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Wohin rollt Pascals Kugel?

Von Heiner Boberski

Wissen

Beim Wissenschaftstag am Semmering diskutierten Experten zur Rolle von Grenzen in Politik, Geschichte und Philosophie.


Semmering. Auf die "Millionenshow" bezogen würde man populärwissenschaftlich vom Ausschlussverfahren sprechen - drei Antwortmöglichkeiten können ausgeschlossen werden, daher muss die vierte richtig sein. Der Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677) brachte es mit dem Satz "Omnis determinatio est negatio" auf den Punkt: Alle Bestimmung ist Verneinung. Anders gesagt: Die Definition des Richtigen erfolgt durch die Abgrenzung vom Falschen.

Beim Österreichischen Wissenschaftstag auf dem Semmering ging es am Freitag um "Grenzen in den Wissenschaften". Dabei handle es sich um ein "zentrales Thema", stellte Heinrich Schmidinger, Vizepräsident der veranstaltenden Österreichischen Forschungsgemeinschaft und Rektor der Universität Salzburg, in seiner Eröffnungsrede fest.

Der vorsokratische Philosoph Anaximander (610-546 vor Christus) habe für den Ursprung von allem den Begriff "apeiron" geprägt, der "das Unendliche", "das Unbegrenzte", bedeutet. Der Umgang mit Grenzen sei das Wesen des Denkens: "Alles, was es gibt, ist begrenzt." Man könne, so Schmidinger, Grenzen anerkennen, sie aber auch überschreiten und transzendieren.

Universum des Nichtwissens

Das Wort "Grenze" komme vom altpolnischen "gran(i)ca" und sei erst seit dem 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum etabliert, erklärte der Salzburger Linguist Thomas Lindner. Er befasste sich in einem etymologischen Vortrag mit dem Begriff Grenze und deutschen Wörtern mit ähnlichen Bedeutungen wie Zaun, Hag, Mark, Scheide, Rain, Schluss, Friede, Ort, Bord, aber auch mit entsprechenden Ausdrücken aus dem Lateinischen (limes, terminus, finis) oder Griechischen (terma, peirar, telos). Oft haben solche Begriffe auch die Bedeutung Ende, Ziel oder Zweck. "Grenzen sind entweder faktischer oder normativer Art, entweder eine Sache der Natur oder eine Sache der Konvention", meinte der Grazer Soziologe Karl Acham.

Während naturwissenschaftliche Gesetze, vor allem aber die Naturkonstanten, bestimmen, was nicht sein kann, wird in den normativen Bereichen von Moral, Politik und Recht vorgegeben, was nicht sein darf. Wie die normativen Grenzziehungen aussehen, zum Beispiel wann schützenswertes menschliches Leben beginnt, ist freilich von Land zu Land, von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Aber auch die Erforschung der Natur bringt steten Wandel mit sich. Die Ansicht, zwischen Organischem und Anorganischem eine klare Grenze ziehen zu können oder Lebewesen klar in nur zwei Bereiche - Tiere und Pflanzen - einteilen zu können, hat sich gewandelt. Eine gute Metapher hat schon der französische Mathematiker Blaise Pascal (1623-1662) gefunden: Er verglich das Wissen mit einer Kugel, die im Universum des Nichtwissens schwimmt. Diese wird zwar ständig größer, zugleich nimmt aber auch die Zahl ihrer Berührungspunkte mit dem Nichtwissen zu.

Der Mensch zieht Grenzen - etwa zwischen geografischen Gebieten oder wissenschaftlichen Disziplinen -, setzt sich Grenzen - ob durch Gesetze oder beim Zeitaufwand - oder stößt an Grenzen, physische und psychische, sprachliche und logische, in der Erkenntnis und im Handeln. "Grenzen sind materiell, mental, symbolisch, grafisch und Resultate diskursiver Praktiken", sagte die Erfurter Historikerin Susanne Rau. Die politisch-territoriale Grenze sei dagegen ein relativ junges Phänomen, zumal der europäische Diskurs bis 2015 vom Verschwinden von Grenzen geprägt war. Durch die Flüchtlingsbewegung ist eine andere Situation eingetreten, sie kommt am schärfsten im Ruf der "Pegida"-Bewegung zum Ausdruck: "Festung Europa - macht die Grenzen dicht!"

Auf Abgrenzung setze auch US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump, der eine Mauer zu Mexiko errichten und die Mexikaner dafür bezahlen lassen will. Wie Rau an geschichtlichen Beispielen ausführte, sind Grenzen latent instabil. Politisch-territoriale sowie Sprach-, Kultur- und Religionsgrenzen sind selten einheitlich, sie überlagern einander.

Grenzen der Wissenschaft

Grenzen, die längst gefallen sind, können in den Köpfen lange weiterleben. In Italien gibt es eine Art Kulturgrenze im Raum Bologna, die auf die Trennung in langobardisches und byzantinisches Gebiet im 7. und 8. Jahrhundert zurückgeht und sich im unterschiedlichen Konsum von Wein (eher Weißwein oder eher Rotwein) und Fleisch (eher Schweine- oder eher Hammelfleisch) zeigt. Rau formulierte als Fazit zwei Paradoxien: "1. Eine Grenze funktioniert oft nur, solange sie nicht infrage gestellt wird. 2. Ohne Grenzen gibt es kein Miteinander - keine sozialen Gruppen."

Das Verschieben von Grenzen durch die naturwissenschaftliche Forschung machte die Innsbrucker Physikerin Sabine Schindler an den Begriffen "Gravitationswellen, dunkle Energie und schwarze Löcher" deutlich. Der 2015 erfolgte Nachweis von Gravitationswellen, auf deren Existenz Albert Einstein (1879-1955) bereits 1916 hingewiesen hatte, sei ein solcher Durchbruch gewesen. Damit werde der Astronomie ein neues Fenster eröffnet. Auch die Debatte über eine "Theory of Everything", also die Zusammenfassung aller beobachtbaren Phänomene, wurde dadurch neu angeregt.

Die weitere Forschung stoße aber auch an technologische Grenzen, die immer schwieriger auszuweiten seien - wie die Größe von Teilchenbeschleunigern, die Komplexität von Satelliten, die Spiegeldurchmesser von Teleskopen, die Leistung von Supercomputern oder die Empfindlichkeit von Detektoren.