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Der König der Kanaren

Von Christoph Braumann

Wissen

Im Jahr 1402 machte sich ein normannischer Adeliger auf, um die Kanarischen Inseln zu erobern. Sein Unternehmen sollte zum Modell für die Kolonisierung der "Neuen Welt" werden.


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Der Eroberer Jean de Béthencourt.
© Aus: The Canarian or Book of the conquest and conversion of the Canarians in the year 1402. London, 1872

Die Kanarischen Inseln waren als "Insulae fortunatae", "Glückliche Inseln", bereits in der Antike bekannt. Sie wurden von phönizischen Seefahrern besucht, und römische Gelehrte beschrieben sie als Paradies am westlichen Ende der bekannten Welt. Später geriet die Inselgruppe, von einer Bevölkerung aus Bauern und Hirten auf jungsteinzeitlichem Kulturniveau bewohnt, in Europa in Vergessenheit. Sie wurde erst zu Anfang des 14. Jahrhunderts von genuesischen Seefahrern wieder entdeckt. Abgesehen von einzelnen Schiffen, die ihre Küsten zum Sklavenfang anliefen, blieben sie vom Einfluss Europas verschont.<p>Das sollte sich ändern, als ein normannischer Admiral in Kastiliens Diensten, Robert de Bracquemont, die Kunde von der subtropischen Inselgruppe in seine Heimat brachte. Die Schilderungen machten seinem Neffen, Jean de Béthencourt, so großen Eindruck, dass er den Plan fasste, die Inseln zu erobern und ihre Eingeborenen zum Christentum zu bekehren. Da er wegen beträchtlicher Schulden von Gläubigern verfolgt wurde, zielte sein Unternehmen vermutlich eher auf finanziellen als auf gottgefälligen Ertrag.<p>

Der Aufbruch

<p>Als Nachfahren der Nordmänner, die sich einst an der französischen Küste festgesetzt hatten, waren die Bewohner der Normandie hervorragende Seefahrer. Deshalb gelang es Jean de Béthencourt rasch, abenteuerlustige Männer um sich zu scharen, darunter den kampferprobten Ritter Gadifer de la Salle. Unter Einsatz seiner letzten Mittel - auch sein Onkel dürfte ihn unterstützt haben - rüstete er in La Rochelle ein Schiff mit allem Nötigen aus und stach am 1. Mai 1402 mit etwa 80 Mann an Bord in See. Als Vertreter der Kirche kamen ein Franziskanermönch namens Pierre Bonthier sowie Jean le Verrier, der Kaplan Béthencourts, mit auf die Reise; die beiden Geistlichen verfassten den Bericht, dem wir die heutigen Kenntnisse über das Unternehmen verdanken.<p>Die Normannen segelten über Galizien nach Cadiz in Südspa-nien, wo sie ihre Vorräte aufstocken wollten. Streit über die Aussichten des Unternehmens führte dazu, dass dort bereits ein Drittel der Mannschaft desertierte; kaum mehr als 50 Mann segelten mit Béthencourt weiter. Sie erreichten schließlich die vom genuesischen Seefahrer Lancelotto Malocello bereits im 14. Jahrhundert besuchte und nach ihm benannte Insel Lanzarote. Deren Bewohner befürchteten einen neuerlichen Überfall von Sklavenjägern und flohen ins gebirgige Inselinnere.<p>Béthencourt hatte allerdings aus Cadiz zwei kanarische Eingeborene, die Jahre zuvor als Sklaven verschleppt worden waren, als Dolmetscher mitgebracht. Ihnen gelang es, mit dem als "König" bezeichneten Herrscher der Insel namens Guadarfia Kontakt aufzunehmen und ein Übereinkommen auszuhandeln. Béthencourt sicherte darin den Eingeborenen Schutz vor künftigen Überfällen durch Sklavenjäger zu, dafür erkannte Guadarfia die Oberherrschaft des Normannen an.<p>Zur Festigung seiner Herrschaft ließ Béthencourt im Süden der Insel einen befestigten Stützpunkt errichten, den er "Rubicon" nannte. Doch bald erkannte er die Notwendigkeit, zurück nach Kastilien zu segeln, um für weitere Eroberungen Soldaten anzuwerben und Vorräte zu besorgen. In Sevilla erreichte er eine Audienz bei König Enrique III. von Kasti-lien, dem er geschickt als Souverän über die kanarischen Inseln huldigte und sich seiner Schirmherrschaft unterstellte.<p>

Der Herrscher

<p>Der geschmeichelte König erklärte Béthencourt im Gegenzug zum Herrscher über alle bisherigen und künftigen Eroberungen. Zudem verbriefte er ihm ein Fünftel aller Exporteinkünfte seines Herrschaftsbereichs, besonders aus dem Handel mit den als Purpurfarbstoff begehrten kanarischen Orchilla-Flechten. Er stellte Soldaten, Vorräte, Ausrüstung sowie ein Schiff zur Verfügung.<p>Das Kommando auf Lanzarote hatte Béthencourt zwischenzeitlich an Gadifer de la Salle übertragen; als dessen Stellvertreter hatte er Berthin de Berneval ernannt. Berthin nutzte jedoch eine Abwesenheit Gadifers, um zusammen mit einigen Kumpanen mehr als zwanzig Eingeborene gefangen zu nehmen und sie auf ein Schiff zu verschleppen. Darauf segelte er nach Kastilien, wo er mit den Sklaven auf eigene Rechnung Profit machen wollte. Die Eingeborenen waren über den frechen Vertragsbruch verständlicherweise aufgebracht, attackierten die verbliebenen Besatzer und töteten mehrere von ihnen. Das Eintreffen des Versorgungsschiffs aus Cadiz bedeutete für sie die Rettung aus höchster Not.<p>Der Kapitän überbrachte Gadifer de la Salle den Auftrag Béthencourts, bis zu seiner Rückkunft weitere Inseln zu erkunden. Gadifer segelte darauf als erstes zur benachbarten Insel "Erbanie" (dem heutigen Fuerteventura) und unternahm einen Erkundungszug ins Innere. Dann lief er die große Insel Gran Canaria weiter im Westen an. Deren Einwohner - durch schlechte Erfahrungen mit weißen Sklavenjägern äußerst misstrauisch - vereitelten aber jeden Landungsversuch.<p>Ein heftiger Sturm hinderte Gadifers Expedition in der Folge daran, die Insel La Palma zu erreichen. Immerhin konnte er auf der westlichsten Insel Hierro an Land gehen, um dann nach Lanzarote zurück zu segeln, wo bald darauf auch Béthencourt mit einem weiteren Schiff eintraf. Ihm gelang es, die Eingeborenen zur Einstellung der Feindseligkeiten zu bewegen und den Schutzvertrag erneut zu bekräftigen. Anfang März 1404 ließen sich ihr Herrscher Guadarfia und eine Anzahl seiner Leute taufen, um als Christen vor Übergriffen sicher zu sein.<p>Dass sich Jean de Béthencourt nun als "König der Kanaren" bezeichnete und ihm allein - dank Enrique III. von Kastilien - finanzielle Erträge zustehen sollten, verdross seinen Mitstreiter Gadifer de la Salle; er hatte als "ewiger Zweiter" noch keinerlei Gewinn aus den Eroberungen bezogen. Béthencourt vertröstete ihn auf die Besetzung weiterer Inseln. Daher brach Gadifer im Juni 1404 auf, um die Insel Gran Canaria zu erobern. Bei der Landung verhielten sich die Eingeborenen scheinbar friedlich, um seine Soldaten dann in einen Hinterhalt zu locken, aus dem sie sich nur unter Verlusten retten konnten.<p>Verbittert kündigte Gadifer seine Gefolgschaft auf und segelte nach Sevilla, um vor dem König seine Ansprüche vorzubringen. Béthencourt folgte ihm dorthin, wo der kastilische Herrscher zu ihm stand und Gadifer abwies; enttäuscht fuhr dieser heim in die Normandie.<p>Zurückgekehrt nach Lanzarote, wollte sich Béthencourt nun an weitere Eroberungen machen. Deshalb setzte er mit seinen Truppen vorerst auf die benachbarte Insel "Erbanie" (Fuerteventura) über, wo schon ein befestigter Stützpunkt namens "Richeroque" bestand. Nach längeren Kämpfen mit den - nur mit Steinschleudern und Speeren bewaffneten - tapferen Eingeborenen willigten die beiden "Könige" der Insel in einen Friedensvertrag ein. Sie erkannten Béthencourts Oberherrschaft an und ließen sich nach Guadarfias Vorbild umgehend mit all ihren Angehörigen taufen. Im Jahr 1404 wurde mit dem Bau der Inselhauptstadt "Betancuria" begonnen, die noch heute an ihren Gründer erinnert.<p>

Die Kolonistenflotte

<p>Um seine Herrschaft über die eroberten Inseln mit Hilfe von zusätzlichen Soldaten sowie Kolonisten zu konsolidieren, segelte Béthencourt bald darauf selbst in die heimatliche Normandie. Sein Unternehmen erweckte dort großes Interesse, und es gelang ihm, besonders Bauern und Handwerker anzuwerben. Am 9. Mai 1405 setzte seine Kolonistenflotte aus drei Schiffen in Harfleur die Segel mit Kurs Lanzarote, wo die Neuankömmlinge begeistert begrüßt wurden. Noch im Oktober 1405 machte Béthencourt sich neuerlich nach Gran Canaria auf, ein Sturm zerstreute jedoch seine Flotte, sodass nur ein Teil der Truppen dort anlangte. Beim voreiligen Versuch, ins Landesinnere vorzudringen, wurden sie von den zahlenmäßig weit überlegenen Eingeborenen zurückgeschlagen. Zumindest brachte Béthencourt die Insel Hierro unter seine Herrschaft, indem er durch eine List den Herrscher der Eingeborenen als Geisel nahm. Auf dieser grünen Insel, die am besten geeignet für die Landwirtschaft erschien, ließ er in der Folge über hundert Kolonisten ansiedeln.<p>Im Dezember 1406 verkündete Béthencourt, dass sein größtes Ziel nun die Bekehrung aller Eingeborenen zum Christentum wäre. Deshalb wollte er persönlich nach Rom zum Papst reisen, um die Einsetzung eines Bischofs für die kanarischen Inseln zu erreichen. Als Statthalter und Gouverneur aller eroberten Inseln bestimmte er seinen Neffen Maciot de Béthencourt. In Sevilla suchte er König Enrique III. auf, der sogleich einen Geistlichen für die Bischofswürde vorschlug, der die Sprache der Kanaren beherrschte. Mit einem Empfehlungsschreiben des Königs und in Begleitung des Kandidaten Albert de las Casas reiste Béthencourt weiter nach Rom, wo Papst Gregor XII. seinem Wunsch gerne nachkam. Als designierter Bischof trat las Casas darauf die Reise zu den Kanaren an.<p>Jean de Béthencourt begab sich zurück in die Normandie, wo er mit großen Ehren empfangen wurde. Bis zu seinem Tod im Jahr 1422 sollte er die Kanaren nicht mehr wiedersehen!<p>

Der Sieger Kastilien

<p>Zu diesem Zeitpunkt war sein fernes Königreich bereits in Auflösung begriffen: Sein Neffe Maciot hatte im Jahr 1418 die Besitzrechte der Inseln an einen kastilischen Adeligen veräußert, behielt aber weiterhin den Posten als Gouverneur. Nachdem die aufstrebende Seemacht Portugal ein Auge auf die Inselgruppe warf, suchte Maciot eine Annäherung an die Portugiesen. Er überließ ihnen die Insel Lanzarote und erhielt dafür von Heinrich dem Seefahrer einen Landsitz auf Madeira.<p>Im Friedensvertrag von Alcacovas 1479 wurden die Kanarischen Inseln schließlich Kastilien zuerkannt. Die kastilische Krone sicherte den Heerführern, die sich bereit erklärten, Eroberungszüge aus eigenen Mitteln zu bestreiten, die Besitz- und Handelsrechte in den eingenommenen Gebieten zu.<p>In zähen Kämpfen mit den Eingeborenen wurden bis zum Jahr 1496 alle Inseln endgültig erobert. Die "Guanchen" genannten Ureinwohner der Inseln wurden so gut wie spurlos in die zuwandernde spanische Kolonialbevölkerung assimiliert. Die von Béthencourt eingeleitete Eroberung der Kanaren als gewinnorientiertes Unternehmen sollte zum Vorbild für die Eroberung der "Neuen Welt" werden.

Christoph Braumann, geboren 1952, Referatsleiter für Landesplanung und Geographisches Informationssystem SAGIS beim Amt der Salzburger Landesregierung. Publikationen im Bereich der Raumplanung, der
historischen Raumentwicklung und der Geschichte der Kartographie.