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Wissenschaftliche Träumereien

Von Manuel Chemineau

Wissen

Der surrealistische Maler und Bildhauer Max Ernst wurde vor 125 Jahren geboren und starb vor vierzig Jahren. In seinem Werk verbindet sich Phantasie mit technischer und kunsttheoretischer Präzision.


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Rätselhafte Kombination banal wirkender Motive: "Der Elefant Celebes" (1921).
© Derek Bayes/Leberecht Music& Arts/Corbis

Begibt man sich in Pariser Buchhandlungen auf die Suche nach Werken über Max Ernst, stößt man - wenn überhaupt - auf eine nur sehr spärliche Auswahl. Auf die Frage, warum das so ist, bekommt man als Antwort, dass Ernst sich eben schlecht verkaufe. Tatsächlich scheint dieser Künstler im deutschen Sprachraum mehr Anerkennung zu finden als im französischsprachigen Raum, wo doch immerhin der größte Teil seines Schaffens anzusiedeln ist.<p>Der am 2. April 1891 in Brühl in eine Künstlerfamilie geborene Maler hat, wenn auch mit einer gewissen persönlichen und höflichen Zurückhaltung, die bildenden Künste der Moderne wie kein anderer geprägt und miterfunden. Nach einem abgebrochenen Philosophiestudium widmet er sich früh der Kunst, bewahrt sich aber ein theoretisches Interesse, das er ein Leben lang mit Essays und kunsttheoretischen Schriften nährt.<p>Um 1911 begegnet er den Mitgliedern der Gruppe "Blauer Reiter", der expressionistischen Avantgarde Deutschlands. 1913 reist er erstmals nach Paris, wo er die ersten Surrealisten trifft, etwa den Poeten Guillaume Apollinaire, den Erfinder des Begriffs "Surrealismus", Robert Delaunay und später Hans Arp.<p>

Annäherung an Dada

<p>Als der Erste Weltkrieg ausbricht, kehrt Max Ernst nach Deutschland zurück und muss einrücken - rückblickend wird er erzählen, dass er am ersten Tag des Krieges gestorben und erst am letzten Tag wiedergeboren worden sei. Ungleich den Mitgliedern des Blauen Reiters, die in einem patriotistischen Naturalismus waten und (zumindest am Anfang) der allgemein herrschenden Kriegseuphorie verfallen, nähert sich Max Ernst der entstehenden dadaistischen Bewegung an, deren aktives Mitglied er in Köln wird. Seine damaligen Werke zeigen den Einfluss Paul Klees oder Marcel Duchamps.<p>Nach dem Krieg entdeckt er den Pariser Surrealismus und die "metaphysische Malerei" eines Giorgio de Chirico, die einer Traumdeutung entsprungen zu sein scheint. Der junge Max Ernst begeistert sich gleichzeitig, wie auch andere Surrealisten, für die Arbeit von Sigmund Freud und kreiert sogenannte psychoanalytische Bilder. Die Faszination für Freud steht nicht im Widerspruch zur surrealistischen Programmatik, obwohl die gewissermaßen auf einer Ablehnung der Wissenschaft und Vernunft beruht. Denn auch Freud, der sich vornimmt, die Traumwelt wissenschaftlich zu ergründen, geht dabei künstlerisch-assoziativ vor, sodass seine Arbeiten den Traum in eine neue Systematik einbetten (Traumdeutung) und dennoch tiefere Abgründe eröffnen.

Max Ernst (2. 4. 1891-1. 4. 1976)
© Dutch National Archives Den Haag, Wikimedia Commons

<p>Ernsts Malerei vollbringt quasi die inverse Arbeit des Traums, indem sie Bildmotive so zusammenstellt, dass die rätselhafte Kombination banal wirkender Motive wie ein Traumbild erscheint. Die Titel der Werke, die mit der Bildsprache kollidieren oder mit dieser zusammenarbeiten, spielen dabei eine große Rolle.<p>1925 erfindet Max Ernst die Technik der Frottage (aus dem Französischen "frotter" für reiben), bei der er mit einer Bleistiftmine durch Reibung auf dem Papier die Struktur der darunter liegenden Objekte erscheinen lässt und dabei verfremdet. Ein Brett wird so zur Landschaft, Blätter werden zum Wald. Ebenso wendet er die Technik der Grattage an (aus dem Französischen "gratter" für kratzen), bei der er gleich wie bei der Frottage vorgeht, nur dass er Schichten von einer zuvor aufgetragenen Farbe abkratzt.<p>Dieses Spielen mit vorhandenen Elementen führt ihn auch zu einer intensiven Beschäftigung mit Collagen (aus dem Französischen "coller" für kleben), die eine der wichtigsten und zentralen Säulen seines Schaffens bilden.<p>Dabei erkundet er die unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit einer Vorlage. Sehr früh, schon in Deutschland, noch bevor er die Pariser Surrealisten trifft, arbeitet er in seine Gemälde fremde Elemente ein, wie ausgeschnittene Teile aus wissenschaftlichen Büchern, technische Zeichnungen oder enzyklopädische Abbildungen. Es entstehen dabei Bilder, die nicht nur dem Kanon der akademischen Malerei widersprechen, sondern die auch die Grenzen der ästhetischen Gattungen missachten: Verfremdung, Überarbeitung, Kombination - wobei stets die Vorlage eine Deutung erfährt.<p>Später, in Gemälden wie "La femme chancelante" (Die schwankende Frau) von 1923 oder "L’Éléphant Célèbes" (Der Elefant Celebes) von 1921 kombiniert Ernst Bildmotive, die er aus populärwissenschaftlichen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts entnimmt und abmalt. In "La femme chancelante" etwa inszeniert er eine Frauenfigur, die eigentlich aus einem Artikel über eine Artistin stammt, die mit Magnetschuhen die Decke entlang wandert. Das zweite Bildmotiv ist eine ebenfalls einem Artikel entnommene Vorrichtung, die dazu dienen sollte, Öl aufs Meer zu sprühen, um Wellen zu beruhigen. Max Ernst malt die Frau aufrecht stehend, kombiniert mit den genannten unbekannten mechanischen Elementen, deren Funktion dem Zuschauer unbegreiflich ist, und kreiert so eine surrealistische Wirkung. Diese Bildsprache ist nicht nur eine Übernahme und Aufwertung, sondern auch ein Kommentar zur wissenschaftlichen Sprache und zur technologischen Welt.<p>

Collage-Romane

<p>Die Bildromane von Max Ernst, die er in den späten 1920er Jahren und Anfang der 30er Jahre schafft, wie "La femme 100 têtes" (1929), "Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au carmel" (1930) und "Une semaine de bonté" (1933) bilden den Höhepunkt der Collagekunst. Darin schneidet Max Ernst aus diversen Vorlagen minutiös und mit höchster Genauigkeit Bildelemente aus und kombiniert sie auf einer fremden Vorlage wieder neu. Das Ausgangsmaterial bilden üblicherweise populärwissenschaftliche Zeitschriften (wie "La Nature"), Illustrationen von Populärromanen oder Warenkataloge aus dem späten 19. Jahrhundert. Allesamt Holzschnitte, die meist in Textpublikationen eingebettet waren, und von vornherein eine gewisse stilistische Einheit bilden, im leichten Widerspruch zu Max Ernsts Aussage, wenn er die Collagetechnik so definiert: "Sie ist die systematische Ausbeutung des Zufälligen oder künstlich produzierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene." Das Zusammentreffen ist weder zufällig, noch sind die Realitäten wesensfremd, noch ist die Vorlage ungeeignet. Dieser Widerspruch zwischen Programmatik und tatsächlichen Kunstwerken wird für die moderne Avantgarde stets prägend sein.<p>Ernst sorgt bei diesen Collageromanen für eine exakte Zusammensetzung der einzelnen, oft sehr kleinformatigen Teile, sodass man oft nicht mehr genau weiß, was zur Unterlage gehört und was vom Künstler stammt. Dabei unterstreicht er, was die Max-Ernst-Rezeption unterschätzt hat: den surrealistischen Charakter, der zum Beispiel einer wissenschaftlichen Abbildung innewohnt. In der Tat, wer durch die Ausgaben der Zeitschrift "La Nature" blättert, wird sich der Magie bewusst, die diese Abbildungen ausstrahlen.<p>Die Technologie, die dabei ist, die Welt zu erobern, wird von vielen Avantgardisten scheinbar abgelehnt, weil sie der Meinung sind, dass diese enthumanisiert und entzaubert. Viele der surrealistischen Generation haben Technologie und Wissenschaft mit den Gräueln des Ersten Weltkriegs assoziiert, dessen Zerstörungskraft Ausmaße annahm, die man sich niemals hätte vorstellen können.<p>Gleichzeitig verlagert sich das Magische in der Welt auf ebendiese technologischen Erfindungen: das Telefon, das wie durch Zauber die Stimme vom Körper loslöst und den Raum wie einen Geist durchwandern lässt; die Lokomotive, die den Raum abschafft; die Fotografie, die realer ist als die Realität und das Gedächtnis erniedrigt. Darüber hinaus dominiert die Ästhetik der Maschinen zunehmend den Alltag der Objekte (glatte Metallkörper, Glas- und Eisenkonstruktionen).<p>Diese mythologische Erneuerung hat Max Ernst in seinen Collagen vielleicht am einprägsamsten verdeutlicht, wobei er natürlich nicht der Einzige seiner Zeit ist, der sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzt. Zur gleichen Zeit malt Marcel Duchamp die Chronofotografie eines Etienne-Jules Marey ab und zollt so der unmittelbaren Faszination Tribut, die diese ursprünglich nur zu wissenschaftlichen Zwecken gemachten Studien der Bewegungsabläufe von Tieren und Menschen innehaben. Man Ray reagiert mit seiner Rayographie auf die Faszination der Röntgenstrahlen. André Breton und andere Surrealisten erheben technische Objekte zum Mysterium, indem sie deren technische Herkunft negieren.<p>

Emigration & Rückkehr

<p>In den 30er Jahren nimmt Max Ernst an surrealistischen Aktivitäten teil, spielt auch eine kleine Rolle in Buñuels "Lâge d’or" und anderen Filmen. Mitte der 30er Jahre beginnt er nach einem Besuch bei Alberto Giacometti, sich mit Bildhauerei zu befassen.<p>Der Zweite Weltkrieg zwingt ihn zur Auswanderung nach New York mit seiner zweiten Ehefrau Peggy Guggenheim, wo er Marcel Duchamp oder Marc Chagall wieder trifft. 1953 kehrt Max Ernst aus den USA mit seiner mittlerweile vierten Frau nach Frankreich zurück. In Paris wird er aus der sterbenden surrealistischen Bewegung ausgeschlossen. Graphik, Collagen und Lithographien prägen diese Zeit. 1958 wird er französischer Staatsbürger.<p>Eines seiner schönsten Werke ist zweifellos "Le jardin de la France" aus dem Jahr 1962, wo Max Ernst eine Kopie des Bildes "La naissance de Vénus" von Alexandre Cabanel (das einen nackten liegenden Frauenkörper darstellt) übermalt. Der Frauenkörper wird umhüllt, sodass man nur noch Teile wie den Unterleib und die rechte Brust sieht. Eingebettet wird dieses Motiv in eine Flusslandschaft und Beschriftungen (Pfeile, Namen etc.), die an technische Zeichnungen erinnern. Mit dieser Bildsprache kehrt Max Ernst zu den wesentlichen Themen seiner philosophisch-künstlerischen Arbeiten zurück.

Manuel Chemineau, geboren in Paris, lebt in Wien. Kulturhistoriker, Literaturwissenschafter und Übersetzer, unterrichtet an der Universität Wien. 2012 erschien sein Buch  "Fortunes de ‚La Nature‘, 1873-1914", im WIener Lit-Verlag.