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Wunder der Verwandlungen

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Geschichtsdarsteller in Carnuntum: Jeder entwickelt jene Gestalt, die sich für ihn richtig anfühlt, so lange, bis er sich mit ihr identifiziert.
© Edwin Baumgartner

Carnuntum feierte ein Fest der Spätantike - ein viertägiges Reenactment mit Darstellern aus ganz Europa.


Die Morgenluft umwickelt einen wie ein feuchter Lappen. Sie sagt die Schwüle des Tages voraus. Ruhig atmet die Colonia Septima Aurelia Antoniniana Carnuntum. Ein Storch zieht zwei Kreise, dann fliegt er weiter zum Schloss Petronell. Dort lässt er sich auf einem Schornstein nieder. Mit seinem Klappern zerreißt er die Stille.

Als habe ihn das Geräusch aus Morgenträumen geholt, tritt ein Römer in den Eingang der Thermen. Er lehnt sich gegen eine Säule. Eine Frau zückt den Fotoapparat. Der Römer unterbricht sein Gähnen, hebt den Schild vor die Brust, wirft sich in Pose. Jetzt ist er ganz Soldat der Armee des bis heute erfolgreichsten europäischen Staates: Rom. Ein multikultureller Staat übrigens, in dem jeder, der den Gesetzen folgte, unbehelligt seinen Traditionen nachgehen und seine eigenen Götter verehren konnte.

Nicht die Stadt, nicht das Reich sind an einem Tag errichtet worden. So blasen zu Beginn von "333", dem Fest der Spätantike in Carnuntum, keine Tubae die Eröffnungsfanfaren. Carnuntum aufersteht sanft und verschlafen, wie im Morgengrauen, wenn eine Stadt erwacht.

Der Besucher kann dem spätrömischen Treiben zuschauen, kann fragen, Teilnehmer ist er nicht. Seine Anwesenheit ist überflüssig. Das Geschehen würde genauso vonstattengehen, gäbe es keinen einzigen Zuschauer. Keine Hitze, kein Kälteeinbruch, kein Regen und kein Wind könnte eine Unterbrechung bewirken, das alles gab es auch im Jahr 333 nach Christus im Römischen Reich. Konnte man damals damit zurechtkommen, kann man es zu gleichen Bedingungen auch heute - und gewinnt Erkenntnisse: Wie gut erträgt man in dieser Kleidung schwüle Hitze? Schützt sie vor Kälte? Vor Nässe?

Rund um die Uhr in der Rolle

Reenactment nennt man solches Nachleben von Geschichte. Vier Tage lang, von Donnerstag bis Sonntag, bleiben die Geschichtsdarsteller, die Reenactors, zu allen Zeiten in ihren Rollen. Ein dünner Roter Faden bindet das Geschehen: Kaiser Konstantin der Große hat in eine der wichtigsten Donaumetropolen, eben Carnuntum, einen Dux entsandt, er möge das Zivilleben ordnen und die Truppen auf Vordermann bringen.

Am Morgen des ersten Tages also sammelt der Dux die Soldaten. Er staunt wohl, wie wenige es sind. Alle Reenactors sind unbezahlte Freiwillige. Man kann keinem vorwerfen, wenn Ferien mit der Familie oder berufliche Verpflichtungen dazwischengekommen sind. Carnuntum veranstaltet das große Reenactment zum ersten Mal, in Zukunft soll alle zwei Jahre etwas Entsprechendes stattfinden. Bei einem ersten Mal kann nicht alles glatt verlaufen.

Die Akteure kommen aus den Niederlanden, aus Frankreich, Deutsche sind dabei, Ungarn, Österreicher und manch andere. Es ist eine bunte Mischung der Nationen - sehr römisch; oder: sehr europäisch? Der Reenactor entwickelt jene Gestalt, die sich für ihn richtig anfühlt, so lange, bis er sich mit ihr identifiziert. Das kann ein Bogenbauer sein, ein Senator, ein Legionär - oder vielleicht gar ein Kaiser oder, am anderen Ende, ein Sklave. Die geschichtliche Wahrheit steht höher als emanzipatorische Begehrlichkeiten, damit sind Frauen nur in den untergeordneten Rollen zu finden, die ihnen die römische Gesellschaft zugewiesen hat. Die Reenactors bleiben in ihrer Rolle während des Tages, wenn sie trotz der schwülen Hitze die Gewänder mit vielen Stofflagen oder gar Kettenhemden anbehalten, und bei Einbruch der Nacht, wenn die Räume mit Öllämpchen erleuchtet werden, deren Licht so diffus ist, dass Lesen höchste Augenarbeit verlangt und eine Wahrnehmung der Dunkelheit entsteht, die im Zeitalter des Kippschalters längst verloren gegangen ist.

Ein Sklave wird verkauft

Den Zuschauer verblüfft das Aussehen dieser Römer: Nur noch der Senator trägt, konservativ, die Toga, und den Schnitt der Frauenkleider dominiert die altrömische Eleganz der Schlichtheit. Sonst gehören bei den Männern Hosen zur Kleidung, die Soldaten haben individuelles Gewand, schützen sich mit Rundschilden und führen Langschwerter. Keine Spur von den Legionären, die Obelix verprügelt. Diese römischen Soldaten ähneln dem Bild, das wir von Rittern haben. Die Spätantike - sie ist das frühe Mittelalter.

In dieser Zeit des Umbruchs bleibt die verfeinerte Lebensweise der reichen Schichten noch erhalten, auch Grundmuster des römischen Alltagslebens wie der Besuch der Thermen überdauern vorerst. Anders steht es um die Gladiatorenkämpfe. Der Kaiser hängt einem neuen Gott an, einem gewissen Jesus Christus. So sitzen in einer Ecke drei Römer beisammen, einer liest die Psalmen vor, die zum Inventar dieser neuen Religion gehören. Psalmen statt Gladiatoren? Was Christus lehrt, geht mit den heidnischen Spielen nicht zusammen.

Zwei Tage später ist die Tristesse des ersten Tages vergessen. Schon stolpere ich vor der Therme in einen Handel. Verkauft wird ein Sklave. Er ritzt seinen Namen in ein Wachstäfelchen und beweist so, dass er schreiben kann. Seine Zähne sind in Ordnung, er ist zwar nicht sehr kräftig, aber er kann römische Dichter rezitieren. Nach einigem Feilschen werden die beiden Herren handelseins. Die erste Aufgabe des Sklaven unter seinem neuen Dominus ist, Mulsum zu holen, verdünnten honiggesüßten Wein.

In der Luft liegt ein Geruch von kokelndem Holz, Knoblauch und Kräutern. Zeit für das Mittagsmahl. Doch der Dux wird dabei vom Anführer der Visigoten gestört: Er will Land und Waffen, im Gegenzug wird er die Feinde Roms bekämpfen. Der Dux willigt ein. Anderntags beschwert sich der Visigoten-Fürst über den schlechten Boden und die ausbleibende Waffenlieferung. Der Dux kann abwiegeln, doch der Germanenfürst geht im Zorn. Der Dux befiehlt, tüchtig zu rekrutieren und die Soldaten zu trainieren. Bei der Parade und den Kampfübungen zeigen sie dann ihr Können.

Latein ist ein Problem

Da begegne ich dem Bogenbauer, der mir am Vortag erklärt hat, welche Pfeilspitze welchem Zweck dient - denn Pfeil ist nicht gleich Pfeil. "So etwas wie Carnuntum", sagt der Geschichtsdarsteller aus Deutschland begeistert, "das ist einmalig in ganz Europa, da könnt ihr Österreicher wirklich stolz sein, was ihr da habt."

Etwas später nütze ich einen stillen Moment in der Villa Urbana für ein Gespräch mit dem Dux. Demutsvoll grüße ich ihn mit "Ave", nicht mit dem "Salve" der Gleichgestellten. Ob man je ein Reenactment inklusive der Sprache, also gesprochenem Latein, probiert hat? Es gäbe einige wenige Reenactors, die es versuchen, antwortet der Dux, aber Latein zu sprechen, ist ein Problem, nicht nur, weil man Latein als reine Übersetzungssprache lernt, sondern auch, weil die Alltagssprechweise kaum nachvollziehbar ist.

Wie groß ist wohl der Unterschied zwischen der Diktion eines Tacitus und der eines Handwerkers oder eines Legionärs? Ich deute auf ein Tuch, das der Dux im Gürtel trägt. Er zieht es heraus: Es ist eine Stola mit den Christus-Insignien. Der Priester hat sie ihm nach dem abendlichen Fest am Samstag geschenkt. Da waren längst keine Besucher mehr zugegen. Es wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine römische Sitte zelebriert. In diesem Moment war der Priester ein Priester und der Dux der Dux.

Es muss ein spätrömisches Wunder der Verwandlung gewesen sein.