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Fluchthilfe aus dem Äther

Von Peter Pirker

Wissen
Ungarische Flüchtlinge in Andau, Österreich 1956. Dieses Foto von Erich Lessing ist Teil der Ausstellung "Ungarn 56. Bilder einer Revolution" im Fotomuseum "Westlicht" (Westbahnstraße 40, 1070 Wien), die noch bis 11.11. zu sehen ist.
© Erich Lessing

Der amerikanische Sender "Radio Free Europe" spielte bei den Ereignissen rund um den Ungarn-Aufstand 1956 eine prominente Rolle.


Die Flüchtlinge aus Ungarn, die am 27. November 1956 bei Andau illegal über die Grenze kamen, waren mit den Nerven am Ende. Sie schilderten den Reportern von Radio Free Europe (RFE), dass es immer schwieriger werde, Österreich zu erreichen. Auf manche hatten sowjetische Soldaten geschossen.

Gabor Tormay, ein ungarischer Journalist, und sein polnischer Kollege Jerzy Ponikiewski arbeiteten für das Wiener Büro des amerikanischen "Freiheitssenders". Seit zwei Wochen befragten sie Flüchtlinge zu den Ereignissen in Ungarn, über Fluchtwege, Grenzpatrouillen und andere Gefahren des illegalen Grenzübertritts. Viele steckten ihnen Botschaften für Angehörige über die unversehrte Ankunft in Österreich zu - und baten darum, diese auszustrahlen.

Und RFE tat in diesen bitteren Tagen nach der Niederlage der antisowjetischen Revolution noch etwas: Es unterrichtete die Ungarn über die große Hilfsbereitschaft in Österreich - davon, dass hier viele Hilfsorganisationen bereit stünden, und vor allem, dass die österreichische Regierung die Tür weit offen halte.

Graue Eminenz

Ganz wesentlich daran beteiligt war der renommierte britische Journalist George Eric Gedye, der das Wiener Büro von RFE leitete. Gedye war die graue Eminenz und eine legendäre Gestalt unter den Auslandskorrespondenten in Wien. Er hatte alle politischen Umbrüche der vergangenen 30 Jahre in Zentraleuropa hautnah miterlebt. Seine Berichte zierten die Titelseiten von "Times", "New York Times" und des "Daily Telegraph". Den Ruf des besten britischen Korrespondenten hatte sich Gedye 1939 mit seinem Weltbestseller "Fallen Bastions" erworben, einer minutiösen Schilderung, wie die Nazis in Wien und Prag an die Macht gekommen waren.

Fluchthilfe war Gedye alles andere als fremd. Seine Sekretärin und spätere zweite Frau Alice stammte aus einer Wiener jüdischen Familie. Erst durch eine Scheinehe mit dem britischen Militärattaché konnte sie Gedye begleiten, als ihn die Gestapo 1938 aus Wien verwies. Im Februar 1934 war er unterdrückten Sozialdemokraten beigestanden. Während der NS-Herrschaft kooperierte er als britischer Geheimdienstmann eng mit österreichischen Exilanten, um Widerstand zu organisieren.

Im November 1956 fanden täglich Dutzende Ungarn den Weg in sein Büro in der Lindengasse im siebenten Bezirk. Gedye orches-trierte die Recherchen seiner Mitarbeiter, redigierte deren Berichte und leitete sie nach München, in die Sendezentrale von RFE, weiter. Zugleich galt es zu verhindern, dass die österreichischen Behörden sein Büro schlossen. Denn das stand Ende November 1956 unmittelbar bevor.

Obwohl die Österreicher sehr viel leisteten, war das Land so liberal, wie RFE es darstellte, auch wieder nicht. Anfang November, als die Kämpfe zwischen sowjetischen Truppen und Aufständischen noch andauerten, wurden Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Aber der Enthusiasmus der ersten Hilfe verflog, als die Fluchtbewegung unvermindert in die dritte und vierte Woche ging. Auch RFE wurde vom Ausbruch der Revolution überrascht, obwohl seine ganze Energie darauf gerichtet war, die Opposition in den Ostblockstaaten zu fördern. Die Mission des Senders, der in den 1950er Jahren auch von der CIA finanziert wurde, war klar: Freiheit im liberaldemokratischen Sinne als erstrebenswerte und bessere Form des Lebens zu propagieren, die auch in Osteuropa erreicht werden kann.

Das Konzept des Senders war einfach: Die Lebensverhältnisse im Westen wurden jenen hinter dem "Eisernen Vorhang" konsequent gegenübergestellt. Als Österreich 1955 souverän wurde, präsentierte RFE Österreich den Ungarn als Vorbild: eine stabile Demokratie mit steigendem Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit, freien Gewerkschaften. Auf dem Höhepunkt der Revolution, am 31. Oktober, glaubte RFE-Direktor Richard Condon, dass in Ungarn eine Chance für Freiheit und Neutralität nach dem österreichischen Muster bestehe. Daran habe auch RFE mitgewirkt, so Condon, indem der Sender die Revolution unterstützt habe.

Und die Neutralität?

Manches davon spielte sich in Gedyes Büro ab. So tauchte in der Nacht zum 31. Oktober ein Delegierter der Aufständischen vom Budapester Széna Platz auf und ersuchte darum, Proklamationen in ganz Ungarn auszustrahlen. RFE hatte sein Personal in Österreich massiv aufgestockt. Reporter trafen an der Grenze Aufständische, um Berichte zu übernehmen. Techniker rüsteten das Wiener Büro auf, um die lokalen Radios der Bewegung abzuhören. RFE gab ihre Inhalte unkommentiert wieder - und vervielfältigte ihre Reichweite.

Aber widersprach dies nicht der österreichischen Neutralität? Seit 1951 hatte RFE unter dem Schirm der westlichen Besatzungsmächte agiert. Nach dem Staatsvertrag musste sich der Sender mit den Österreichern arrangieren. Gedye war der richtige Mann dafür. Er kannte viele Politiker, Beamte und Journalisten in Wien persönlich. Seine heißesten Drähte führten in die SPÖ, vor allem in die Fraktion der Remigranten. Mit Oscar Pollak, dem Herausgeber der "Arbeiter-Zeitung", war Gedye eng befreundet. Bruno Kreisky lernte er bald nach dessen Rückkehr aus dem schwedischen Exil kennen.

Aber Gedye hatte auch enge Kontakte zur konservativen Seite, insbesondere zu Leuten, die einen antinazistischen "record" hatten. Er kannte Bundeskanzler Figl persönlich und übersetzte 1948 für dessen Pressedienst das "Österreichbuch" ins Englische, eine Selbstdarstellung politischer Unschuld par excellence. Die Verbindung lief über Fritz Meznik, der als Wehrmachtsdeserteur 1945 in Paris die Österreich-Sendungen des US-Militärradios gestaltet hatte und bald Leiter des Bundespressedienstes wurde.

Bereits in der Ersten Republik hatte Gedye von einer Koalition aus Sozial- und Christdemokraten geträumt, um den "Anschluss" abzuwenden. Was vor 1938 ein Wunschtraum geblieben war, sah er nach 1945 als Königsweg zu einer stabilen Demokratie. Nun war es die politische Praxis der kommunistischen Parteien in Zentraleuropa, die er als antidemokratisch ablehnte und nach Kräften bekämpfte. In internationalen Medien zog er alle Register, um Österreich als Bastion der europäischen Demokratie gegen Kritik welcher Art auch immer zu verteidigen. Er war ein Imagebildner, auf den sich die politische Elite Österreichs ungefragt verlassen konnte.

Umgekehrt standen ihm die Türen am Ballhausplatz offen. Rund um die Unterzeichnung des Staatsvertrags lotete er erstmals aus, ob Österreich RFE dulden würde. Vom österreichischen Botschafter in Moskau, Norbert Bischoff, hatte Gedye vernommen, dass die Zeit abgelaufen sei. Kreisky, Staatssekretär im Außenamt, versicherte hingegen, dass es keinerlei Einschränkungen geben werde. Das folgende Arrangement mit Meznik und dem Chef der Staatspolizei, Maximillian Pammer, sah vor, dass RFE weiter ungehindert Flüchtlinge interviewen konnte.

Schwere Vorwürfe

Doch im Oktober 1955 beschuldigte ÖVP-Staatssekretär Graf den Sender, Osteuropäer zur Flucht nach Österreich zu animieren. Auch die KPÖ trommelte gegen RFE. Neuerlich musste Gedye, der in der RFE-Zentrale in München arbeitete, nach Wien ausrücken. In Gesprächen mit Innenminister Helmer (SPÖ) und Bundeskanzler Raab (ÖVP) protestierte er gegen Grafs Aussagen. Zugleich warnte er vor jeder Einschränkung des Asylrechts. Beide Politiker beruhigten Gedye: Weder Asylrecht noch RFE würden angetastet.

Doch als die Staatspolizei im Winter 1955/56 daran ging, RFE-Mitarbeiter stärker zu kontrollieren, fürchteten die Amerikaner ein nahes Verbot. Das wäre für das Image des Senders in Osteuropa fatal gewesen. Nun übernahm Gedye die Leitung der Wiener Dependance. Tatsächlich gelang es ihm, in Gesprächen mit Figl, Meznik, Kreisky und Helmer die "freundliche und hilfreiche" Haltung wieder herzustellen. Davon profitierte RFE in der Schwungphase der ungarischen Revolution. Am 31. Oktober informierte Gedye die Behörden, dass seine Reporter die Grenze nach Ungarn überschritten. In den wenigen Tagen bis zur Niederschlagung des Aufstandes fertigten sie einzigartige Dokumente über die Revolte und ihre Räte in Westungarn an, eine Leistung, die in der üblichen Kritik an RFE selten erwähnt wird.

Die Haltung der österreichischen Behörden änderte sich erst mit der gewaltsamen Wiederherstellung der sowjetischen Ordnung, die zur Massenflucht nach Österreich führte. Mitte November konfrontierte Pammer RFE-Vizedirektor Mitchie mit schweren Vorwürfen. RFE habe die Ungarn zur Revolte aufgestachelt, zur Flucht nach Österreich animiert und eine Flüchtlingsflut ausgelöst. Mitchie erhielt ein Ultimatum: Freiwilliger Abzug oder Landesverweis.

Kurzes RFE-Verbot

Pammer belegte die Kritik nicht konkret. Aber es ist evident, dass er sich auf Behauptungen in Deutschland stützte, RFE hätte den Aufständischen militärische Hilfe des Westens versprochen. Auch die massive Kritik aus der Sowjetunion zeigte Wirkung. Pammer beschuldigte RFE nun "politisch-nachrichtendienstlicher Tätigkeit". Damit wurden RFE-Reporter zu "unerwünschten Ausländern". Für Gedye war diese Nachricht gewiss ein Schock. Tatsächlich standen die Zeichen auf Verbot.

Pammer wiederholte in einem Briefing für Bundeskanzler Raab den zentralen Vorwurf: Anstiftung zur Flucht nach Österreich. Kurz darauf informierte Raab den Ministerrat, dass er beabsichtige, RFE in Österreich abzudrehen. Doch auch Mitchie und Gedye blieben nicht untätig. Gedye vertraute nun aber nicht mehr auf seine Wiener Drähte, sondern empfahl eine Intervention aus Washington. Es dauerte nicht lange, ließ US-Botschafter Thompson Außenminister Figl wissen, dass jede Maßnahme gegen RFE das Ansehen Österreichs in den USA schwer beschädigen würde. Das Verbot war - wie Gedye erwartet hatte - rasch vom Tisch.

Wahrscheinlich gab es wenige Radiosendungen, über die so viel behauptet wurde, wie über jene des RFE nach Ungarn im Herbst 1956. Obwohl in den Archiven unter mehr als 500 in Frage kommenden Sendungen bisher nur ein Kommentar gefunden wurde, in dem tatsächlich von der Möglichkeit einer westlichen Intervention die Rede war, hält sich der Mythos zäh, dass der Sender die Opposition zum Kampf gegen die Sowjets verleitet habe. Mit dem Vorwurf der Fluchthilfe musste sich RFE allerdings nur in Österreich beschäftigen. Bezeichnenderweise verschwand Österreich dann auch für einige Zeit aus dem Programm des Senders.

Peter Pirker, Historiker und Politikwissenschafter, arbeitet am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.