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"Nur ein Sandkastenspiel"

Von Gerald Wolf

Wissen

Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Hitler glaubte an einen schnellen Sieg.


Es war nach Hitlers Worten der "größte Kampf der Weltgeschichte", der am 22. Juni 1941 begonnen hatte. Rund drei Millionen deutsche und 690.000 Soldaten verbündeter Staaten fielen an diesem Tag ab drei Uhr früh in die Sowjetunion ein. Den 150 Divisionen der deutschen Angreifer standen allein in den westlichen Militärbezirken der UdSSR vier Heeresgruppen mit 2,9 Millionen Rotarmisten und mindestens 10.000 Panzern gegenüber. Von einer quantitativen Überlegenheit, wie sie von den deutschen Kriegsplanern vorausgesetzt worden war, konnte angesichts dieser Zahlenverhältnisse allenfalls bedingt die Rede sein. Dennoch war sich die Führung sicher, dass ein weiterer militärischer Triumph zu erwarten war.

Nachdem der Feldzug gegen Frankreich selbst die kühnsten Erwartungen übertroffen hatte, glaubten weder Hitler noch seine führenden Militärs daran, dass ein Krieg gegen die Sowjetunion ihre vermeintlich stärkste und bestgerüstete Armee der Welt vor ernste Herausforderungen stellen könnte. Kurz nach seinem Paris-Besuch (Ende Juni 1940) hatte der bestens gelaunte "Führer" seinen beiden Spitzenmilitärs Wilhelm Keitel und Alfred Jodl versichert, dass ein solcher Kriegszug im Vergleich zum soeben triumphal beendeten Westfeldzug "nur ein Sandkastenspiel" darstellen würde; und Anfang Dezember 1940 hatte er einem bulgarischen Gesandten erklärt, dass die Rote Armee "nicht mehr als ein Witz" sei.

Hitlers Krieg

Das Unternehmen Barbarossa - so der Deckname für den Einmarsch in die UdSSR - war fraglos Hitlers Krieg. Seit seinem Machtantritt hatte er darauf hingearbeitet. Dazu war es aber zunächst nötig gewesen, für das Deutsche Reich neue außenpolitische Spielräume zu schaffen. In einem ersten Schritt hatte Hitler schon 1933 den 1922 abgeschlossenen Vertrag von Rapallo mit der Sowjetunion aufgekündigt. Damit war nicht nur das Ende der Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr der Weimarer Republik und der Roten Armee gekommen, sondern auch eine außenpolitische Wende eingeleitet worden.

Bekanntlich hatte das Reich und die UdSSR auch eine gewisse antipolnische Stoßrichtung geeint. Die Deutschen hatten eine Rückgewinnung der nach dem Ersten Weltkrieg an Polen verlorenen Gebiete angestrebt, die Sowjets wiederum hatten wegen des 1920 verlorenen Krieges gegen Polen auf Revanche gesonnen.

Durch den am 26. Jänner 1934 mit Polen abgeschlossenen Nichtangriffspakt schuf Hitler eine wesentliche Voraussetzung für einen Krieg mit der UdSSR. Diesem Pakt misst der deutsche Historiker Rolf-Dieter Müller eine ähnlich große Bedeutung wie dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 bei. Mit seiner 2011 veröffentlichten Studie "Der Feind steht im Osten" unterzog er die gesamte Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges einer Neuinterpretation.

Zentral ist dabei seine Einschätzung, dass die angeblich strikt antipolnische Haltung Hitlers auf einer sehr fragwürdigen Quelle beruht, nämlich den ominösen "Gesprächen", die der Danziger Senatspräsident Hermann Rauschning mit Hitler geführt haben will. Sie galten lange als eine "Schlüsselquelle" für Hitlers Haltung zu Polen, werden aber von Müller (und nicht nur von ihm) für ein Machwerk gehalten. Auf diesen "Gesprächen" beruhte die lange Zeit unangefochtene These eines "Stufenplans" Hitlers zur Erringung der Weltherrschaft. Demnach habe er nach der Niederwerfung Polens die Westmächte bezwingen wollen, um für seinen "Lebensraum-Krieg" gegen die UdSSR "den Rücken frei" zu haben. Gestützt auf die Beherrschung der russischen Landmasse habe er danach mit den USA und Großbritannien den Kampf um die Beherrschung der Welt aufnehmen wollen.

Polen als Partner?

Was nicht so recht zu diesem "Plan" passte, waren die intensiven diplomatischen Beziehungen, die das Deutsche Reich 1934 bis 1939 zu Polen unterhielt. Müller erklärt diese nicht mit diplomatischen Finten, sondern damit, dass Polen als Partner für einen künftigen Krieg gegen die UdSSR gewonnen werden sollte. Dazu sollte Polen Danzig und den sogenannten "Korridor" zwischen Pommern und Ostpreußen dem Reich als Aufmarschgebiet für einen Ostkrieg überlassen. Als Kompensation sollte Polen Territorium in der Ukraine erhalten.

Erst als sich Polen dem deutschen Werben endgültig verweigerte und den Westmächten zuwandte, wurde aus Hitlers Sicht ein Krieg unvermeidlich. Dabei zog er auch die Option in Erwägung, nach einem siegreichen Polenfeldzug sofort in die UdSSR einzufallen. Deren militärische Stärke schätzten die deutschen Militärs als gering ein. Sie fürchteten vor allem die Stärke Frankreichs. Als Großbritannien und Frankreich nach dem deutschen Angriff auf Polen 1939 Deutschland den Krieg erklärten, war der in Aussicht genommene sofortige Ostfeldzug vereitelt. Einen Zweifrontenkrieg wollten weder Hitler noch seine Militärs riskieren.

Der Ostfeldzug - so wie er 1941 schließlich realisiert wurde - beruhte auf höchst fragwürdigen Annahmen. Hitlers Militärs glaubten, die Masse der sowjetischen Streitkräfte noch im westrussischen Raum vernichten zu können. Den Faktor des schwierigen russischen Geländes vernachlässigten sie dabei ebenso, wie sie es verabsäumten, ausreichende Reserven bereitzustellen.

Hitler wiederum wollte von Anfang an einen Vernichtungskrieg führen. Das Sowjetsystem sollte ausgelöscht, seine Völker wie die Juden entweder vernichtet oder auf den ihnen zugedachten Status von Arbeitssklaven herabgedrückt werden. Einer bis dahin im Zweiten Weltkrieg noch nicht vorgekommenen Brutalisierung und Radikalisierung waren somit von Anfang an Tür und Tor geöffnet.

Zunächst versetzte die Wucht des deutschen Angriffs die Welt in Erstaunen und Entsetzen. Panzerverbände durchstießen in rasantem Tempo die sowjetischen Linien. Die russischen Westarmeen wurden danach in zwei großen Kesselschlachten von der nachrückenden Infanterie zerschlagen, über 600.000 Gefangene wurden gemacht. Die Luftwaffe, die rund 3900 Flugzeuge aufgeboten hatte, griff Flugplätze, Militärstützpunkte und Depots an. Allein am ersten Kampftag sind 1811 der rund 7500 in Westrussland stationierten Sowjetflugzeuge zerstört worden.

Begünstigt wurden diese Anfangserfolge durch die sowjetische Militärdoktrin. Diese sah eine grenznahe Aufstellung der eigenen Truppen vor. Im Falle eines Angriffs sollte so mit raschen Gegenangriffen ins Feindesland reagiert werden können. Im Juni 1941 aber war die durch Stalins "Säuberungen" geschwächte Rote Armee weder objektiv noch in ihrer Selbstwahrnehmung zu einem solchen Angriffskrieg fähig.

Siege mit hohem Preis

Trotz der anhaltenden Siegesserie begann sich auf deutscher Seite zunehmendes Unbehagen zu verbreiten. Allein im Juli 1941 verzeichnete die Wehrmacht an der Ostfront 63.099 Gefallene. Mit Ende Juli waren auch fast ein Viertel der eingesetzten Panzer als Verlust zu verbuchen. Stalin aber ließ immer neue Reserven an die Front werfen - Kanonenfutter für die vorstürmenden Deutschen, die sich mehr und mehr "zu Tode siegten", wie es ein Kriegsberichterstatter aus Italien ausdrückte.

Dass dieser Krieg eine völlig neue Dimension und Qualität hatte, entging auch den hohen Offizieren nicht. Gotthard Heinrici, der Kommandeur des XXXXIII. Armeekorps, berichtete in Briefen an seine Frau von "Hekatomben von Menschenopfern", die der Krieg fordere, und von den Schwierigkeiten, welche seine Truppe aufgrund der "riesengroßen Räume" und der "unendlichen Wälder" habe. "Es haben sich alle Leute in dem Russen verschätzt", schrieb er - ganz in der Diktion der Zeit - am 1. August nach Hause. "Man hat nicht das Empfinden, als ob der Russe gesonnen sei, den Krieg [. . .] eines Tages aufzugeben."

Besorgt war auch Adolf Hitler, allerdings nicht wegen der Menschenverluste. Was dem "größten Feldherrn aller Zeiten", wie ihn seine Bewunderer nannten, Kopfzerbrechen bereitete, war die Frage des weiteren strategisch-operativen Vorgehens. Der "Führer" "schlafe deswegen nachts nicht", hatte Gerhard Engel, der Adjutant des Heeres im Führerhauptquartier, Ende Juli nach einem Gespräch mit Hitler geschrieben.

Führungskrise

Nach den bisherigen Raumgewinnen trat die Heeresführung für den schnellstmöglichen Vorstoß in Richtung Moskau ein. Von der Einnahme der Stadt versprach sie sich das rasche Ende des Feldzuges. Hitler hingegen hielt von dieser Option wenig. Er favorisierte einen Vorstoß nach Süden, um die Ukraine als "Kornkammer" und Rohstoffgebiet zu erobern und die sowjetische Ölzufuhr aus dem Kaukasus zu unterbinden. Durch die Wegnahme ihrer wirtschaftlichen "Lebensadern" glaubte er der UdSSR den Todesstoß versetzen zu können.

Aus diesem Hin und Her resultierte eine wochenlange Führungskrise. Schließlich gab die Heeresführung klein bei. Am 21. August wurde der deutsche Angriffsschwerpunkt nach Süden verlagert. Bis 25. September wurden die hier stehenden sowjetischen Streitkräfte, insgesamt fünf Armeen, östlich von Kiew in einer gigantischen Kesselschlacht vernichtet. 665.000 Rotarmisten gingen in deutsche Kriegsgefangenschaft, 3436 Geschütze und 884 Panzer wurden erbeutet oder waren zerstört worden.

Gotthard Heinrici aber hatten trotz des sich anbahnenden Sieges offenbar düstere Vorahnungen gequält. "Ich bin überzeugt, daß dieser Krieg noch lange dauert", hatte er am 1. September seiner Frau brieflich anvertraut. "In diesem Jahr wird er nicht beendet. Der Russe hofft auf den Winter. In dieser Zeit reorganisiert er seine angeschlagene Armee und greift dann [. . .] im Frühjahr wieder an. [. . .] Wir müssen uns jedenfalls auf das nächste Kriegsjahr einstellen." Wie sehr er mit dieser Einschätzung recht behalten sollte, ahnte er damals aber wohl noch nicht.

Literatur:
Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Ch. Links Verlag, Berlin 2011.

Gerald Wolf ist Historiker und lebt in Wien.