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Aleppo als Zufluchtsort

Von Fabian Köhler

Wissen

1944 überquerten schon einmal Zehntausende den Balkan und die Ägäis. Nur waren es damals Europäer, die im Nahen Osten Zuflucht vor dem Zweiten Weltkrieg suchten.


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Ein Blick in die Werkstatt des Flüchtlingslagers El-Shatt in Ägypten.
© UNRRA/ archives.un.org

Das Urteil des Mitarbeiters einer Flüchtlingsorganisation ist vernichtend: "Sie haben nur wenig Sinn für persönliche Hygiene und neigen dazu, sich über ihr Essen zu beschweren", schreibt er über jene Migranten, die zu Tausenden in Booten übers Mittelmeer kommen. Statt zu arbeiten, würden die Flüchtlinge faul in der Sonne liegen und Essen aus der Kantine in ihren Zelten horten. Um Ordnung zu bewahren, sehe man sich gezwungen, "Taschengeld zurückzuhalten und Besucherrechte zu entziehen".<p>Diese Zustände bestätigen jedes Klischee heutiger Flüchtlingsgegner und haben dennoch nichts mit der Krise dieser Tage zu tun. Ein Mitarbeiter der Flüchtlingsorganisation "United Nations Relief and Rehabilitation Administration" (UNRRA) hat die Beschwerde am 10. Mai 1944 im ägyptischen Moses Wells aufgeschrieben. Die Menschen, an denen er kein gutes Haar lässt, sind Europäer, die vor der Wehrmacht in den Nahen Osten geflüchtet sind.<p>Mehrere Mitarbeiter von UNRRA und der britischen Hilfsorganisation "Middle East Relief and Refugee Administration" (MERRA) haben 1944 ihre Eindrücke festgehalten. Heute geben ihre Telegramme Einblick in ein Kapitel europäisch-nahöstlicher Fluchtgeschichte, das trotz unterschiedlicher Vorzeichen Parallelen zur heutigen Zeit zeigt.<p>Das europäische Zentrum der Flüchtlingskrise ist auch damals der Balkan. Als im Frühjahr 1944 Griechenland unter die Kontrolle der deutschen Wehrmacht sowie verbündeter italienischer und bulgarischer Truppen gerät, bietet die geografische Nähe zwischen den griechischen Ägäis-Inseln und dem türkischen Festland zehntausenden Menschen die letzte Chance zur Flucht.<p>

Fahrt in Fischerbooten

<p>Es sind überfüllte Fischerboote, die zwischen griechischen Inseln und türkischem Festland pendeln. In einem dieser Boote sitzt Bouena Sarfatty. Die 1916 geborene Jüdin lebt im griechischen Thessaloniki, als die Wehrmacht am 9. April 1941 einmarschiert. Die Mitarbeiterin des Roten Kreuzes wird wegen angeblicher Verbindungen zu griechischen Partisanen inhaftiert, kann fliehen und schließt sich tatsächlich dem Widerstand an. Ihr neuer Job: jüdische Kinder in den Nahen Osten bringen, um sie so vor den Nazis zu retten.<p>Dutzende, vielleicht hunderte Menschen rettet sie. Nach der Fahrt über die Ägäis geht es vom türkischen Çeşme per Anhalter weiter in die Großstadt Izmir. Von dort aus reisen Sarfatty und Tausende andere in eine Stadt, die für viele europäische Flüchtlinge zum ersten Mal nach langer Flucht Ruhe und Sicherheit verspricht: Aleppo.<p>Britische Truppen haben in Syrien, Palästina und Ägypten neun Flüchtlingslager aus dem sandigen Boden gestampft. Ein alter Transitbahnhof für Mekka-Pilger am Roten Meer wird zu Camp Moses Wells und bietet 2000 Europäern Schutz. Im heutigen Gazastreifen ist es ein Militärstützpunkt australischer und polnischer Truppen, der als Flüchtlingslager Nuseirat bis zu 10.000 Menschen Zuflucht bietet. Und östlich des Suezkanals kann das Camp El-Shatt bis zu 20.000 Menschen aufnehmen.<p>Das 1000-Mann-Camp von Aleppo, das vom britischen Armeegeheimdienst betrieben wird, dient als eine Art Erstaufnahmeeinrichtung jener Tage. Die Unterbringung ist erstaunlich komfortabel: Von "Steinhütten mit Metalldach", teils sogar mit eigenem Ofen, ist in einem Bericht der UNRRA die Rede. "Einrichtungen für Postsendungen, Telefonie und Telegrafie stehen zur Benutzung durch die Flüchtlinge zur Verfügung", stellt ein UNRRA-Mitarbeiter fest.<p>Lediglich die "üblichen Zensur- und Sicherheitsbestimmungen" würden die Nutzung einschränken. Und dann ist da noch die nahe gelegene Stadt Aleppo mit ihren Geschäften und dem Kino. Zwar sind Ausflüge eigentlich nur von 10 bis 13 Uhr vorgesehen, doch werden diese unter Berücksichtigung des Kinoprogramms manchmal verlängert.<p>In der Zeit des jüdischen Chanukka-Festes 1943 trifft Bouena Sarfatty in Aleppo ein. Auch ihre Aufzeichnungen bestätigen den Eindruck, dass es sich als Flüchtling in Aleppo ganz gut leben lässt. In einigen Versen hat Sarfatty, die später vor allem für ihre Gedichte bekannt wurde, die Folgen des Festes festgehalten:<p>"In Aleppo haben wir eine gute Zeit<p>selbst im Badezimmer sind
Kameraden<p>Lasst uns trinken auf die
Gesundheit<p>all der Flüchtlinge, die Durchfall haben."<p>Dreimal täglich erhalten die Mi-granten in der Kantine des Lagers kostenlose Mahlzeiten. Im Lager-Shop gibt es Tee, Kaffee, Obst, Zigaretten und sogar Bier. Auch ein kleines Taschengeld erhalten die Europäer: 15 ägyptische Piaster bekommt ein allein reisender Flüchtling pro Woche von der Lagerverwaltung. Nach heutiger Kaufkraft entspricht das etwa sieben Euro. Arbeiten muss niemand: "Es gibt keine Politik, körperlich fitte Flüchtlinge zur Arbeit zu zwingen", berichtet ein Beamter im Mai 1944 an seine Vorgesetzten.<p>

Weiter in die Lager

<p>Der größte Nachteil des Aufenthalts in Aleppo: Er ist schnell wieder vorbei. Von den rund 1000 Menschen, die monatlich am Bahnhof der Stadt ankommen, verbringen die meisten hier nur ein paar Tage. In Zügen geht es dann weiter in die überfüllten Lager in Palästina und Ägypten.<p>Von "hunderten Flüchtlingen", die mit jedem Zug ankommen, schreibt ein UNRRA-Beamter aus Gaza. Zwar sei es "Flüchtlingen nicht gestattet, das Lager ohne Erlaubnis zu verlassen", notiert er, aber in der Praxis gehe jeder, wohin er will. Es fehlt an einem Zaun und ausreichend Wachleuten. Und noch eine Folge hat der Mangel an Aufsichtspersonal: In demokratischer Wahl wählen die Flüchtlinge ein Komitee, das Teile der Lagerverwaltung übernimmt.<p>Andernorts sind die Regeln strikter: "‚Keine Arbeit, kein Geld‘ ist eine Lagerregel", hält ein UNRRA-Mitarbeiter in einem Telegramm aus Moses Wells am Roten Meer fest. Das wöchentliche Höchsteinkommen liegt je nach Qualifikation bei bis zu 35 Euro. Aber die große Mehrheit der Flüchtlinge, bei denen es sich meist um Bauern und Fischer handelt, muss mit weit weniger auskommen. Einen Sonderstatus besitzen hingegen Krankenschwestern: Sie werden besser bezahlt und direkt bei der Lagerverwaltung angestellt.<p>Der Grund für die Sonderbehandlung ist offensichtlich. Von überfüllten Krankenhäusern und dehydrierten Babys berichtet die Krankenschwester Margaret G. Arnstein im März 1944 aus dem größten Flüchtlingslager El-Shatt. Die Flüchtlinge litten unter "Windpocken, Mumps, Scharlach, Keuchhusten und Diphtherie", hält sie in ihrem Bericht fest. Darunter notiert sie, welche Medikamente und medizinisches Gerät nicht zur Verfügung stehen:<p>Salbe mit Salizylsäure: keine<p>Wurmmittel: keins<p>Galmei-Lotion: keine<p>Quecksilberchlorid: keins<p>Schwefel: keiner - kommt<p>Benzylbenzoat: keins<p>Mundspatel: keine<p>Applikatoren: keine<p>Die 1904 in New York geborene Arnstein arbeitet im New Yorker Gesundheitsministerium, als der Krieg beginnt und sie zur Chefkrankenschwester der UNRRA für den Balkan und den Nahen Osten berufen wird. Dort wird sie zu einer der wichtigsten Chronistinnen der europäisch-nahöstlichen Flüchtlingskrise. Im "American Journal of Nursing" schreibt sie im Mai 1945, welchen Schwierigkeiten Flüchtlinge, Ärzte und Krankenschwestern in den überbelegten und unterversorgten Lagern gegenüberstehen: "Das Pro-blem der unzureichenden Anzahl an Krankenschwestern stellte alle anderen in den Schatten."<p>Arnstein macht aus der Not eine Tugend. In Moses Wells, Nuseirat und El-Shatt lässt sie Flüchtlinge zu Krankenschwestern ausbilden. Ihre Workshops werden zur Erfolgsgeschichte. Im März 1944 meldet eine Ausbildnerin volle Kurse und lange Wartelisten: "Sie zeigen große Begeisterung und leisten großartige Arbeit", schreibt sie über die Flüchtlinge. Einen Monat später wendet sie sich erneut an Arnstein. Die Ausbildung laufe so gut, dass die Uniformen knapp würden.<p>

Spenden und Helfer

<p>Arnstein ist nicht die Einzige, die hilft. Berichte der UNRRA zeugen von der Willkommenskultur jener Tage: Aus Kanada, den USA und Großbritannien treffen Kleiderspenden ein. Freiwillige, u.a. aus England, den USA, Dänemark und Griechenland, kümmern such um die europäischen Flüchtlinge. In Aleppo können Kinder schon bald halbtags zur Schule gehen; im Zeltlager von Nuseirat eröffnet 1944 eine Bibliothek, in der Englisch-Kurse angeboten werden. In Moses Wells und El-Shatt werden Europas Vertriebene zu Zimmerleuten ausgebildet. Und in Kairo spenden Schulen Unterrichtsmaterialien für die neuen europäischen Nachbarn, die teils bis zu drei Jahre in den Lagern des Nahen Ostens auf ihre Rückkehr warten müssen.<p>Als im Frühjahr 1945 griechische Partisanen die letzten Nazis von den Ägäis-Inseln vertrieben haben, fahren wieder Flüchtlingsboote über das Mittelmeer. Diesmal in Richtung Europa. Auf überfüllten Transportschiffen bringt die UNRRA zehntausende Europäer zurück in ihre zerstörte Heimat. Auch Bouena Sarfatty und Margaret Arnstein verlassen 1945 den Nahen Osten. Für die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen arbeiten sie weiter in den Flüchtlingslagern Griechenlands.<p>Was aus dem UNRRA-Beamten wurde, der sich so kritisch über die europäischen Zuwanderer äußerte, ist nicht überliefert. Sicher ist allerdings, auch damals gab es andere Stimmen: Ein weiterer UNRRA-Mitarbeiter notiert 1944 über die europäischen Flüchtlinge: Es seien "nur wenige Probleme" aufgetreten: "Der Dienst habende Offizier wird spürbar von allen gemocht. Das Lager ist ordentlich und sauber." Auch 1944 war die Flüchtlingsfrage vor allem eine der eigenen Perspektive.

Fabian Köhler hat in Jena und Damaskus Politik- und Islamwissenschaft studiert. Als freier Journalist schreibt über die arabische Welt für deutschsprachige Zeitungen und Magazine.