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"Uneinsichtige Kinder"

Von Stefan und Andreas Brocza

Wissen

In einer Wiener NS-Kolonialpolizeischule wurden Vorkehrungen für die Planung künftiger Kolonialgebiete in Afrika getroffen.


Dieses Gebäude in Strebersdorf war ab 1941 Ausbildungsstätte der Kolonialpolizei.
© Historische Postkarte

Den Verlust der Kolonien, euphemistisch "Schutzgebiete" genannt, empfanden viele Deutsche in der Zwischenkriegszeit als ungerecht. Die Siegermächte von Versailles stellten prinzipiell ein "Versagen" Deutschlands als Kolonialherr fest und teilten dessen Gebiete in Afrika, Asien und der Südsee als Mandate des Völkerbunds untereinander auf.

Zur Speerspitze des Kolonialrevisionismus wurden sogenannte Kolonialvereine, für die nötige mediale Anerkennung sorgten zahlreiche höchst erfolgreiche Publikationen - wie etwa der in Südwestafrika spielende Roman "Volk ohne Raum" von Hans Grimm. So war es nur natürlich, dass die ebenso revisionistisch eingestellte NSDAP zu einem kolonialen Fürsprecher und politischen Verbündeten wurde. Zentrale Persönlichkeit dieser Bewegung war Franz Ritter von Epp. Der frühere Freikorpsführer wurde 1925 Bundesführer des Kolonialkriegerbunds und 1928 als nationalsozialistischer Kandidat Bayerns in den Reichstag gewählt. Mit der NS-Machtergreifung folgte die Gleichschaltung der Interessensvereine unter den Reichskolonialbund RKB, wobei etwaige als jüdisch angesehene frühere Vereinsmitglieder oder Kriegsveteranen ausgeschlossen wurden. Von Epp sollte als designierter Kolonialminister ab März 1939 zügig die "Wiedererlangung der Kolonien" vorantreiben.

NS-Tagung in Wien

Die zeitgenössische Faszination für Kolonien machte auch vor Österreich nicht halt. Zwar war die Donaumonarchie nur marginal am formellen Kolonialismus beteiligt, doch nun sahen viele dort ihre Zukunft. Zahlreiche Kolonialvereine gründeten sich, wobei diese von Beginn an einen starken deutschnationalen Beigeschmack aufwiesen. Diese Schlagseite verstärkte sich während des autoritären Ständestaates, der - in Folge des versuchten Juliputsches - die Nationalsozialistische Partei verboten hatte. Die Kolonialvereine wurden so vorübergehend zu einem Sammelbecken illegaler Nazis, worauf mit zeitlicher Verspätung auch diese Vereine in Österreich verboten wurden.

Nach dem März 1938 nutzte das NS-Regime koloniale Aktivitäten dazu, um in Österreich Unterstützung zu finden. Schätzungsweise fünf bis neun Prozent der Wiener Bevölkerung waren um 1940 Mitglied des Reichskolonialbundes. Schon von 16. bis 19. Mai 1939 erlebte Wien das erste koloniale NS-Großereignis: die Reichstagung des Reichskolonialbundes. Motto: "Großdeutschlands Kolonien - Großdeutschlands Recht!"

Die Organisation dieser Tagung stellte Wien vor einige Hürden: Unterkünfte für Tausende Besucher mussten bereitgestellt werden, vom Rathaus wehte die Kolonialbundfahne und die Hofreitschule gab Sondervorstellungen. Nachträglich weiß man, dass es die letzte große Zurschaustellung kolonialer Hoffnungen des RKB war - die nächste geplante Reichstagung in Danzig 1940 wurde bereits kriegsbedingt abgesagt.

In Wien schwelgt man jedoch weiterhin in Kolonialträumen. In den Räumlichkeiten der Neuen Burg fand von Juni bis Juli 1940 die Deutsche Kolonialausstellung statt, welche von einer eigens vom RKB Gau Wien gedrehten "Kolonialen Wochenschau" unterstützt wurde. Die Ausstellung selbst zeigte Themen wie "Die Rohstoffe der Kolonien; Die Schutztruppe; Koloniales Geld und Briefmarken". Parallel dazu zeigte das Naturhistorische Museum die Sonderausstellung "Ostmarkdeutsche als Forscher und Sammler in unseren Kolonien".

Neben aller Öffentlichkeitsarbeit des Kolonialbundes erarbeitete das NS-Regime konkrete Pläne zur Wiedergewinnung von Kolonien. Bereits nach der Machtergreifung machte Adolf Hitler in internationalen Zeitungen klar, dass Deutschland seine alten Gebiete zumindest in Afrika zurück- fordern würde.

Deutsches Mittelafrika

Zuallererst war die Frage zu lösen, welche Form von Kolonialismus verfolgt werden sollte. Die Rohstoff- und Siedlerkolonie in Afrika, welche der RKB sich erhoffte, oder der alte Traum der Ostkolonisierung deutscher Siedler in Europa, welche ideologisch die Gruppe um Alfred Rosenberg forderte. Dann stellte sich bei afrikanischen Territorien die Frage, ob nur die früheren Schutzgebiete gefordert werden, oder ob man nun die Vision eines deutschen Mittelafrika durchsetzen könnte.

Wichtig war auch die Frage, welches Ministerium diese künftigen Gebiete verwalten sollte. Ein neu zu schaffendes Kolonialministerium hätte erst aufgebaut werden müssen. Das Marineministerium hätte die Verwaltung übernehmen können, erschien aber zu schwach. Auf Höhe der Zeit und der Technik überlegte man, die Länder durch die Luftwaffe, also Hermann Görings Reichsluftfahrtministerium, versorgen und verwalten zu lassen. Mit diesen und ähnlichen Planspielen wurden Jahre und zahlreiche Mannstunden verbracht.

Ein Machtfaktor schien vorerst kein Interesse an Kolonien zu haben: die immer einflussreicher werdende SS unter Heinrich Himmler. Als aber die Planungen mit Ausbruch des Krieges realistischer wurden, weil man die Niederlage der Westmächte erwartete, konnte gerade die SS einen Trumpf aus dem Ärmel ziehen: Die Kolonien würden eine paramilitärische Polizeitruppe brauchen. Und seit 1936 trug Himmler den Titel "Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei".

Fieberhaft begannen konkrete Planungen: Wie viele Polizisten braucht welches Gebiet, sollen es nur Europäer oder auch farbige Truppen, Askaris, sein? Wie soll die Ausrüstung sein, welche Typen von Laster, Kübelwagen und Motorrad waren tropentauglich? Wie soll die Hygiene, Bekleidung geregelt sein? Und nicht zuletzt: Wie soll mit den farbigen Eingeborenen umgegangen werden?

Vorbild Italien

Dafür ließ Himmler das Kolonialpolizeiamt im Hauptamt der Ordnungspolizei schaffen und gründete im Frühjahr 1941 in Oranienburg die erste Kolonialpolizeischule für 600 Schüler. Inhaltlich holte man sich kurzerhand Ratschläge beim italienischen Verbündeten. SS-Männer des Sicherheitsdienstes wurden aus Deutschland zur Weiterbildung an die Kolonialpolizeischule in Tivoli geschickt. Erste "praktische Erfahrungen" konnten auch gemacht werden: Absolventen aus Oranienburg begleiteten Erwin Rommels Afrikakorps.

Das zunächst erfolgreiche Afrikaabenteuer Rommels ließ auch den Bedarf an Polizisten ansteigen. Da man sich schon im baldigen Besitz von Kolonien sah, sollte an einem zweiten Ort weiteres Personal ausgebildet werden. Schnell kristallisierte sich von Seiten der SS Wien als Standort heraus: eine Universitätsstadt, welche Sprachen und Völkerkunde lehrte, eine interessierte Bevölkerung und - wohl inoffiziell mitgedacht - noch außerhalb der Bomberreichweite der Alliierten. Doch die Mächtigen in Wien sträubten sich, ein Kampf um Einfluss und Gebäude begann.

Im August 1941 traf ein Bevollmächtigter von Himmler in Wien ein, um geeignete Räumlichkeiten zu besichtigen. Gebäude der Wiener Polizei waren rar, in Kagran hatten sie nur Baracken zur Verfügung, im ehemaligen Jesuitenkonvent Kalksburg saß das Beschaffungsamt, also blieb noch das Schulgelände in Strebersdorf.

Doch darauf hatten zahlreiche NS-Stellen ein Auge geworfen. Es war nach dem "Anschluss" 1938 den Christlichen Schulbrüdern unter dem Vorwand weggenommen worden, darin eine Anstalt für Lehrerbildung zu schaffen. Das Reichsbildungsministerium überließ dann aber für ein Jahr die Liegenschaft der Polizei, später war die Dauer auf "höchstens drei Jahre" verlängert worden und im September 1941 hätte es an die Schulverwaltung übergeben werden müssen. Nun also stritten sich drei Stellen um Strebersdorf.

Tropentauglichkeit

Die Wiener Polizei legte Wert darauf, dass die Kolonialpolizei nicht in Wien eingesetzt werden würde, die Schulverwaltung wollte es zurück und der Wiener Reichsstatthalter Baldur von Schirach intervenierte in Berlin gegen die Kolonialschule. Doch es nütze nichts, im NS-System saß bereits die SS am längsten Ast: Die Schule ging im September 1941 für 180 Schüler mit 35 Mann Stammpersonal in Betrieb. Nur ausgewählte Kandidaten wurden zuglassen, Tropentauglichkeit war selbstverständlich und auf die ideologische Ausbildung wurde besonderer Wert gelegt. Von normalen NS-Polizeischulen weiß man, dass antisemitische und antibolschewistische Tagesbefehle die Norm waren, hier wurde es um eine weitere rassistische Note erweitert. Der Blick in die Akten und Schulunterlagen belegt dies anschaulich: Farbige sollten niemals wie Europäer behandelt werden. Bestenfalls wären sie wie uneinsichtige Kinder zu behandeln. Bildungsmaßnahmen in den Kolonien sollten nicht erfolgen.

Die Wiener Kolonialschule arbeitete bis in die zweite Hälfte des Jahres 1942 plangemäß, dann folgten die Niederlagen des Regimes in Afrika - und auch das Blatt im Russlandfeldzug wendete sich endgültig. So vollführte auch der NS-Staat eine totale Kehrtwende. Mit Führerbefehl mussten alle kolonialen Aktivitäten im Reich sofort beendet werden, die Vereine wurden stillgelegt, die Kolonialpolizeischule wurde aufgelöst. Aus der Schule selbst wurde eine Napola - eine Nationalpolitische Lehranstalt.

Die Absolventen der Lehrgänge verschlug es zu unterschiedlichen Verbänden - vor allem auf dem Balkan und an der Ostfront. Ihre späteren Tätigkeiten verdeutlichen die Aufgaben der Polizeieinheiten im NS- Vernichtungssystem: Manche der Wiener Polizeischüler kamen zum III. Bataillon des Polizeiregiments 5 in Serbien und waren wahrscheinlich an der Deportation nach Treblinka beteiligt, andere wurden zu Galizischen SS-Freiwilligenregimentern versetzt, manche leiteten SS-Vernichtungslager oder bekämpften Partisanen. In Afrika selbst konnte keiner von ihnen seine in Wien erworbene Ausbildung anwenden. Ein kleiner Trost einer unrühmlichen Geschichte.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen, Andreas Brocza ist Politologe mit den Schwerpunkten regionale Integration und Afrika.