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Mythos Marshallplan

Von Herbert Hutar

Wissen
Amerikaner wie aus dem Bilderbuch: George C. Marshall (1880-1959), Offizier, Außen- und Verteidigungsminister, Organisator des "European Recovery Program".
© Bettmann/Corbis

Das Wiederaufbauprogramm nach dem Zweiten Weltkrieg war der Beginn der europäischen Integration.


Es gibt nur wenige hohe Militärs und Generäle, die als Politiker den Sprung zum echten Staatsmann geschafft haben. Prinz Eugen gehört dazu, Charles de Gaulle, Dwight D. Eisenhower und allen voran George Catlett Marshall. Seine Laufbahn krönte 1953 der Friedensnobelpreis, nachdem er nicht mehr und nicht weniger zustande gebracht hatte, als - ganz oben in der US-Militärhierarchie - den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen und danach als Außenminister Westeuropa den Weg zu Frieden und Wohlstand zu ebnen.

Immerhin galt es, Kriegsgegner und Erbfeinde wie Deutschland und Frankreich in einem gemeinsamen Wiederaufbauprogramm zusammenzuspannen. Der Marshallplan wurde zum Mythos. Immer wieder wird in verzwickten wirtschaftlichen und politischen Fällen nach einem "Marshallplan" wie nach einem Wundermittel für dieses oder jenes Land, für diese oder jene Region gerufen.

Es muss nur jemand das große Füllhorn ausschütten, dann werden Aufschwung und Wohlstand schon kommen - eine trügerische Illusion. Denn selbstverständlich hatten beim Marshallplan die Geber, also die USA, das Sagen, oft bis ins kleinste Detail. Die Empfänger, Unternehmen und Regierungen, mussten ebenso selbstverständlich erst detaillierte Pläne vorlegen, diese genehmigen lassen und dann Rechnung legen für die Verwendung der Güter und der Gelder. Es handelte sich dabei um Geschenke und nur zu einem ganz kleinen Teil um rückzahlbare Darlehen.

Österreichs Geschenke

Der Grundgedanke des European Recovery Program (ERP), wie die Marshallplanhilfe offiziell hieß, war, den Wiederaufbau Europas aus eigener Kraft der Teilnehmerstaaten zu fördern. Sie mussten ein gemeinsames Wiederaufbauprogramm erstellen, das als Grundlage für bilaterale Verträge zwischen den USA und den einzelnen Teilnehmerstaaten zu dienen hatte. Bedingung war die Marktöffnung für US-Waren ebenso wie die Liberalisierung des Außenhandels zwischen den europäischen Ländern, etwa durch Zollsenkungen.

Österreich unterzeichnete am 2. Juli 1948 das ERP-Abkommen mit den USA - und erhielt zwischen 1948 und 1952 aus US-Produktion direkte Warenlieferungen im Gesamtausmaß von 679 Millionen Dollar geschenkt ("grants"). Darunter waren: Brot- und Futtergetreide, Speiseöle und Fette, Maschinen (Stichwort: "Caterpillar"), Baumwolle, Wolle, Chemikalien, Kohle, Tabak. Auch Frachtkosten waren dabei, denn die Waren mussten auf amerikanischen Schiffen transportiert werden.

Diese Güter konnten von österreichischen Unternehmen in Schilling zu inländischen Marktpreisen gekauft werden. Die Schilling-Einnahmen wanderten auf gesperrte Sonderkonten bei der Oesterreichischen Nationalbank, auf sogenannte Counterpart-Konten. Sie bildeten das Kernstück der Marshallplan-Hilfe, denn sie dienten als Quelle für Investitionskredite der österreichischen Wirtschaft, der privaten ebenso wie der öffentlichen.

Nach zwei Jahren Marshallplan-Hilfe, also 1950, war der Schwarzmarkt mit seinen Preisexzessen bei Lebensmitteln so gut wie ausgetrocknet. Die Lebensmittelkarten konnten allmählich abgeschafft werden, und die Inflation sank zwischen 1947 und 1952 von 103 auf 17 Prozent. Die Wirtschaft wuchs von 1948 bis 1953, als die ERP-Hilfe langsam auslief, im Schnitt um mehr als elf Prozent pro Jahr, wobei der ERP-Anteil schwer herauszurechnen ist. Die Arbeitslosigkeit lag zwischen fünf und neun Prozent.

Größter Nutznießer der ERP-Förderungen war die Elektrizitätswirtschaft: die Ennskraftwerke, Ybbs-Persenbeug an der Donau, das Kohlekraftwerk Voitsberg in der Steiermark, allen voran aber Kaprun erhielten mehr als ein Drittel aller ERP-Mittel. Die öffentliche Hand nutzte ERP-Gelder für Straßen und andere Infrastrukturprojekte. Im Industriebereich sind die Aluminiumwerke Ranshofen zu nennen.

Schwer in Zahlen zu fassen ist der von US-Firmen ausgehende Know-How-Transfer, der einen deutlichen technischen und organisatorischen Modernisierungsschub der österreichischen Wirtschaft auslöste. Dazu kamen als indirekte Hilfe noch 283 Millionen Dollar im Rahmen des innereuropäischen Ausgleichs von Zahlungsbilanzdefiziten. In Summe erhielt Österreich knapp eine Milliarde Dollar. Auf den Counterpart-Konten bei der Nationalbank hatten sich knapp 18 Milliarden Schilling angehäuft. Diese ERP-Mittel konnten nur im Einvernehmen mit den Amerikanern verwendet werden, was nicht immer reibungslos vor sich ging. Erst 1961 gingen sie als ERP-Fonds in österreichischen Besitz über und dienen bis heute als Kapitalstock für geförderte Kredite.

Geopolitische Ziele

Österreich lag bei der Zuteilung von ERP-Mitteln pro Kopf nach Norwegen an zweiter Stelle. Das hatte mehrere Gründe: Österreich wurde bereits bei vorangegangenen Hilfsaktionen bevorzugt, weil vielen Menschen der Hungertod drohte. Außerdem wurde Österreich als "befreites Land" und nicht als Feindesland wie Deutschland eingestuft. Und schließlich sollte die sowjetisch besetzte Zone nicht zu einer Teilung des Landes führen. So gelangten ERP-finanzierte Industrieanlagen auch nach Niederösterreich in die Sowjetzone zu den Semperit-Werken, obwohl dort die Amerikaner besonders misstrauisch waren.

Die USA nutzten mit dem Marshallplan kriegsbedingte Überkapazitäten der eigenen Wirtschaft und verfolgten andererseits geopolitische Ziele, nachdem Stalin den Osteuropäern die Teilnahme am ERP verboten hatte und sich der Eiserne Vorhang über Europa senkte. Die "Eindämmungspolitik" gegenüber der Sowjetunion und gegenüber dem Kommunismus formulierte US-Präsident Harry S. Truman im März 1947 in seiner Truman-Doktrin, in der es u. a. hieß: "Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen . . . Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirtschaftliche und finanzielle Hilfe, die die Grundlage für wirtschaftliche Stabilität und geordnete politische Verhältnisse bildet."

Als eigentlicher Startschuss gilt jedoch die nur zwölf Minuten lange Rede von Außenminister George Marshall vor Studenten in Harvard am 5. Juni 1947. Er sagte darin, es sei nicht Sache der Vereinigten Staaten, einen Plan für Europas Wiederaufbau zu entwerfen. "Das ist Sache der Europäer selbst", betonte er. "Unsere Rolle sollte darin bestehen, den Entwurf eines europäischen Programms (. . .) zu fördern und später (. . .) zu unterstützen. (. . .) Das Programm sollte ein gemeinschaftliches sein, vereinbart durch einige, wenn nicht alle europäischen Nationen."

Der 1880 geborene George C. Marshall war ein Amerikaner wie aus dem Bilderbuch. Er entstammte einer strenggläubigen anglikanisch-episkopalen Unternehmerfamilie aus Pennsylvania und wurde Berufsoffizier. Beherrschung, Unbestechlichkeit, Verantwortung für die Untergebenen und Respekt vor der selbstgewählten Autorität sagen ihm die Biographen nach. Als junger Leutnant entwarf er auf den Philippinen für ein Manöver spontan einen so brillanten Schlachtplan zur Verteidigung Manilas, dass ihn sein kommandierender General als "militärisches Genie" bezeichnete - mit der Aussicht, Generalstabschef der gesamten US-Armee zu werden. Das wurde er 1939 auch, aber nach einer schier endlosen Warteschleife in untergeordneten Positionen.

Im Krieg koordinierte Marshall alle alliierten Operationen in Europa und im Pazifik. Winston Churchill nannte ihn den "Organisator des Sieges". Er verzichtete auf Wunsch von Präsident Roosevelt auf den prestigeträchtigen Oberbefehl in Europa und setzte Dwight D. Eisenhower an die Spitze der Truppen. George Marshall wurde nach dem Krieg Außen- und Verteidigungsminister und starb im Oktober 1959.

"Ausschussware"

Der 14 Milliarden Dollar schwere Marshallplan (nach heutigem Geldwert rund 130 Milliarden Dollar), von dem 18 Länder profitierten, wurde immer durch die politische Brille gesehen. In Westeuropa wurde er anfangs enthusiastisch gefeiert. Die kommunistische Gegenpropaganda ließ nicht lange auf sich warten. Von "schäbiger Ausschussware" war die Rede, die den Europäern geliefert werde. Ziemlich heuchlerisch war der Verweis auf staatlichen Souveränitätsverlust, sieht man sich an, wie die Kommunisten in Osteuropa an die Macht gelangten. In Italien und in Frankreich versuchten kommunistische Gewerkschaften, durch Streiks das ERP-Programm zu torpedieren. Und in Westeuropa kritisierte die intellektuelle Linke in den Siebzigerjahren den "wirtschaftlichen US-Imperialismus". Vielen gilt er aber als erster Anstoß zur europäischen Integration.

Der Historiker Wilfried Mähr, einer der profundesten Kenner der Materie aus amerikanischer wie aus österreichischer Sicht, kommt zu dem Schluss: "Für die USA war der Marshallplan das richtige Mittel zum richtigen Zeitpunkt: Er war Trumpf der wirtschaftlichen Überlegenheit dem russischen Kontrahenten gegenüber und Ausdruck der Großzügigkeit den zukünftigen Partnerländern gegenüber, selbst wenn man eigene sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen zu wahren wusste. (. . .) So gesehen war der Marshallplan wohl unvermeidlich, er wäre, unter welchem Namen auch immer, so oder so gekommen. Die politische Logik verlangte geradezu nach ihm."

Literatur:Wilfried Mähr: Der Marshallplan in Österreich. Styria 1989.Walter Robert Gaffal: Der Marshallplan als Teil der amerikanischen Westeuropapolitik unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Österreich. Diplomarbeit, 1993.Robert Payne: The Marshall Story. Prentice-Hall, 1952.HerbertHutar, Wirtschaftsjournalist und Historiker, ehemaliger Leiter des Ö1-Wirtschaftsmagazins "Saldo", arbeitet nun als freier Publizist.

Literatur:

Wilfried Mähr: Der Marshallplan in Österreich. Styria 1989.

Walter Robert Gaffal: Der Marshallplan als Teil der amerikanischen Westeuropapolitik unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Österreich. Diplomarbeit, 1993.

Robert Payne: The Marshall Story. Prentice-Hall, 1952.

Herbert Hutar, Wirtschaftsjournalist und Historiker, ehemaliger Leiter des Ö1-Wirtschaftsmagazins "Saldo", arbeitet nun als freier Publizist.