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Mit dem Auge, nicht mit dem Spaten

Von Eva Stanzl

Wissen
An sich steht der Archäologe Wolfgang Neubauer hier alleine auf weiter Flur. Die Renderings rund um ihn zeigen nur, was einmal unter dem Boden war. Die Fundamente sollen nicht ausgegraben werden, sondern die Basis von Computermodellen der Stadt sein.
© LBI Arch Pro/Interspot Film

Gladiatorenschule in Carnuntum als virtuelles Modell auf dem Computer - müssen Archäologen überhaupt noch graben?


Als Kind waren Besuche in Carnuntum nicht einfach Spaziergänge in einer Gegend mit Pappeln und nachher Schnitzel. Sondern sie stellten auch Turnübungen für die Vorstellungskraft dar. Während wir durch die Ausgrabungen der Römerstadt stiefelten und mein Vater mir anhand der Mauerreste die antike Welt erklärte, versuchte ich, mir auf der Basis der Grundmauern Häuser vorzustellen. Ich malte mir aus, wie hoch die Gebäude und wo die Fenster gewesen sein könnten. Ich dachte mir - das war schwieriger - Dächer dazu, und - leichter - Hausdamen in Togen mit Kopfschmuck. Menschen wandelten zwischen gedachten Säulen, badeten in imaginierten Bädern und hielten ein Plauscherl auf vorgestellten Marktplätzen ab. Ich fand, dass die alten Römer wohl nicht sehr groß gewesen sein dürften - ein Gedanke, den meine Mutter bestätigte.

Das war in den 1970er Jahren. Seither wurden ein Bürgerhaus, eine Stadtvilla und eine Thermenanlage als Freilicht-Museum aufgebaut. Carnuntum, das Legionslager mit Lagerstadt an Donau und March östlich von Wien, diente dem Schutz des pannonischen Limes, der eine Außengrenze des Imperium Romanum gegen die Barbaren im Norden bildete. Es war eine der wichtigsten Stationen, die diese Grenze bewachten.

Die Gebäude, die heute exemplarisch zu sehen sind, stellen ein begehbares Zeitfenster in die ersten fünf Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts dar. Sie sind mit Holztischen, Kommoden und Geschirr ausgestattet und ihre Wände in Orange, Blau, Creme und Dunkelrot bemalt. Nichts davon sieht so aus wie die hellen Hallen meiner kindlichen Vorstellung - das Setting erinnert eher an Bauernhäuser bis 1900. Irgendwie waren die Römer moderner, als ich als Kind angenommen hatte. Aber vielleicht habe ich damals auch nur nicht bedacht, dass Carnuntum nicht Rom ist und es mit Vorstellungen von Athen vermischt.

Brot, Spiele und Devotionalien

Um solchen Mischbildern entgegenzuwirken, wollen Archäologen nun ein noch genaueres Bild der Vergangenheit zeichnen. Und zwar nahezu ohne Ausgrabungen. Mit technischer Hilfe entlocken sie den Schätzen, die unter den Böden des Gemeindegebiets Petronell-Carnuntum liegen, noch weitere Geheimnisse. Den Daten zufolge hatte die antike Ausgrabungsstätte eine noch größere Bedeutung als bisher angenommen, berichten Forscher des Ludwig Boltzmann Instituts für Archäologische Prospektion in Wien. Sie haben eine Gladiatorenschule entdeckt und den Fund 2013 im Fachblatt "Archeology" publiziert. Eine Dokumentation der "Universum"-Reihe, die kommenden Dienstag im ORF ausgestrahlt wird, geht nun auch in farbenprächtige Details.

In Zusammenarbeit mit dem Land Niederösterreich haben die Wissenschafter umfassende Fundamente auf einer Fläche von 7,8 Quadratkilometern mit magnetischen Messungen sowie 2,7 Quadratkilometer mit hochauflösendem Bodenradar prospektiert: Vereinfacht könnte man sagen, sie haben das Gebiet gescannt und dabei Mauerüberreste unterirdisch vermessen. Das Ergebnis ist ein hochdetaillierter Plan der gesamten Landschaft von und rund um Carnuntum. "Wir können das Stadtgebiet abgrenzen, in Räume hineingehen, sie funktional zuweisen und das Areal in öffentliche Räume, Militärlager, private Wohngebiete und Tempel gliedern", sagt Wolfgang Neubauer, Leiter des Boltzmann Instituts für Archäologische Prospektion.

Die Gladiatorenschule, ein abgeschlossener Gebäudekomplex auf einer Fläche von 2800 Quadratmetern, liegt in einer 11.000 Quadratmeter umfassenden, von einer Mauer umgebenen Parzelle. Zu der Anlage gehört ein Innenhof mit einer kreisrunden Trainingsarena und hölzernen Zuschauertribünen, eine beheizbare Trainingshalle, eine Badeanlage, ein Verwaltungstrakt, der Wohnbereich des Besitzers der Schule und die (fünf Quadratmeter großen) Wohnzellen der Gladiatoren.

Weiters hat der diskrete Blick mit den Radar-Geräten, die wie spacige Aufsätze auf Rädern hinter Traktoren über die Lande gezogen werden, Wirtschaftsgebäude zur Versorgung des Publikums ausgemacht. "Wir haben Tavernen, teilweise mit Geschirr, einen großen Getreidespeicher und eine Bäckerei gefunden - im wahrsten Sinne des Wortes waren Brot und Spiele angesagt", sagt Neubauer, und: "Auch Devotionalien wurden verkauft. Frühere Funde haben gezeigt, dass es sich dabei um kleine Öllämpchen mit Abbildungen der Gladiatoren sowie Gladiatoren-Figuren handelte."

Unsichtbar in der Natur

Im alten Rom konnten erfolgreiche Kämpfer zu Superstars aufsteigen. In Carnuntum wurden Gruppenkontingente zusammengezogen, die hier überwinterten, um im Frühjahr Feldzüge gegen die Germanen durchzuführen. "Die Spiele sollten die Soldaten bei Laune halten und die Kampf-Tugenden darstellen: Jeder Legionär sollte mit Todesverachtung sein Leben geben", sagt der Archäologe. Die Militärzelte waren rund um das Heidentor gruppiert, das ein Triumphbogen war.

Damit die faszinierende Geschichte nicht im Elfenbeintrum versteckt bleibt, entwickeln die Forscher aus ihren Messungsdaten nun 3D-Modelle, die zeigen, wie die Gladiatorenschule einmal ausgesehen haben könnte. Am Ende der Arbeiten soll ein virtuelles Bild von Carnuntum stehen. Die Messungen sind somit Grundlage für Strukturen, die dann auf Laptops, iPads oder Filmleinwänden zu sehen sein werden.

Dennoch: Den fantastischen Welten fehlt eine gewisse, man könnte sagen: Haptik. Denn in der freien Wildbahn sieht man außer Landschaft und Gras - eigentlich nichts. Wird überhaupt noch gegraben? Oder ist die Archäologie nunmehr völlig befasst mit verborgenen Städten, die zwar an Bedeutung gewinnen, aber die der Spaziergänger im Gelände nicht einmal erahnt?

"Für den wissenschaftlichen Wert müssten wir nicht mehr graben. Es nützt wenig, eine Mauer zu scannen und sie dann auszubuddeln, nur um zu sehen, dass sie genau so aussschaut, wie die Geräte sagen", betont Neubauer, der übrigens auch Informatiker ist. "Aber es gibt Ausnahmen." Etwa, wenn Test-Grabungen durchgeführt werden müssen, die verifizieren, dass die Strukturen im Radar auch tatsächlich im Boden liegen. Oder um korrekt zu datieren. Denn wer wissen will, wie alt ein Militärgraben genau ist, muss Material zu Tage fördern, das sich datieren lässt. Bodenradar & Co können Fundament-Mauern nämlich nur relativ zueinander datieren, indem sie die Schichtenbildung nachvollziehen. Das absolute Alter erkennen sie nicht. Ein bisschen notwendig ist die archäologische Grabung also doch. Zudem hat sie etwas Handfestes. Selbst das schönste Computerbild kann keine korrekte Dokumentation aller Details abliefern - eine sichtbare Grundmauer hingegen behauptet nicht einmal, dies zu tun.

Flexibles Bild

Experten der archäologischen Prospektion lieben die Flexibilität, die ihr Fachbereich der archäologischen Forschung ermöglicht hat. Die 3D-Modelle beruhen auf bisherigem Wissen aus Grabungen und Messungen, und bei römischer Architektur ließe sich das relativ leicht kombinieren, sagen sie. Es gab architektonische Vorschriften und Vorbilder wie Herkulaneum. Diese Kanone kombinieren sie mit Funden und aus den gesammelten Informationen fertigen sie die Modelle.

"Natürlich ist es immer ein subjektives Bild, das durch weitere Vorstellungen relativiert werden kann. Doch das ist ja Schöne: Nichts ist in Beton gegossen, sondern die virtuellen Bilder können jederzeit durch neue Erkenntnissen ergänzt werden", sagt Neubauer: "Somit haben wir immer ein aktuelles Bild davon, wie Carnuntum ausgesehen haben könnte. Und das ist keine römische Fantasie." Eine Turnübung für die Vorstellungskraft ist der Besuch einer Grabungsstätte für Kinder, die einen Ort, den es so nicht gibt, in allen Details serviert bekommen, wohl auch - aber in einer völlig anderen Form.