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Der todbringende Mediziner

Von Ulrich Zander

Wissen

Der schrecklichste Serienmörder der französischen Kriminalgeschichte, Dr. Marcel Petiot, hat von den Nazis verfolgte Juden durch Giftinjektionen ermordet, die Opfer zerstückelt und verbrannt.


1942 spülte die Seine immer wieder menschliche Schädel, Gliedmaßen und da und dort einen Torso an - vermutlich mit einer scharfen Säge abgetrennt. Beinahe wöchentlich meldeten Spaziergänger derart grausige Funde. Manchmal schwammen die sterblichen Überreste im Fluss, zuweilen waren auch Pakete oder Koffer mit Leichenteilen an einsamen Stellen in Vororten abgelegt worden.

Ab dem Sommer 1940 ist Paris von der Deutschen Wehrmacht besetzt, die Hakenkreuzfahne weht über dem Eiffelturm. Die Zeiten sind schlecht, der "Frieden" ist trügerisch. Die Pariser Unterwelt produziert Leichen am laufenden Band und die französische Widerstandsbewegung exekutiert Kollaborateure und bei Gelegenheit auch Besatzer. Deutsche töten Franzosen.

Aus diesen Umständen hätte sich die Häufung der Seine-Toten erklären lassen, wenn nicht unverhältnismäßig viele Frauen und auch ein Kind unter den Opfern gewesen wären. Die fachgerechte Zerteilung der Körper ließ auf einen Experten als Täter schließen. Hatte man es mit einem medizinisch gebildeten Serienmörder zu tun? Im Jahre 1943, bevor eine entschiedene Fahndung überhaupt begonnen hatte, ebbte die unheimliche Serie ab, abgesägte Gliedmaßen wurden keine mehr gefunden.

Die Entdeckung

Am 11. März 1944 ärgert sich Monsieur Marçais zum wiederholten Male über den dichten, übel riechenden Qualm, der aus dem Nebenhaus, Rue Le Sueur 21 im 16. Arrondissement, aufsteigt. Diesmal ist der Rauch so dicht, dass er einen Kaminbrand vermutet. Statt der Feuerwehr alarmiert Marçais jedoch die Polizei. Die steht vor verschlossenen Türen, kann den Hausbesitzer, den Arzt Dr. Marcel Petiot, jedoch telefonisch in seiner Wohnung in der Rue de Caumartin erreichen.

Petiot verspricht umgehend zu kommen, um aufzuschließen. Als das aber nicht geschieht, wird die Feuerwehr zu Hilfe gerufen. Ein Fenster an der Vorderfront des dreigeschossigen Hauses ist schnell aufgestemmt, im Keller sind zwei Öfen in vollem Betrieb. Diese werden geöffnet - und eine menschliche Hand fällt heraus. Die Feuerwehrmänner sind entsetzt vom Anblick, den die verwahrlosten Räume bieten. Überall Knochen: Von Schädeln, Armen, Beinen, Füßen, Händen, Rippen, Hüften. Etliche Leichen sind halb verwest, was auch den bestialischen Gestank erklärt. Manch ein Toter ist zur Vorbereitung leichterer Verbrennung völlig ausgedörrt.

Die Lösung des Rätsels finden Polizisten hinter einem Verschlag: Eine Grube, an der ein Flaschenzug angebracht ist - gefüllt mit Leichen. Diese waren mit Feuchtigkeit entziehendem ungelöschtem Kalk bedeckt worden.

In all dem Chaos verlangt plötzlich ein schlanker, mittelgroßer, dunkelhaariger Mann, der sich als Bruder des Hausbesitzers ausgibt, eingelassen zu werden. Im Keller flüstert er den Beamten zu: "Sind Sie gute Franzosen?" Selbstverständlich sind sie gute Franzosen. Der Mann mit dem durchdringenden Blick erklärt nun: "Das hier ist eine Hinrichtungsstätte der Résistance." Die Opfer seien Kollaborateure, Gestapo-Agenten und Deutsche.

Und dann geschieht das Unfassbare: Der Mann, von dem sich bald herausstellen wird, dass es sich um Dr. Petiot persönlich handelte, schwingt sich ungehindert auf sein Fahrrad und verschwindet.

Krank und gefährlich

Marcel Petiot wurde am 17. Jänner 1897 in Auxerre geboren. Der Jugendliche galt als "anomal" und wurde von mehreren Schulen verwiesen. Er soll Tiere gequält und gestohlen haben. Als 17-Jähriger wurde er für psychisch krank erklärt. Dennoch kam er 1916 zur Armee, wurde verwundet und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Er schoss sich selbst in den Fuß, kam ins Lazarett und erhielt wegen schwerer Depressionen, Paranoia und "geistigem Ungleichgewicht" eine Invalidenrente zugesprochen.

Nach Kriegsende und einem dreijährigen Medizinstudium, das er mit Auszeichnung abschloss (er promovierte über eine Nervenkrankheit), ließ er sich als Arzt in Villeneuve sur Yonne, einer Gemeinde rund 100 Kilometer südöstlich von Paris, nieder. Er beging immer wieder Diebstähle, war aber als Armenarzt beliebt und galt als kompetent. 1926 verschwand seine schwangere Geliebte spurlos, die Hinweise auf ihre Ermordung durch Petiot wurden als böswilliges Gerede abgetan.

Er heiratete, bekam einen Sohn und avancierte zum Bürgermeister. Im Amt veruntreute er Gelder, ließ ein schweres Steinkreuz vom Friedhof mitgehen und war darüber hinaus bekannt für seine seltsamen Reden, die er durch unmotiviertes Gelächter selbst unterbrach.

Weil Petiot Benzin gestohlen und Strom abgezapft hatte, wurde er als Bürgermeister abgesetzt. Die Familie zog daraufhin nach Paris, wo der Doktor durch angeblich revolutionäre Heilmethoden ("Strahlentherapie") und Drogengeschäfte bald zu Wohlstand kam. Eine kurzfristige Unterbringung in der Psychiatrie schadete seinem guten Ruf als Arzt der Zukurzgekommenen, Gestrauchelten, Süchtigen und Verfolgten nicht. 1943 war Petiot von der Gestapo festgenommen worden, die ihn für einen Résistance-Mann und zugleich für einen "gefährlichen Geisteskranken" hielt. Dennoch kam er nach einigen Monaten wieder frei.

Das "Schlachthaus" , das Petiot schon kurz nach Erwerb für seine mörderischen Zwecke hatte umbauen lassen, wird nun systematisch auf den Kopf gestellt. Im Keller stoßen die Ermittler auf einen kleinen, dreieckigen Raum, der innen eine Klingelattrappe, aber keine Klinke besitzt. Durch einen in der Wand angebrachten "Spion" konnte Petiot das Geschehen im Inneren beobachten. Ein schrecklicher Verdacht wird rasch zur Gewissheit: Dieser Raum diente als Todeskammer, hier starben die Opfer.

Aber wer waren die Toten wirklich? Die Ermittlungen unter Kommissar Georges-Victor Massu (nebenbei bemerkt ein Vorbild des literarisch-fiktiven Kommissars Maigret) brachten die entsetzliche Wahrheit zutage: Es waren in der überwiegenden Mehrzahl von den Nationalsozialisten drangsalierte Juden. Die Gestapo hatte nach und nach die Judenverfolgung auch im besetzten Frankreich etabliert, so dass die Betroffenen jederzeit damit rechnen mussten, in ein Konzentrationslager verschleppt zu werden.

"Dr. Eugène"

Petiot baute nun ein (imaginäres) Netzwerk auf, in dem er vorgab, die Verfolgten durch das unbesetzte Frankreich, Spanien und Portugal nach Argentinien schleusen zu lassen. Unter dem Tarnnamen "Dr. Eugène" hatte er seinen arglosen Opfern erzählt, er sei der Chef eines Résistance-Fluchtrings und verlangt, sie müssten Banknoten und Schmuck für die Reise in ihre Kleidung einnähen. Vermutlich hatte er ihnen Gift, möglicherweise Zyanid, injiziert. Die argentinischen Behörden würden, hatte er "seinen" Flüchtlingen zuvor weisgemacht, bei der Einreise den "Impfnachweis" verlangen.

Durch einen Türspion betrachtete Petiot den Todeskampf. Anschließend raubte er seine Opfer aus. Es wurden 83 Koffer gefunden, zum Teil mit Kleidungsstücken, die diversen Vermissten später zugeordnet werden konnten. Petiot tötete übrigens ohne Ansehen der Person - nicht nur von den Besatzern verfolgte Juden, sondern auch Unterweltler, die aufgrund des Fahndungsdrucks der Polizei Frankreich verlassen wollten.

Nachdem sein Mordkeller entdeckt worden war, blieb Petiot verschwunden. Das Untertauchen dürfte ihm leicht gefallen sein. Denn in Paris herrschte inzwischen Chaos. Schießereien zwischen Wehrmachtssoldaten und französischen Aufständischen waren nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 an der Tagesordnung. Nach der Befreiung der Hauptstadt am 25. August versank die Stadt in Jubel. Massu ließ mittlerweile öffentlich fahnden. Die Zeitungen überschlugen sich nun in der Suche nach "Dr. Satan".

Die Festnahme

Am Morgen des 31. Oktober wurde Petiot (mit Vollbart, in Militäruniform und mit Armbinde der Freien Französischen Streitkräfte des Generals de Gaulle) an der Metrostation "Saint-Mandé-Tourelle" festgenommen. Er nannte sich "Henri Valerie", hatte aber auch andere Ausweispapiere dabei, viel Geld und einen geladenen Revolver. Während seiner Flucht war er zum Hauptmann einer Vereinigung von Résistancegruppen, der "Forces françaises de l’intérieur," avanciert.

Den Vorwurf, mindestens 27 Menschen getötet zu haben (diese Opferzahl ergab sich aus den Leichenteilen im Keller), konterte Petiot lakonisch mit: "63". Dennoch behauptete er, "unschuldig" zu sein. Er habe zwar getötet, aber nicht gemordet. Das Haus in der Rue Le Sueur habe als Exekutionsort für die Feinde Frankreichs gedient, er sei der Chef einer Widerstandsgruppe namens "Fly-Tox" ("Fliegengift") gewesen. Eine solche Organisation hatte es nie gegeben.

Am 19. März 1946 begann der Prozess. Vor Gericht blieb Petiot bei seiner Widerstandsgeschichte, erntete sogar von Teilen des Publikums Applaus. Er schwadronierte, schimpfte und machte sich über die Staatsanwaltschaft lustig - alles sehr theatralisch. Und er beteuerte weiter seine Unschuld. Der Richter glaubte ihm nicht, hielt ihn aber, wie schon zuvor der psychiatrische Gutachter, für zurechnungsfähig. Und sprach am 4. April das Todesurteil. Am 25. Mai 1946 fiel das Beil.

Der Großteil der Millionenbeute wurde nie gefunden. Auch die exakte Opferzahl blieb im Dunkeln, man ging von mehr als 100 Ermordeten aus. Die Motivation des Mannes, dessen Untaten an die Massenmorde der Nazis in Auschwitz erinnerten, konnte nicht zufriedenstellend erklärt werden. Habgier? Sadismus? Beides könnte eine Rolle gespielt haben. Vor allem aber war Petiot wohl eines doch - geisteskrank.

Ulrich Zander, geboren 1955, lebt als freier Journalist in Berlin und ist spezialisiert auf historische, insbesondere kriminalhistorische Themen.