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"Nichts zu achelen"

Von Alexia Weiss

Wissen

Briefe aus den Jahren 1939 bis 1941 dokumentierten den Überlebenskampf von jüdischen Familien in Wien.


Wien. "Nun hat auch uns das schon so viele getroffene Schicksal ereilt, daß das mit so vielen Mühen u. Opfern vorbereitete u. lang ersehnte Ziel im letzten Moment vereitelt wurde, diesmal durch die plötzliche, unerwartete Schließung des Konsulates. Es waren Tage voll aufregender Hast, denn unsere über alles Erwarten vorzeitige Einteilung zur Einschiffung am 15. Juli, Abfahrt Wien 30. Juni, gab uns bloß 2 ½ Wochen Zeit zur Abrüstung. (...) Seither tauchen wieder neue Hoffnungen auf. Ob es nicht nur Wunschträume sind. Angeblich bemüht sich die K.G. (Kultusgemeinde, Anm.), um für die oben erwähnten Reisefertigen doch noch eine Möglichkeit ihrer Visumerlangung u. Ausreise zu schaffen", schrieb Gisela Stella "Ella" Schab im August 1941 in einem Brief an die bereits in die USA emigrierte Verwandschaft.

Deportiert nach Izbica

Am Ende sollte sich alles Ringen um eine Ausreisemöglichkeit nicht lohnen: Schab, geboren 1890, wurde am 5. Juni 1942 in das Ghetto Izbica deportiert. Danach verliert sich die Spur - gewiss ist nur, dass sie die NS-Zeit nicht überlebte. Dem damals 15-jährigen Herbert Peter Secher gelang 1939 mit seinen Eltern mit einer der letzten Schiffspassagen die Emigration in die USA. Andere Teile der Familie konnten sich nach Palästina und Sydney retten. Jene, die es nach Riga schafften, sollten am Ende den Holocaust nicht überleben, ebenso wie jene fünf Personen, die in Wien zurückblieben. Letztere korrespondierten regelmäßig mit den Verwandten, die nun weltweit verstreut lebten.

Herbert Peter Secher, der in den Vereinigten Staaten später als H. Pierre Secher eine wissenschaftliche Karriere als Politologe machen sollte (in den 1990er Jahren veröffentlichte er zum Beispiel eine Biographie des langjährigen österreichischen Kanzlers Bruno Kreisky), stieß 1994 im Nachlass seiner Mutter auf Briefe der Wiener Familie mit seinen Eltern und Onkeln in New York. Er beschloss, die Korrespondenz zu veröffentlichen, doch die Arbeit daran war emotional und zog sich dahin.

Erst 2004 publizierte Secher die rund 160 Briefe beziehungsweise Brieffragmente unter dem Titel "Left behind in Nazi Vienna". Kurz vor seinem Tod übermittelte Secher die Originalbriefe an den Zeithistoriker Stefan August Lütgenau, der sie nun gemeinsam mit Sarah-Marie Thiel im Studienverlag in ihrer ursprünglichen deutschsprachigen Fassung herausbrachte.

Eine neue Perspektive zum Narrativ der Verfolgung und Schoa in Wien ergibt sich aus den Briefen nicht, wie Lütgenau betont. "Es sind die Intimität der Texte, die Nähe zu den Autorinnen und der familiäre Charakter, die die Stärken der Texte ausmachen. Der Leser, die Leserin wird in die Situation eingebunden und kann den Autorinnen Marie Kupler und Ella Schab gleichsam über die Schulter schauen."

Während man von Schab, die das Gros der Schreiben verfasste, immerhin weiß, dass sie nach Izbica verbracht wurde, sind von Kupler, geboren 1883 in Wien, weder ein Datum noch eine Destination der anzunehmenden Destination beziehungsweise Sterbeort und -zeitpunkt bekannt.

Liest man sich durch Kuplers und Schabs Schreiben, die einander stark ähneln, bekommt man ein gutes Gefühl, wie eingeengt, wie mühevoll sich der Alltag als Jude in der NS-Zeit in Wien abgespielt haben muss. Die Redundanzen in der Korrespondenz zeigen, womit die Menschen kämpften: Immer wieder zur Übersiedlung in noch kleinere, noch schäbigere Quartiere (zunehmend in Sammelwohnungen) gezwungen, mussten sie nach und nach Möbel, Besitztümer verkaufen, da kein Platz mehr zur Unterbringung da war. "Also wieder einmal übersiedelt. Damit man nicht aus der Übung kommt", schrieb Schab im September 1940. "Für uns ist das Wort Übersiedlung ein Schreckensbegriff."

Lebensmittel wurden zum Luxusgut und Juden (in den Briefen immer nur als "J." bezeichnet) hatten oft "nichts zu achelen" - also nichts zu essen. "Im Dampfbad habe ich mich von dem vielen Schmutz befreit u. gleich mein Gewicht kontrolliert, das sich leider noch immer nach abwärts bewegt, übrigens bei allen, jetzt wiege ich, Hansi erschrick nicht, 45 ½ kg. So wenig hab ich nicht einmal in meiner dünnsten, jungfräulichsten Zeit gewogen. Ob ich wieder zunehmen werde, schwer möglich", teilte Schab im Mai 1940 ihrer Familie mit.

Geschönte Form

Dennoch bewegt sich die Schilderung des tristen Alltags wohl in einer sehr geschönten Form, wie das heutige Wissen um die damalige Zeit ahnen lässt. Man merkt an, dass man sich verbotenerweise kurz auf einer Parkbank im Augarten ausgeruht hätte, dass man sich nach einem Besuch im Krapfenwaldlbad sehne oder nach einem Ausflug ins Grüne.

Die Schikanen durch die Nationalsozialisten werden aber explizit nicht erwähnt, "nicht präsent sind auch Krieg und Zensur", wie Lütgenau festhält.

"Diese vermeintliche Lücke ist in mehrfacher Hinsicht zu erklären. Weder Ella noch Marie waren ‚politische Menschen‘, beide wussten um die Beschränkungen ihres Gesichtskreises, Informationen über den Fortgang des Krieges waren in New York mindestens ebenso wenn nicht viel leichter verfügbar. Die Briefe sollten unbehelligt von der Zensur ihre Adressaten erreichen", so der Herausgeber. So steht vor allem die Bitte um zahlreiche Post von Kindern, Geschwistern, dem Enkel im Mittelpunkt aller Schreiben, und es wird klar: Viel mehr positive Abwechslung gab es für die in Wien Gebliebenen nicht.

Angst vor "P."

Andererseits wird berichtet, wie man alles versucht, um ausreisen zu können, ob ein Affidavit eingelangt ist, wie es um Visa steht, ob man schon zur medizinischen Untersuchung auf der amerikanischen Botschaft gewesen sei beziehungsweise wie man alles versucht, bei dieser nicht mangelernährt und gesund zu sein. Eine zentrale Rolle spielten dabei "Liebesgabenpakete" von Angehörigen und Freunden aus dem Ausland, deren Erhalt immer wieder mit Dank quittiert, deren zunehmendes Ausbleiben beziehungsweise Unzustellbarkeit bedauernd berichtet wurde.

Der Schrecken, der allen im Nacken saß, wird in den vielen Briefen in einen einzigen Buchstaben gegossen: nämlich "P." - also P für Polen. Dass dort nichts Gutes auf die Betroffenen wartete, schien allen klar zu sein. "Bei uns nichts Neues und dies ist gut, denn Neues bringt so nicht Gutes für uns", schrieb Schab im März des Jahres 1941. "Jedenfalls leben wir jetzt viel ruhiger, da wir nicht fürchten müssen, nach P. zu kommen."

Stefan August Lütgenau/Sarah-Marie Thiel (Hg.): "Ich lass mich von den
Geschicken tragen. Briefe und Fragmente einer jüdischen Familie aus Wien
1939-1941", Studienverlag, Innsbruck 2015, ISBN 978-3-7065-5028-4,
32,90