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Pathos, Angst und Leidenschaft

Von Nikolaus Halmer

Wissen
Aby Warburg, etwa im Jahr 1900.
© anonym/Wikimedia Commons

Der Kunsthistoriker Aby Warburg, der vor 150 Jahren geboren wurde, hat durch sein vielseitiges, fragmentarisch zersplittertes Werk die moderne Kunstwissenschaft nachhaltig inspiriert.


"Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiografischem Reflex abzuleiten versuche." In dieser Selbsteinschätzung des Kunsthistorikers Aby Warburg wird bereits das Leitmotiv seiner wissenschaftlichen Arbeit deutlich. Er interessierte sich für Kunstwerke, die die Emotionen und irrationalen Mächte wie Angst, Schmerz, Ekstase oder Gewalttätigkeit evozierten.

Warburg verstand sich jedoch keineswegs als Exeget des Irrationalismus, sondern als Aufklärer, der - ähnlich wie Sigmund Freud - den zu eng gefassten Rationalitätsbegriff des kunsthistorischen Kanons erweiterte. Er plädierte für eine radikale Öffnung der Kunstgeschichte: Neben den Meisterwerken der Epochen sollten auch Münzen, Wappen, Briefmarken, Flugschriften oder Zeitungsfotos gleichberechtigte Gegenstände der wissenschaftlichen Forschungen werden.

Bank im Hintergrund

Geboren wurde Aby Warburg am 13. Juni 1866 als ältester Sohn einer angesehenen jüdischen Bankiersfamilie in Hamburg. Er verzichtete auf das ihm zustehende Recht, die Leitung der Bankgeschäfte zu übernehmen, allerdings mit der Bedingung, dass ihm alle Bücher, die er für seine Studien benötigte, jederzeit zur Verfügung gestellt werden sollten. Die Grundintention der so entstehenden Bibliothek verstand Warburg als "ein noch ungeschriebenes Handbuch der Selbsterziehung des Menschengeschlechts", das den Titel "Von der mythisch-fürchtenden zur wissenschaftlich-errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber" trug.

1886 begann Warburg ein Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie in Bonn und promovierte mit einer Dissertation über Sandro Botticellis "Die Geburt der Venus" und "Der Frühling" in Straßburg. Darin findet sich bereits ein zentrales Motiv seiner Arbeit; nämlich der Nachweis, dass Motive der antiken Kunst in der Renaissance nachgewirkt haben, wobei sie jedoch eine entscheidende Modifikation erfuhren. Besonders auffällig war für Warburg die Beobachtung, dass die von antiken Vorbildern übernommenen Formen immer dann auftauchten, wenn es um die Gestaltung der Bewegung - speziell derjenigen von flatternden Haaren und Gewändern - ging. In seiner Dissertation prägte Warburg dafür den Begriff des "bewegten Beiwerks".

Das Thema "Nachleben der Antike" spielte auch in seinen weiteren Arbeiten über die Kunst der Renaissance eine wichtige Rolle. In dem Aufsatz "Dürer und die italienische Antike" erweiterte Warburg das "bewegte Beiwerk" um andere Motive einer bewegten Gebärdensprache, die die innere, psychische Erregung - das Pathos - von Menschen darstellten. Leidenschaften wie Liebe, Glück, Ekstase, Rausch oder Angst wurden in Bildmotiven festgehalten, die konstant in verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte auftauchten.

Diese zu Stereotypien mutierten Motive nannte Warburg "Pathosformeln" und löste damit eine erhebliche Irritation bei Wissenschaftern seiner Fachdisziplin aus, die ein ideales Bild der Renaissance entworfen hatten, in der Harmonie und wohlproportionierte Formen beschworen wurden. Genau dieser Auffassung widersprach Warburg und bezog sich auf Friedrich Nietzsche, der in seiner Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" auf die Kräfte des Apollinischen und Dionysischen hingewiesen hatte.

Warburg und Nietzsche

In seinem Buch "Das Nachleben der Bilder" zeigt der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman die Gemeinsamkeit zwischen Warburg und Nietzsche auf. Sie liegt darin, dass sie die Objektivität der Kunstgeschichte radikal in Frage stellen und Kunst als ein Phänomen betrachten, das eine "elementare Lebensenergie" verströmt, die nicht mehr in ästhetischen Kategorien beschrieben werden kann. "Das gesamte Affekt-System ist erregt und gesteigert, sodass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entlädt", notierte Nietzsche.

Didi-Huberman weist nun darauf hin, dass dieses "gesteigerte Affekt-System" auch "wilde Energien" des Schmerzlichen, Hässlichen, des Pathologischen und des Dämonischen enthält. Die Aufgabe der Künstler sah Warburg nun darin, die pulsierende Energie, die von den antiken Kunstwerken ausging, zu domestizieren. Die dämonischen Mächte sollten im Kunstwerk gebannt werden, um einen "Denkraum der Besonnenheit" zu eröffnen. "Athen will immer wieder aus Alexandrien zurückerobert werden", postulierte Warburg, wobei er sich bewusst war, dass es sich nicht um eine lineare Erfolgsgeschichte handeln konnte, sondern um ein Oszillieren zwischen magisch-irrationaler und rationaler Weltsicht. "Die Epoche, wo Logik und Magie auf einem Stamm geimpfet blühten, ist eigentlich zeitlos", schrieb er.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die wissenschaftliche Arbeit Warburgs sind seine Analysen der Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara, die er 1922 veröffentlichte. Die Fresken stellen einen aus zwölf scheinarchitektonisch eingefassten Wandsegmenten bestehenden Kalender dar, auf dem menschliche Tätigkeiten mit Tierkreiszeichen in Verbindung gebracht werden. Warburgs Untersuchungen wurden von der Überzeugung geleitet, dass eine rein fachspezifische Interpretation nicht ausreicht, um die Komplexität der Fresken zu erfassen. In der Analyse findet sich der Aufruf an die Kunsthistoriker, dass es an der Zeit sei, "die Grenzpolizisten an den Trennlinien der Disziplinen zu bekämpfen". Kunst- und religionsgeschichtliche Studien sollten gemeinsam mit mythologischen, astrologischen und astronomischen Untersuchungen behilflich sein, die Fresken zu entschlüsseln. Dabei spielte der Sterndämon des Widders eine zentrale Rolle. An seinem Beispiel wollte Warburg zeigen, wie die Wanderschaft der Symbole durch die Epochen erfolgte.

Der Widder erschien in der as-trologischen Tradition, die von Ägypten und Persien ausging, als eine verkommene, zerlumpte Figur, die ihre Herkunft aus dem Archaischen, Wilden des Mythos verdeutlichen sollte. Ihm stellte Warburg den mythischen Helden Perseus gegenüber, dem es gelang, durch seine Taten dämonische Kräfte - wie sie zum Beispiel von Medusa ausgingen - zu bannen und somit einen "Denkraum der Besonnenheit" zu schaffen.

Seelische Krise

Für seine Person konnte Warburg den "Denkraum der Besonnenheit" jedoch nicht aufrecht erhalten; die Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges erschütterten ihn tief. Er war mit der verzerrten Fratze eines gewalttätigen Nationalismus konfrontiert, der von zahlreichen Intellektuellen unterstützt wurde. Die internationale Barbarei erfuhr Warburg in all ihren Ausprägungen; in Aufrufen zum kollektiven Mord, in nationalistischen Hasstiraden und im Bilderkrieg der entfesselten Medien. Nach dem Ende des Krieges erlitt er einen vollständigen psychischen Zusammenbruch; nach Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken kam Warburg auf Empfehlung Sigmund Freuds in das Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, das von dem Psychiater Ludwig Binswanger geleitet wurde.

Warburg litt unter der Zwangsvorstellung, dass er und seine Familie ermordet werden sollten. "Die zwei großen Themenkomplexe seiner wissenschaftlichen Arbeit", so schrieb Ernst Gombrich in seiner Warburg-Biographie, "der Ausdruck der Leidenschaft und die Reaktion auf Angst ergriffen von ihm Besitz in Form von furchtbaren Anfällen und Wahnvorstellungen, die ihn schließlich zu einer Gefahr für sich und die Umwelt machten."

Der Aufenthalt in der Klinik Bellevue war von Warburgs Wahnvorstellungen, Phobien und Gewaltausbrüchen geprägt. Erst ein Vortrag, den der allmählich Genesende 1923 über das Schlangenritual der Hopi-Indianer hielt, wurde zum Wendepunkt seiner Krankengeschichte. Ein Jahr später erfolgte die Entlassung, die "Beurlaubung zur Normalität". Für den Rest seines Lebens fühlte sich Warburg als "ein Wiedergeborener", der aus dem Totenreich wieder aufgetaucht war. Das nach dem Klinikaufenthalt entstandene Werk charakterisierte er als "Heuernte bei Gewitter".

Ein wichtiger Gesprächspartner war in diesen Jahren der Philosoph Ernst Cassirer, der von 1874 bis 1945 lebte. Cassirer, der Autor der "Philosophie der symbolischen Formen", hatte ebenfalls einen interdisziplinären Ansatz für seine wissenschaftliche Arbeit entfaltet. Er besuchte Warburg 1924 in der Klinik, wo es zu einem intensiven Gedankenaustausch kam. Warburgs "Denkraum der Besonnenheit" fügte sich perfekt in die Symboltheorie von Cassirer, der den Denkprozess als Konstruktion von Symbolen verstand, die der Mensch kreiert, um unabhängig denken zu können. Diese grundsätzliche Übereinkunft begründete eine lebenslange Freundschaft.

"Mnemosyne"

Das Projekt, das Warburg bis zu seinem Tod am 26. Oktober 1929 beschäftigte, war der sogenannte "Mnemosyne-Atlas", der seine weit verstreuten Forschungsgebiete bündeln sollte. Benannt ist der Atlas nach Mnemosyne, die in der griechischen Mythologie als Göttin der Erinnerung fungiert. Erinnert werden sollte an die wichtigsten Pathosformeln und ihre Wiederverwendung in der Kunstgeschichte. Zu diesem Zweck wurden Fotografien von Kunstwerken, Münzen, Briefmarken oder Zeitungsausschnitten, die verschiedene Pathosformeln wiedergaben, auf Tafeln fixiert. Die rund zweitausend Fotografien wurden lose geheftet, sodass sie immer wieder zu neuen Konfigurationen angeordnet werden konnten.

So entstand ein work in progress, das nicht den Anspruch hatte, eine systematisch ausgearbeitete Kunsttheorie zu produzieren. Die Offenheit von Kunsttheorien, die später Umberto Eco propagierte, nahm Warburg im Projekt des Mnemosyne-Atlas vorweg. Diese Aufgeschlossenheit für das Offene, Fragmentarische macht Warburg zu einem zeitgenössischen Gelehrten, dessen Arbeit der an der Humboldt Universität in Berlin lehrende Kunsthistoriker Horst Bredekamp auf den Punkt bringt: "Er war ein Grenz-überschreiter, ausgestattet mit einem vibrierenden Erfahrungsvermögen, der Fragestellungen nachgegangen ist, die für die Kunst- und Kulturgeschichte von großer Bedeutung sind und das gilt bis heute."

Literaturhinweise

Aby Warburg: Werke in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig. Suhrkamp, Berlin 2010.

Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Übersetzt von Michael Bischoff. Suhrkamp, Berlin 2010.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.