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Mordbefehl an "Mornard"

Von Ulrich Zander

Wissen

Vor 75 Jahren verübte ein spanischer Sowjetagent in Stalins Auftrag ein tödliches Attentat auf Leo Trotzki. Chronologie einer Verschwörung.


"Aaaaaaaaaaa. . .". Es ist der wohl meistzitierte Todesschrei der Kriminalgeschichte. Lang gezogen, nicht enden wollend. "Ein Schrei, den ich niemals vergessen werde. Er klingt mir noch immer in den Ohren." So sagte der Mörder später. Sein Opfer: Der führende Kopf der Oktoberrevolution sowie Gründer und Organisator der Roten Armee, Leo Trotzki.

Lew Dawidowitsch Bronstein kam am 7. November 1879 als Spross einer Bauernfamilie in einem zentralukrainischen Dorf zur Welt. Der begabte junge Mann schloss sich früh der Sozialdemokratie an. Dafür erhielt er von den zaristischen Behörden die Quittung: Inhaftierung und Verbannung nach Sibirien. 1903 entkam er unter dem Decknamen Trotzki (unfreiwilliger Namensgeber war sein Gefängniswärter) nach London, wo er sich mit Lenin zusammentat. Er verdingte sich als Journalist und wurde zu einem wichtigen Theoretiker des Marxismus.

In Paris lernte er seine Frau Natalja Sedowa kennen, die ihm zwei Söhne schenken sollte. Aus erster Ehe hatte er bereits zwei Töchter. Das Paar begab sich auf eine jahrelange Odyssee um die halbe Welt, die im Mai 1917 (die Zarenherrschaft war inzwischen durch eine bürgerliche "Provisorische Regierung" abgelöst worden) in Petrograd (St. Petersburg) endete. Nach endlosem ideologischen Hin- und Her schloss er sich nun doch Lenins Bolschewiki an und übernahm die Führung des Petrograder Sowjets. Er baute die "Kampfverbände der Roten Garde" auf und organisierte mit Parteiführer Lenin den Aufstand.

Volkskommissar Trotzki

Die Bolschewiki errangen die Macht, die Oktoberrevolution war am Ziel. Trotzki übte als "Volkskommissar" verschiedene Ministerämter aus. Im Ersten Weltkrieg verhandelte er mit dem Deutschen Reich die Friedensbedingungen. Und er führte "seine" Rote Armee im Bürgerkrieg gegen die anti-bolschewistischen "weißen" Truppen zum Sieg. Darüber hinaus wurden Interventionstruppen der Briten, Franzosen, Italiener, US-Amerikaner und Japaner aus dem Land geworfen. 1921 bereits hatte Trotzki den Kronstädter Matrosenaufstand blutig niederschlagen lassen. Überhaupt, er "griff durch": In der Armee wurden demokratische Strukturen abgeschafft und die Todesstrafe wieder eingeführt.

Nach Lenins Tod im Jahre 1924 tat sich ein neuer - dunkler - Stern am Sowjethimmel auf: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, der "Stählerne". Die beiden Führer gerieten bald über die Durchführbarkeit sozialistischer Revolutionen in anderen Ländern über Kreuz. Stalin hatte die "stärkeren Bataillone", Trotzki verlor an Einfluss in der KP und ab 1925 nach und nach alle Ämter. Zwei Jahre später folgte der Parteiausschluss. Die Familie wurde 1928 nach Kasachstan verbannt, 1929 in die Türkei ausgewiesen. Wiederum begann eine rastlose Reise: Frankreich, Norwegen und schließlich die Endsta-
tion: Coyoacán, ein Ortsteil von Mexiko-City.

Der entmachtete Staatsmann war weiterhin publizistisch tätig und griff den inzwischen in der UdSSR um sich greifenden Stalinistischen Terror (Schätzungen sprechen von mehr als 20 Millionen Opfern) unermüdlich scharf an. Über "den Stählernen" machte er sich lustig: "Die bedeutendste Mittelmäßigkeit in der Partei".

Ein Forum für die Abrechnung bot ihm unter anderen die "New York Times". Der Hass des Diktators auf "das Großmaul Trotzki" hingegen hatte inzwischen wahnhafte Züge angenommen. Allein der Verdacht, "ein Trotzkist" zu sein, kam im "Arbeiter- und Bauernparadies" einem Todesurteil gleich. Der Exilant wurde zur Unperson - und auch wegen seiner jüdischen Herkunft verteufelt. Moskau (der Regierungssitz war an die Moskwa verlegt worden) gab den Mordbefehl.

Der sowjetische Geheimdienst hatte Übung. 1937 war der Chef des zaristischen Veteranenbundes, General Jewgeni Miller, aus Paris in die UdSSR entführt und später exekutiert worden. In Lausanne töteten Agenten den abtrünnigen Sowjet-Spion Ignaz Reiss. Dessen Kollege, Walter Kriwitzki, hatte ein kritisches Buch verfasst: "Ich war Stalins Agent". Kriwitzki wurde in einem Washingtoner Hotel erschossen aufgefunden. Trotzkis Sekretär, Erwin Wolf, ereilte dieses Schicksal in Spanien. Lew Lwowitsch Sedow, Trotzkis ältester Sohn und politischer Weggefährte, fiel im Februar 1938 in Paris vermutlich einem Giftmordanschlag zum Opfer. Im Juli des Jahres wurde ein Torso aus der Seine gefischt. Der Tote wurde als Rudolf Klement identifiziert - Assistent und Übersetzer des Revolutionärs.

Jaime Ramón Mercader del Río wurde am 7. Februar 1913 in Barcelona als Sohn des Geschäftsmannes Don Pablo Mercader geboren. Ramóns Mutter, die attraktive Eustacia María Caridad del Río Hernández besaß ein hitziges Temperament und entwickelte zudem eine unbändige Abenteuerlust. Sie trennte sich vom Gemahl und schloss sich anarchistischen Kreisen an. Es zog sie nach Frankreich, wo sie amouröse Beziehungen zu diversen Führern der Kommunistischen Partei aufnahm.

Das frischgebackene KP-Mitglied machte sich als Geheimkurier nützlich. Im spanischen Bürgerkrieg kämpfte sie aktiv gegen Francos Truppen. Auch ihr Sprössling bewies sich an der Front und führte darüber hinaus im feindlichen Hinterland Partisanen-Aktionen durch. Ramón teilte ihre politischen Überzeugungen. Und ließ sich wie sie als Agent des sowjetischen Geheimdienstes NKWD anwerben. 1937 erhielt er in Moskau eine Terror- und Sabotage-Ausbildung.

Derweil war in Caridads Leben ein neuer Liebhaber getreten: Naum Isaakowitsch Eitingon, der als "General Kotow" in Spanien für die "Volksfront" Sabotagetrupps anleitete und für die Liquidierung von Stalin-Gegnern zuständig war. Es lag nahe, Ramón, dem linientreuen, technisch wie schauspielerisch begabten spanischen Muttersprachler, die Ausführung des Mordauftrages in Mexiko "anzuvertrauen". Sein weiteres Plus: Er wirkte anziehend auf Frauen.

Im Sommer 1938 wurde der 28-jährigen Sylvia Ageloff, einer New Yorker Sozialarbeiterin, in Paris ein junger Mann vorgestellt. Er stellte sich als Jacques Mornard vor, Student aus Belgien mit eigenem Vermögen. Sylvia, die sich in einer US-Trotzkistengruppe engagierte, war zu einem Treffen von Gleichgesinnten angereist. Sie arbeitete darüber hinaus gelegentlich als Trotzkis Sekretärin und erledigte für ihn Kurierdienste. Was sie nicht wusste: Das Zusammentreffen war von den Todfeinden ihres Idols arrangiert worden. Sie war hingerissen von dem sportlichen jungen Mann, der, wie es schien, exakt auf ihrer politischen Linie lag. Die beiden waren fortan unzertrennlich.

Mercader alias Mornard folgte seiner Geliebten als "Frank Jacson" nach New York. Als Begründung für den Namenswechsel gab er an, er habe sich auf diese Weise vor dem belgischen Militärdienst gedrückt. Sylvia glaubte ihm das, wie sie ihm alles glaubte. Eines Tages erzählte er ihr, in Mexiko-Stadt warte ein guter Job auf ihn. Sie folgte ihm auch dorthin. Caridad und Eitingon waren bereits vor Ort und forschten Trotzkis Umgebung aus.

Durch Sylvia erhielt Ramón Zutritt zu Trotzkis Villa, zunächst ohne den Hausherrn persönlich kennen zu lernen. Offenbar konnten die Moskauer Drahtzieher den Tod des Staatsfeindes nicht abwarten: Am 24. Mai 1940 stürmten rund 20 als mexikanische Polizisten verkleidete NKWD-Leute das Tor der Trotzki-Villa, warfen Brandbomben und Handgranaten und eröffneten aus Maschinenpistolen das Feuer auf das Schlafzimmer, in das sich das Ehepaar und der elfjährige Enkel zurückgezogen hatten. Die drei krabbelten unters Bett und blieben wie durch ein Wunder unverletzt.

Vier Tage nach dem Überfall bot sich Mercader Natalja als Chauffeur an. Bei dieser Gelegenheit konnte er Trotzki erstmals die Hand schütteln. Das Haus wurde derweil zu einer Festung ausgebaut. Ein Attentat "von außen" war nun erst recht zum Scheitern verurteilt. Der Mörder musste "von innen" kommen. Mercader machte sich durch kleine Geschenke und Hilfsdienste beim Wachpersonal und der Familie beliebt. Lediglich Trotzki bemerkte seiner Frau gegenüber: "Wer ist das eigentlich? Ich mag ihn nicht. Wir sollten mehr über ihn herausfinden."

20 Jahre Haft für Mord

Das Misstrauen kam zu spät. Am 20. August gegen 17 Uhr legte Mercader Trotzki einen selbstverfassten Artikel zur Durchsicht vor. Als der Revolutionär am Schreibtisch saß, trat der Sowjetagent von hinten heran und erschlug ihn mit einem Eispickel. Der furchtbare Schrei rief die Leibwächter herbei, die drauf und dran waren, Mercader totzuschlagen. "Tötet ihn nicht", er muss reden. . .", ächzte Trotzki. Er starb 26 Stunden später.

"Mornard", wie sich der Killer nun wieder nannte, gab seine wahre Identität nicht preis, er wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, die er vollständig absaß. Als Tatmotiv gab er an, Trotzki habe einen Mordanschlag auf Stalin geplant, dem "man" habe zuvorkommen müssen. Erst Jahre später konnte Mercader anhand seiner in einem spanischen Archiv registrierten Fingerabdrücke identifiziert werden.

Mutter und Liebhaber gelang die Flucht in die UdSSR. Caridad, die Frau, die bis zu ihrem Ende "stalinistischer als Stalin" war, erhielt eine Pension von der Sowjetregierung. Sie starb 1975 an ihrem Wohnort Paris. "General Kotow" tat seinen letzten Atemzug, nach Jahren der Haft als "wurzelloser Kosmopolit", 1981 in Moskau. Die von Ramón Mercader so schändlich verratene Sylvia Ageloff starb 1995.

Der Meuchelmörder von Coyoacán lebte hochgeehrt in Kuba, Prag und in der Sowjetunion. 1978 erlag er in Havanna einem Krebsleiden. Er wurde - geheimnisumwittert bis zum Schluss - unter dem Namen Ramón Iwanowitsch Lopez in Moskau beigesetzt.

Ulrich Zander, geboren 1955, lebt als freier Journalist in Berlin und ist spezialisiert auf historische, insbesondere kriminalhistorische Themen.