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"Das schreckliche Weltgericht"

Von Rolf Steininger

Wissen
Eine einzige Bombe hatte aus Hiroshima eine verbrannte Wüste gemacht. © Rolf Steininger/ Universität Innsbruck

Vor 70 Jahren fielen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Damit begann das Atomzeitalter und der Rüstungswettlauf der USA und der Sowjetunion.


Am 24. Juli 1945 erteilte US-Präsident Harry S. Truman von Potsdam aus - wo er mit Stalin und Churchill konferierte - General Carl Spaatz, dem Oberkommandierenden der Strategischen Luftwaffe, für den Tag nach dem Ende der Potsdamer Konferenz folgenden Befehl zum Einsatz der ersten Atombombe:

"Die Sondergruppe 509 der 20. Luftflotte wird ihre erste Spezialbombe, sowie das Wetter nach dem 3. August 1945 Bombardierung nach Sicht gestattet, auf eines der folgenden Ziele abwerfen: Hiroshima, Kokura, Niigata oder Nagasaki. Zusätzliche Maschinen werden das Bombenflugzeug begleiten, um Offizieren und Wissenschaftern des Kriegsministeriums die Beobachtung der Bombenexplosion und ihrer Wirkung zu ermöglichen.

Die Beobachtermaschinen werden sich einige Meilen vom Explosionszentrum entfernt halten. Sowie weitere Bomben zur Verfügung stehen, sind sie auf die oben genannten Ziele abzuwerfen. Für weitere Bombardierungen sind Instruktionen abzuwarten."

Acht Tage vorher, am 16. Juli, war in der Nähe des Städtchens Alamogordo in der Wüste des US-Bundesstaates Neu-Mexiko die erste Atombombe erfolgreich gezündet worden.

Im Frühjahr 1945 waren die Vorbereitungen für den Einsatz der Atombombe gegen Japan in die Endphase gegangen. Eine Spezialeinheit von B-29 Bombern unter dem Befehl des 30-jährigen Obersts Paul W. Tibbets war im April auf die Marianeninsel Tinian im Pazifik verlegt worden.

Am 2. Mai hatte in Washington jener Ausschuss getagt, der die Bombenziele in Japan auswählte. Wissenschafter rieten zunächst, die Vernichtungskraft der Bombe den Japanern in einem Versuch zu demonstrieren, sie über unbewohntem Gebiet abzuwerfen und auf diese Weise das Land zur Kapitulation zu zwingen. Doch ein Ausschuss unter Leitung von Kriegsminister Henry Stimson entschied anders und empfahl Truman am 1. Juni, die Bombe gegen Japan einzusetzen - und zwar ohne vorhergehende Warnung. Ihre Wirkung sollte eindeutig bewiesen werden.

Als der britische Premierminister Winston Churchill in Potsdam vom erfolgreichen Test erfuhr, gestikulierte er mit seiner Zigarre und beschwor Stimson: "Was war das Schießpulver? Trivial! Was war die Elektrizität? Eine Kleinigkeit! Diese Atombombe ist das schreckliche Weltgericht!"

Die Nachricht von der erfolgreichen Explosion erhielt Stimson mit dem Satz: "Baby is born." Die Mitarbeiter, die nicht wussten, was gemeint war, wunderten sich, dass Stimson in seinem hohen Alter - er war 78 Jahre alt - noch einmal Vater geworden war. Tatsächlich aber hatte das Atomzeitalter begonnen.

Die Nachricht versetzte Truman in Potsdam in höchste Erregung. Stimson notierte am 21. Juli: "Der Präsident war ungeheuer aufgekratzt und sprach immer wieder mit mir darüber, wenn wir zusammenkamen. Er sagte, es gebe ihm ein völlig neues Gefühl der Zuversicht und dankte mir dafür, dass ich mit zur Konferenz gekommen und anwesend war, um ihm zur Seite zu stehen."

Als Truman Stalin am 24. Juli von der neuen Bombe unterrichtete - ohne das Wort Atombombe zu benutzen -, blieb dieser scheinbar vollkommen ungerührt, so als wisse er nicht, was diese Nachricht wirklich bedeutete. Er saugte ungerührt an seinem Zigarillo und meinte nur, er hoffe, die Amerikaner würden die neue Waffe gegen Japan einsetzen.

Wir wissen heute, dass Stalin über die amerikanische Atomforschung besser informiert war als Truman; seine Spione hatten gute Arbeit geleistet. Gegenüber Geheimdienstchef Berija meinte er: "Truman will Druck auf uns ausüben, uns beherrschen. Seine Haltung ist besonders aggressiv gegenüber der Sowjetunion. Natürlich ist die Atombombe von Vorteil für Truman. Aber eine Politik der Erpressung und der Einschüchterung ist für uns inakzeptabel."

Ultimatum an Japan

Am 26. Juli forderte Truman Japan von Potsdam aus ultimativ zur bedingungslosen Kapitulation auf: u. a. Rückgabe aller eroberten Gebiete, Entwaffnung, Entmilitarisierung, Bestrafung der Kriegsverbrecher, Besetzung des Landes. Im letzten Satz wurde drohend angekündigt: "Andernfalls bleibt für Japan nur seine sofortige und totale Vernichtung." Über den für Tokio entscheidenden Punkt, das Schicksal des Kaisers, sagte die Erklärung nichts, ebenso wenig wurde die Atombombe erwähnt.

Tokio hoffte weiter auf die Vermittlung Moskaus, auf bessere Kapitulationsbedingungen und beschloss, auf das Potsdamer Ultimatum zunächst überhaupt nicht einzugehen - es weder anzunehmen noch abzulehnen. Als Ministerpräsident Suzuki die Haltung seiner Regierung der Presse erläuterte, benutzte er das Wort "mokusatsu", ein Wort, das sowohl "ignorieren", "kein Kommentar", als auch "mit Verachtung strafen" bedeutet. Das Letztere hatte Suzuki nicht gemeint, aber so wurde es in Amerika aufgefasst. Am 30. Juli lautete die Schlagzeile der "New York Times": "Japan lehnt das alliierte Ultimatum zur Kapitulation offiziell ab." Und Kriegsminister Stimson notierte:

"Es blieb uns nichts anderes übrig, als den Japanern vor Augen zu führen, dass das Ultimatum genau das bedeutete, was es sagte, und um das zu tun, besaßen wir in der Atombombe ein geeignetes Mittel."

Das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten.

Am 6. August, um genau 8.15 Uhr und 17 Sekunden, öffnete sich der Bombenschacht der B-29 "Enola Gay", so genannt nach der Mutter des Piloten. "Little Boy" - "Kleiner Junge", der Codename für die erste einsatzfähige Atombombe, drei Meter lang, 70 cm Durchmesser, etwas mehr als vier Tonnen schwer, eine Uranbombe mit einer Sprengkraft von 12.000 Tonnen herkömmlichen Sprengstoffes TNT - explodierte 43 Sekunden später in etwa 600 Meter Höhe über dem Zentrum Hiroshimas.

Menschen verbrennen zu Asche

In der Stadt brach die Hölle los. Ein Feuerball von 100 m Durchmesser strahlte für kurze Zeit eine ungeheure Hitze aus, stärker als auf der Oberfläche der Sonne. Dachziegel und Steine schmolzen, auf den Treppenstufen eines Bankgebäudes wurde der Schatten einer menschlichen Gestalt eingebrannt. Viele Menschen in unmittelbarer Nähe des Explosionszentrums wurden einfach zu Asche. Noch in einer Entfernung von vier Kilometern verbrannte die Haut, die Brandwunden waren entsetzlich. Augen, Nasen, Münder wurden weggebrannt, Ohren förmlich abgeschmolzen. Man konnte die Vorderseite des Körpers oft nicht vom Rücken unterscheiden.

Der Feuerball saugte Millionen Tonnen Staub und pulverisierter Trümmer auf, die im gleichen Augenblick die große, hässliche Pilzwolke zu bilden begannen. Nach der Hitze kam eine furchtbare Druckwelle. Sie fegte alles hinweg, zermalmte Wohnhäuser und begrub ihre Bewohner unter sich, riss den Menschen Kleidung und die verbrannte Haut vom Körper. Das Fleisch war nass und schwammig. Viele Menschen wurden irrsinnig.

Der Druckwelle folgten Stürme, die die Bäume entwurzelten. Dann kam das Feuer. Die Hitze der Bombe entzündete viele Holzbauten. Bald raste ein Feuersturm durch die Straßen. Nach sechs Stunden war Hiroshima ein Feuermeer und wurde zu einem gigantischen Scheiterhaufen. Die Stadt war den Flammen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. 70 Prozent der Feuerwehrausrüstung waren zerstört, 80 Prozent des Feuerwehrpersonals tot oder verschwunden, die Wasserrohre in der Hitze geschmolzen. "Drei Tage lang brannte die Stadt, und die Asche qualmte noch mehr als eine Woche lang", heißt es in dem offiziellen japanischen Bericht.

Überall lagen Tote und Verwundete. Viele Menschen sprangen in den Fluss Ota, an dem Hiroshima liegt, um den Flammen zu entgehen, und ertranken. Die noch lebten, trieben flussabwärts und stießen auf die Toten. Einige Minuten nach der Explosion setzte ein radioaktiver Regen ein, geschwärzt durch Ascheteilchen. Dieser "schwarze Regen" vergrößerte die Panik unter den Überlebenden. Eine einzige Bombe hatte aus Hiroshima eine verbrannte Wüste gemacht.

Von 45 Krankenhäusern waren nur drei stehen geblieben, von 290 Ärzten nur 28 unverletzt, von 1780 Krankenschwestern nur 126.

Es gibt keine genauen Angaben über die Zahl der Toten. Niemand weiß, wie viele Soldaten und koreanische Zwangsarbeiter umgekommen sind. Hiroshima war damals Kommandostelle der 2. Armee mit der größten Truppenansammlung Südjapans. 1960 nannte eine amerikanische Kommission 80.000 Tote, im Friedensmuseum von Hiroshima findet sich die Zahl 240.000.

Als Präsident Truman die Nachricht vom Abwurf der Bombe erhielt, rief er triumphierend aus: "Dies ist das größte Ereignis der Geschichte."

Amerikanische Propaganda

Die Amerikaner entfachten nach Hiroshima eine intensive Propagandakampagne. 16 Millionen Flugblätter wurden über 47 japanischen Städten abgeworfen. Darin wurde auf die Potsdamer Erklärung verwiesen, die Kapitulation gefordert und mit der Fortsetzung der Bombardierung gedroht. Gleichzeitig wurde der Termin für den Abwurf der zweiten Bombe vom 11. auf den 9. August vorverlegt. Je eher der zweite Schock dem ersten folgte, umso größer seine psychologische Wirkung. Am 9. August 1945, um 11.01 Uhr, fiel die zweite Atombombe "Fat Man" -eine Plutoniumbombe mit 22.000 Tonnen TNT-Sprengkraft. Diesmal war Nagasaki das Ziel. Die Bombe hätte eigentlich Kokura treffen sollen, aber Wolken verhinderten den "Abwurf nach Sicht".

Auch für Nagasaki schwanken die Angaben über die Zahl der Toten. Sie reichen von 20.000 bis 150.000. Bei all dem Elend fragten sich Statistiker noch, warum es nicht mehr Tote gab. Denn diese Bombe war wesentlich stärker als die von Hiroshima. Bei dem makabren Rechenexempel wurde eine Begründung gegeben, die fast wie eine fatale Entschuldigung klang: Dank des hügeligen Geländes konnte sich die Explosionskraft nicht in aller Grausamkeit entfalten.

Am nächsten Tag wurde Japans Antwort auf das Potsdamer Ultimatum vom 26. Juli auf dem Weg über die neutrale Schweiz übermittelt. Der entscheidende Satz lautete:

"Die japanische Regierung ist bereit, die Bedingungen unter der Voraussetzung zu akzeptieren, dass die Hoheitsrechte Seiner Majestät als Souveräner Herrscher nicht beeinträchtigt werden."

Am 15. August kapitulierte Japan offiziell, am 2. September unterzeichneten die Bevollmächtigten des Kaisers vor dem amerikanischen Oberbefehlshaber Douglas McArthur auf dem Schlachtschiff USS Missouri in der Bucht von Tokio die Kapitulation.

Auf amerikanischer Seite gab es schon damals bei Militärs und Politikern Zweifel, ob der Einsatz der Bombe aus militärischer Sicht notwendig gewesen sei. Die Seeblockade hätte Japan durch Hunger zur Kapitulation gebracht, wenn man bereit gewesen wäre, zu warten, wie Admiral King, der Oberbefehlshaber der amerikanischen Kriegsmarine, meinte. Truman sah das anders. In seinen Memoiren schrieb er: "Ich hielt die Atombombe für eine Waffe und habe nie daran gezweifelt, dass sie auch eingesetzt werden sollte." Die schnelle Kapitulation Japans habe die Invasion überflüssig gemacht und so hunderttausenden Amerikanern das Leben gerettet. Ähnlich argumentierte Churchill: "Es bleibt die historische Tatsache, dass die Entscheidung, ob man die Atombombe einsetzen solle oder nicht, um die Kapitulation Japans zu erzwingen, niemals eine Streitfrage war."

Und es kam noch ein Argument hinzu, das der militärische Berater des Präsidenten, Admiral Leahy, enthüllte: "Die Naturwissenschaftler und auch andere wollten diese Waffe erproben wegen der riesigen Summen, die für dieses Projekt schon ausgegeben worden waren."

Zwei Wochen nach Hiroshima untersuchten auch sowjetische Experten die zerstörte Stadt und schickten detaillierte Berichte nach Moskau.

Stalin befiehlt den Bau der Bombe

"Hiroshima hat die ganze Welt erschüttert", meinte Stalin wenige Tage später zu führenden Atomphysikern seines Landes und fügte hinzu: "Die Balance zwischen den Mächten ist zerstört. Baut die Bombe. Damit wird eine große Gefahr von unserem Land genommen."

Außenminister Molotow meinte später, die Bomben "waren nicht gegen Japan gerichtet, sondern gegen die Sowjetunion". Stalin befürchtete damals, dass die USA angesichts ihres Atommonopols die Sowjetunion zwingen würden, in Europa und der Welt nachzugeben. Das aber, so Stalin, werde nicht geschehen. Die sowjetische Atomforschung wurde mit allen Mitteln vorangetrieben. Stalin brauchte die Bombe, um das Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen.

Der atomare Wettlauf der beiden Supermächte hatte begonnen, der die Welt in den folgenden Jahren mehrmals an den Rand der Vernichtung führte.

Rolf Steininger ist em. O. Univ.-Prof. für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck; seine international ausgezeichnete Dokumentation "Verbrannt- verstrahlt - vernichtet: Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki"(1982, 45 Minuten, Farbe; gem. mit Heribert Schwan) wird vom Institut für Film und Bild in Grünwald vertrieben.

Der Film ist zu finden unter: www.rolfsteininger.at