwa in Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank, meint der Wirtschaftsprofessor.

Fiskalunion-Forderung

Die Wirtschaftswissenschafterin Theresia Theurl hat ihre Studie über europäische Währungen und Währungsverbünde im 19. Jahrhundert zugleich mit der Unterzeichnung der Verträge von Maas-tricht 1992 herausgebracht, in der die Festigkeit und die Dauerhaftigkeit je nach staatlicher Integration des Währungsraumes analysiert wurde. Wenig überraschend kam sie zu dem Schluss, dass eine Währung, die sich mit einem souveränen Staatsgebilde deckt, krisensicherer ist als eine Währung oder ein Währungssystem, dem verschiedene Staaten angehören. Einzelinteressen schwächen eine gemeinsame Währung bis zum möglichen Zusammenbruch, so der Befund.

Auch Fritz Breuss schwört auf die These "One country, one money". Europa hingegen habe ein "One market, one money"-System konstruiert, bedauert Breuss, "und nicht einmal da sind alle dabei". Er fordert eine weitere Integration, vor allem eine Fiskalunion. Die Konstruktionsfehler sind noch nicht behoben, warnt Breuss, und solange das nicht der Fall ist, wird es immer wieder zu Krisen, Verwerfungen, notdürftigen Reparaturen und Diskussionen über den Zusammenhalt Europas kommen.

Literatur:

Theresia Theurl: Eine gemeinsame Währung für Europa: 12 Lehren aus der Geschichte. Studien Verlag, Innsbruck/Wien 1992, Neuauflage 2011.

Fritz Breuss: Monetäre Außenwirtschaft und Europäische Integration. Peter Lang Verlag, Wien 2006

HerbertHutar, Wirtschaftsjournalist und Historiker, war früher Leiter des Ö 1-Wirtschaftsmagazins "Saldo", nun als freier Publizist tätig.